Angelina liebte es, mit mir an dem kleinen Bach entlang zu gehen. Ich achtete gut darauf, dass sie nicht zu dicht ans Ufer ging, außer wenn das Wasser flach war. Ich hatte immer ein Auge auf sie, auch wenn ich versuchte, ihr ihren Freiraum zu lassen. Ich war überglücklich, dass sie sich an der Schönheit der Natur erfreuen konnte. Sie war so neugierig und hörte aufmerksam zu, fragte ständig nach Tieren und wie sie lebten und sich ernährten. Ich war davon überzeugt, dass sie schon viele Dinge wissen würde, bevor sie überhaupt Bücher lesen konnte. Ein Prachtmädchen!
Ihre Vergangenheit hatte sie natürlich nicht vergessen, lediglich das Vermissen und die Traurigkeit über Verluste, waren abgeschaltet. Fragen stellte sie dennoch, vor allem nach ihrer Mutter. Das war zu erwarten gewesen. Behutsam fragte ich sie darüber aus, was ihr im Waisenhaus erzählt worden war. Nach und nach gab sie sich dann mit der Himmelversion zufrieden, zumal sie sich bei mir jeden Tag wohler fühlte.
Die Suche nach dem verschwundenen Kind blieb einige Wochen Thema Nummer eins, aber vor allen Dingen in der dänischen Presse. International gab es nur wenig Informationen - sie gingen davon aus, dass sie weggelaufen und verunglückt war. Irgendwann verliefen die Untersuchungen im Sande, es ging schließlich nur um ein Waisenkind in der Welt der Menschen. Eines von vielen. Sie spekulierten, dass sie vielleicht im Wasser zu Tode gekommen wäre und weggespült auf Nimmerwiedersehen. Sie waren einige Zeit besorgt, dann hoffnungslos und dann gingen sie zur Tagesordnung über.
Ich hatte mir seltsamerweise darüber auch keine großen Sorgen gemacht. Die Bestimmung würde dafür sorgen, dass sie bei mir sein konnte, wie auch immer sie das deichselte.
Auch wenn ich in den nächsten Jahren sehr intensiv mit Angelina beschäftigt sein würde, so gingen mir die Sorgen der Savantoj nicht aus dem Kopf. Während ich dem kleinen Menschenkind beim Spielen am Bach zusah, hing ich den Gedanken nach, welche Schreckensbotschaften noch so durch die Presse gingen.
Kriegsgebiete überall auf der Welt, Flüchtlinge, Umweltsünden - durchweg unerträgliche Meldungen, die uns, auch mich, quälten.
Ich hatte schon beschlossen, dass ich diese Dinge so lange wie möglich von Angelina fernhalten wollte. Sie sollte mit mir aus den Schulbüchern alle Informationen lernen, die sie brauchte, um sich ein eigenes Bild zu machen. Natürlich musste sie irgendwann alles erfahren, nur nicht sofort. Sie sollte erst älter werden, bevor ich ihr zeigen müsste, was die Menschen so alles kaputt gemacht hatten und noch machten.
Nur - sie gehörte eigentlich zu ihnen, sie konnte sich am Ende auch noch für die Seite der Menschen entscheiden. Allerdings konnte ich mir das nicht vorstellen, wenn sie das ganze Ausmaß erst erfassen würde. Sicher konnte ich mir allerdings nicht sein, das wusste ich genau. Wie sie auf ihren möglichen Tod reagieren würde - das stand in den Sternen.
Aber das war Zukunftsmusik.
Die Savantoj kämpften um den Erhalt der Welt. Selbst wenn sie es schaffen würden, die Menschen zu überleben und die Katastrophen abzuwenden, konnten sie nicht sicher sein, dass sie überhaupt noch zu retten war. Das Risiko war uns allen bewusst und dennoch wollte jeder von uns diesen Kampf auf Leben und Tod annehmen. Allein für die Chance. Auch wenn wir täglich einen hohen Preis zahlen mussten.
Ich hatte lediglich dafür gesorgt, dass Angelina sich irgendwann entscheiden könnte, ob sie mit mir und uns allen für den Erhalt dieses Planeten mitkämpfen wollte. Mit allen Konsequenzen, das war die Bedingung für ein sehr langes Leben mit magischen Fähigkeiten, die ihnen einiges, aber nicht alles erleichtern konnten. Diejenigen, die ihr(en) Auraeĥo fanden, waren priviligiert, dabei auch ihr persönliches Glück zu finden. Nur - eine Garantie gab es auch hier nicht.
Die schrecklichen Bilder wechselten sich unerbittlich in meinem Kopf ab, ich konnte es nicht verhindern. Manchmal überkam mich eine entsetzliche Ohnmacht angesichts der scheinbar aussichtslosen Situation, aber dann strich ich über meine Augen und mein Blick fiel auf Angelina, die mit einem Stöckchen kleine Steine aus dem Bach angeln wollte und dabei ein so konzentriertes Gesicht machte, dass ich lächeln musste.
Das war der Grund, warum ich kämpfen wollte!
