Ich versuchte, mein ungutes Gefühl zu verdrängen, mich darüber zu freuen, dass ich herausgefunden hatte, was die Ursache des Disasters war, weil mir Sandro ja so etwas wie eine Hoffnung versprochen hatte - wenn auch nur sehr vage, aber immerhin.
Nach dem Frühstück fing ich mir noch ein paar Sonnenstrahlen ein und hatte für einen Moment wieder dieses himmlische Gefühl, mich in einem Paradies zu befinden. Ruhe kehrte ein.
Sandro kam zu mir und nahm mich in den Arm, wie er es schon hunderte von Malen getan hatte und ich fühlte mich beschützt und geborgen, obwohl ich die Welt nun schon anders gesehen hatte. Aber hier war immer noch alles gut - oder fast.
Wir machten uns auf den Weg zum Bach. Wasser - egal ob der See oder der Bach, ganz einerlei - war schon immer gut für ein Gespräch gewesen und Sandro war dieses augenscheinlich sehr wichtig. Er konnte sich nicht so recht überreden zu beginnen, aber irgendwann tat er es doch, obwohl er einen verkrampften Eindruck auf mich machte.
Seine ersten Worte waren noch ganz harmlos gewesen, als er mir sagte, dass Gio und er sich schon gedacht hätten, dass ich es herausfinden würde.
Aber als er dann von diesen "Wesen" anfing, kam es mir vor, als wenn er mir ein Märchen auftischen wollte. Zu Beginn lachte ich noch.
Aber die Eröffnung, dass er eines dieser Wesen war - ich wollte es nicht glauben!
So gut sich seine Beschreibungen zunächst angehört hatten - ich verlor den Boden unter den Füßen. Meine Gedanken purzelten in meinem Kopf durcheinander, dass mir schwindelig wurde. Mein erster Impuls, mich in seine Arme zu flüchten, wie ich es immer getan hatte - undenkbar bei dieser Eröffnung.
Hatte er mich die ganze Zeit belogen? Warum? Die dringlichste Frage für mich kristallisierte sich heraus.
WAS hatte er mit mir vor?
Ich fragte ihn einfach.
Er zeigte mir auf, welche Möglichkeiten ich hatte. Ich müsste mich nach der ersten goldenen Schleife entscheiden. Und zwar ob ich eine Savanto werden wollte oder wieder als Mensch zwischen Menschen leben.
Irgendwelche Bedingungen, was ich bei dem einen, und die Aussicht zwischen Mördern zu leben auf der anderen Seite.
Und wenn ich das beides nicht wollte?
Was in aller Welt sollte ich dann tun?
Wo konnte ich hin?
Ich konnte mir nicht vorstellen, was dass jetzt bedeuten sollte. Ich war völlig verwirrt und wurde wütend. Es war so ungerecht! Ich hatte niemandem etwas getan - warum nahmen sie mir alles weg, was ich lieben gelernt hatte?
Ich überlegte. Was waren das für Bedingungen, die erfüllt werden mussten, damit ich eine Savanto werden konnte? Im Grunde hörte es sich nach der einfachsten Lösung an. Ich konnte für immer hier bleiben, oder? Es würde sich nichts ändern.
»Was sind das für Bedingungen, die dafür notwendig sind?«, fragte ich misstrauisch. Irgenwie kam mir alles, was er mir heute erzählte, wie eine Mogelpackung vor.
Er seufzte leise, was meinen Verdacht untermauerte.
»Es sind sehr ernste Folgen, die eine Wandlung nach sich ziehen kann. Du könntest sterben, Angelina. Es ist möglich, dass dein Körper die Wandlung nicht verkraftet.«
Ich sah ihn mit großen Augen an, mir wurde trotz der Sonne plötzlich kalt.
»Was macht ihr denn bei dieser Wandlung eines Menschen? Bekommt man eine Spritze, Medikamente oder wird man an merkwürdige Gerätschaften angeschlossen? Wie kann ich mir das vorstellen?« Meine Stimme klang so heiser, als würde sie sich gegen ihren Gebrauch wehren.