Ich orientierte mich kurz an den Wolken am Himmel, dann rief ich Angelina zu mir.
Etwas unwillig folgte sie und als sie vor mir stand, schaute sie mich erwartungsvoll an. Ich zog sie kurz an mich und strich ihr übers Haar.
»Wir sollten uns auf den Heimweg machen. Ich glaube, da kommt bald Besuch zu uns nach Hause. Wollen wir nachsehen?«
Ein Strahlen huschte über ihr Gesichtchen.
»Kommt Gio? Bringt er seine Kinder mit?«
Schon griff sie nach meiner Hand und zog mich hoch. Jetzt hatte sie es sehr eilig und ich verriet nichts, aber natürlich würde ihre Vorfreude heute nicht enttäuscht werden.
Sophia und Gio lebten seit ungefähr zehn Menschenjahren hier in einem kleinen Dorf in der Nähe, in den letzten Jahren mit ihren drei kleineren Kindern. Nach einer gewissen Anzahl an Jahren wenn eine Generation gemeinsamer Kinder erwachsen wurden, siedelten die Savantoj-Familien stets um, damit ihre Tarnung nicht aufflog, weil die Eltern ja altersmäßig keine großartige Veränderungen mehr vorweisen konnten aufgrund der Altersfestsetzung.
Das Jüngste, ein Junge namens Gianluca, war letzte Woche ein Jahr geworden und begann gerade zu laufen. Ein fröhliches Kind. Noch wusste er nicht, dass er eine besondere Mission bekommen würde. Genauso wie das älteste Mädchen von den jetzigen Kindern, die Maria hieß. Sie war fünf Jahre alt und ein ausgesprochen hübsches Mädchen mit dunkelbraunen Augen und Locken.
Das mittlere Kind war Marcella. Sie war ungefähr ein halbes Jahr älter als Angelina. Die beiden verstanden sich auf Anhieb prächtig.
Die ganze Familie hatte es sich auf der Terrasse gemütlich gemacht, als wir um die Ecke kamen und Angelina rannte sofort los, natürlich zuerst zu Gio, dessen Beine sie umschlang, bis er sie lachend hochnahm und sie begrüßte.
Ich freute mich, dass sie alle hier waren, so hatte Angelina auch Kinder um sich zum spielen.
Wir waren glücklich, dass die Kinder sich so gut verstanden. Irgendwann würde das noch wichtig sein für Angelina, aber noch sollten sie alle einfach Kinder sein. In diesem Alter gab es kaum Unterschiede zwischen Savantoj und Menschen, insofern brauchten wir uns noch gar keine Sorgen machen.
Ich musste insgeheim grinsen, als wir Angelina sagen hörten, dass sie Marcella etwas zeigen wollte in "ihrem" Garten.
Sie war wirklich angekommen.
Gio kam mit seiner Familie immer regelmäßiger, jedoch nie öfter als einmal die Woche. Angelina sollte sich auch auf ihren Lehrstoff konzentrieren und dann nicht abgelenkt sein, aber am Wochenende durfte sie sich ihre Beschäftigungen fast vollständig aussuchen.
Unsere Alltagsroutine spielte sich rasch ein.
Auch die Kleine hatte von Anfang an ihre Aufgaben, die sie mit Feuereifer und Begeisterung erfüllte. Ich hatte nicht vor, sie als Prinzessin aufwachsen zu lassen und Ausreden ließ ich nicht gelten. Die schlichen sich natürlich auch irgendwann ein, als ihr die lästigen Alltagspflichten zuviel wurden. In der ersten Zeit war sie jedoch sehr glücklich über ihre Aufgaben und erfüllte sie stets nach bestem Können, wofür sie von mir auch immer gelobt wurde.
Ich hatte immer noch Gios Tipp im Ohr, dass ich Routinen erschaffen sollte und mit der Zeit hatte ich die für uns gefunden und so angelegt, dass man übergangslos auch das Lernen des Schulwissens einfügen konnte. Schließlich war das der nächste große Punkt auf meiner Liste - ich musste versuchen, ihr alles, was sie später brauchte, auch ohne einen Schulbesuch beibringen. Mein großer Vorteil war dabei, dass Gios Kinder ganz normal zur Schule gehen konnten, sodass ich Zugriff auf die Themen in der Schule hatte. Aber ich musste es ihr beibringen. Na gut. Es gab Bücher.
Internet, Zeitungen, Fernsehen - all das hielt ich fern von ihr. Ein Wagniss, aber es sollte nicht für immer sein. Nur bis sie so alt war, dass sie das nicht nur verstehen, sondern auch verarbeiten konnte.
Ich war immer wieder erstaunt in den nächsten Jahren, wie wissbegierig Angelina sein konnte und das verschaffte mir die Möglichkeiten, sie an möglichst viele Themen heranzuführen, die später wichtig sein konnten.
Am einfachsten war das allerdings immer, wenn wir die Themen in unseren Alltag einbauen konnten und dabei waren Gio und seine Familie eine große Hilfe für mich.