»Nein, Angelina, nichts von alledem. Du müsstest mit einem Savanto deiner Wahl schlafen - und noch Jungfrau sein, damit es überhaupt funktionieren kann. Danach setzt die Wandlung ein, die unterschiedlich lange dauern kann. Wenn du wieder erwachst, ist alles gut und die Wandlung ist geglückt. Wenn nicht, war es ein Fehlversuch. Dieses Risiko muss man kennen und bewusst eingehen. Kennen tust du es nun.«
Ich sah ihn entsetzt an, aber das konnte er nicht sehen, weil er den Kopf hängen ließ und mit seiner Fassung rang.
Ich sprang konfus auf und schrie ihn an.
»Das ist nicht dein Ernst jetzt, oder? Du willst, dass ich mit dir schlafe? Dafür hast du mich hergeholt und aufgepäppelt, damit ich deine Gespielin werde? Ich glaube es nicht! Nein! Neiiin!« In meiner Wut rannte ich auf den nächstbesten Baum los und schlug auf seinen Stamm ein, bis meine Hand blutete und ich heulte. Nicht weil es weh tat, denn das spürte ich gar nicht. Sondern vor Wut. Ich hörte nicht, wie Sandro hinter mich trat und meine Hand griff. Ich wollte sie ihm sofort entziehen, aber er hielt sie eisern fest.
»Nicht, Angelina. Tu das bitte nicht. Ich verstehe deine Wut, aber es ändert nichts an den Tatsachen und du tust du dir nur weh.«
Seine Stimme so sanft wie immer. Er drehte meine Hand und sah sich meine Verletzung an.
»Es hat einige Vorteile, ein Savanto zu sein. Zum Beispiel kann man kleinere Verletzungen schneller heilen lassen.« Er strich mit der anderen Hand über die blutenden Kratzer und wie von Zauberhand, hörte die Blutung auf. Die Kratzer hatten sich geschlossen. Dann ließ er meine Hand los.
»Außerdem werden wir viele hundert Jahre alt und bleiben ab dem ersten Beischlaf in dem erreichten Alter stehen. Dazu muss man erwachsen sein. Der früheste Zeitpunkt ist der, wenn man die erste gelbe Schleife bekommt. Danach kann man selbst entscheiden, in welchem Alter man bleiben will. Du weißt, dass wir recht offen mit der Sexualität umgehen. Aber Kinder und auch Jugendliche sind tabu.«
Ich schaute immer noch verblüfft auf meine Hand, hörte nur mit halbem Ohr hin, was er mir erzählte. Ich verstand nur eins. Er wollte, dass ich mit ihm irgendwann schlief und dann bei ihm blieb. Das wäre gestern möglicherweise durchaus noch ein Wunschtraum von mir gewesen, aber heute? Nach diesen tollen Neuigkeiten?
Tod oder Mensch bleiben?
Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte, ich geriet nur noch in Panik.
»Wie kannst du nur glauben, dass ich dir so einfach meine Unschuld und mein Leben schenke? Das ist unmenschlich, was du da von mir verlangst! Ach, ich vergaß - du bist ja auch kein Mensch. Das merkt man!«
Es war mir so egal, dass er zusammenzuckte bei meinen Vorwürfen. Ich musste das loswerden, sonst würde ich platzen. Ich ignorierte auch seinen verletzten Blick.
Dann bekam ich allerdings richtig Angst, denn sein Ausdruck veränderte sich schlagartig, wurde eiskalt. Als er mit mir sprach, klang seine Stimme hart und schneidend und ließ mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Ich wich zurück, bis ich den Baumstamm im Rücken spürte und begann zu zittern, als ich den Sinn seiner Worte erfasste.
»Du hast vollkommen Recht, Angelina. Darum ist es auch völlig logisch, dass sich unsere Wege ab sofort trennen. Wenn wir bei mir zu Hause sind, packst du deine Sachen, die du mitnehmen willst. Du wohnst ab sofort bei Gio und seiner Familie. Dort kannst du die Zeit abwarten, die du noch brauchst, um deine Entscheidung zu fällen. Alles andere regeln wir dann, wenn du weißt, was du willst. Wenn du mir keine gelbe Schleife übergibst, hast du von meiner Seite aus nichts zu befürchten.«
Er drehte sich um und ging.
Fassungslos sah ich ihm nach. Ich hatte ihn noch nie so kalt gesehen, so abweisend zu mir. Wie konnte er so grausam sein?
Ängstlich sah ich mich um, aber ich war allein.
Ohne Sandro, weil er mich nicht mehr haben wollte.
Meine Welt brach völlig zusammen.