Ich hatte es ja lange verdrängt, aber man konnte es bald nicht länger übersehen. Angelina veränderte sich. Sie war nicht nur größer geworden, sondern ihre Mimik und ihr Körper veränderten sich. Mit ihren nunmehr dreizehn Jahren war sie eindeutig kein Kind mehr. Lange konnte es nicht mehr dauern, dann würde sie selbst es auch bemerken, vielleicht, nein sicher, Fragen stellen. Wenn ich mich auf der einen Seite auch freute, dass sie älter wurde, so kam doch auch unweigerlich eine ganz neue Herausforderung auf mich zu. Ich hatte sie sehr offen erzogen abseits jeglicher Scheu vor Nacktheit und sexueller Aufklärung. Das meiste kam aus den Büchern, aber bei Rückfragen hatte ich ihr immer alles offen und kindgerecht erklärt.
Sie war noch weit davon entfernt eine Frau zu sein, aber die ersten Anzeichen dafür waren - wie schon lange bei Marie und jetzt auch bei Marcella und Angelina - eindeutig zu sehen. Ich konnte nicht mehr daran vorbei schauen. Sophia und Gio hatten sich bereits auf einen Studpartnero für ihre Tochter Marcella geeinigt. Dann würden ihre beiden Mädchen in diese Phase eintreten, ganz normaler Ablauf bei den Savantoj.
Langsam musste ich darüber nachdenken, wie ich mich auf das wichtigste Gespräch mit Angelina vorbereiten wollte.
Wenn ich anfing darüber nachzudenken, wurde mir regelmäßig übel und mein Herz raste.
Jetzt wäre die Zeit, auch einen Studpartnero für sie zu suchen und sie anzuleiten, erstmal ihren Körper allein kennenzulernen und dann im Zusammenspiel mit einem Studpartnero. Nur - Angelina würde keinen Studpartnero bekommen. Und ich konnte und wollte mich nicht zur Verfügung stellen. Sie war meine Auraeĥo, obwohl sie das nicht oder irgendwie anders und nur vielleicht spürte - ich wusste gar nichts, weil ich sie ja bisher nicht fragen konnte.
Wie sollte ich ihr das alles erklären?
Ich bekam eine Heidenangst.
In meiner Panik schickte ich Gio wieder eine Nachricht, damit wir uns treffen konnten. Ich musste mich unbedingt mit ihm beraten.
Er antwortete mir umgehend und versprach, bald vorbei zu kommen.
Langsam beruhigte ich mich ein wenig.
Als Gio auftauchte, sah ich schon, was er mir sagen wollte. Ich seufzte.
Er hatte einen Laptop dabei.
Er lächelte mir aufmunternd zu.
»Es ist dann wohl langsam so weit? Wir bekommen das hin, mach dir nicht so viele Gedanken. Ich habe diesen Laptop mitgebracht. Er ist so eingestellt, dass sie bestimmte Bereiche nicht erreichen kann, aber alle internationalen Nachrichtensender empfangen kann. Auch alles Wissenswerte, was sie gebrauchen könnte. Und ich habe es vorläufig so eingerichtet, dass sie nicht länger als zwei Stunden dran sein kann. Dann muss sie eine Pause von acht Stunden einlegen. Das reicht hoffentlich, um sich über alles Gedanken zu machen und auch genügend Schlaf zu finden. Das wird jetzt eine schwierige Zeit werden, weil sie bestimmt Ängste entwickelt, die wir ihr erst nehmen können - und das auch nur vielleicht - wenn du sie über uns aufgeklärt hast. Das wird dann der nächste Brocken, den sie verdauen muss. Wenn das geschafft ist, können wir eine Lösung suchen für den fehlenden Studpartnero. Ich habe dafür schon eine Idee, aber wir sollten zunächst das andere erledigen.«
Er hielt mir das Gerät hin. Ich musste schlucken, denn plötzlich ging alles so schnell, dass mir schwindelig wurde. Ich spürte eine lähmende Angst in mir, die ich auch mit Gios zuversichtlichem Blick nicht abschwächen konnte.
Es konnte soviel geschehen, was meine Lebensplanung über den Haufen schmeißen konnte. Alles hing von Angelina ab und wie sie diese Neuigkeiten aufnehmen würde.
»Danke«, presste ich mühsam hervor.
»Gio!«
Freudestrahlend kam Angelina aus dem Haus und rannte Gio beinahe um, als sie ihm um den Hals fiel. Mir fiel auf, wie sehr sie sich verändert hatte, jetzt erkannte ich es überdeutlich, weil ich mich nun mit diesem Thema beschäftigen musste und mich dazu noch nicht in der Lage fühlte.
Ich nahm mich zusammen, klemmte mir den Laptop unter den Arm und stand auf.
Deutlich zeichneten sich die Ansätze ihrer Brüste unter dem T-Shirt ab und ich wusste, dass ich keine Zeit mehr verlieren durfte.
Ich zog sie ein wenig weg von Gio und sagte mit heiserer Stimme, weil sie mir nicht gehorchen wollte: »Wir müssen uns dringend unterhalten, Angelina. Gio geht gleich wieder und wir müssen reden. Eigentlich will ich dir erstmal etwas zeigen, weil es Zeit wird, dass du erfährst, was in dieser Welt außerhalb unseres kleinen Paradieses hier geschieht. Leider wird es dir nicht gefallen, aber du bist jetzt alt genug, dass du es erfahren kannst und musst. Vorher will ich dir aber noch etwas geben, auf das du schon lange gewartet hast.«
Fragend sah sie mich an, als ich aus meiner Hosentasche etwas herauszog und ihr hinhielt.
Es war eine rote Schleife.
Ich wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, als sie vor Freude quietschte, sie ergriff und damit im Schlafzimmer verschwand.
Ob ich sie noch einmal sehen würde, wenn sie eine neue Schleife dort befestigen würde?
Ich fuhr mir nervös durch meine Haare, als mir bewusst wurde, dass sie vielleicht nie wieder eine Schleife von mir bekommen würde.
Gios Hand auf meiner Schulter beruhigte mich nur wenig.
Aber er verstand mich.
Angelina ahnte natürlich nichts von meinen Gefühlen, sondern kehrte immer noch gut gelaunt aus dem Schlafzimmer zurück, blieb dann aber verblüfft stehen und starrte Gio verwundert an, der sich bereits zum Gehen wandte.
Er winkte uns zum Abschied, drehte sich um und ließ uns allein.
»Danke, mein Freund. Ich melde mich«, rief ich ihm hinterher und spürte schon den misstrauischen Blick Angelinas auf mir, bevor ich in ihre Augen sah. Sie musste merken, dass etwas Wichtiges anstand und meiner Miene entnahm sie, dass es nichts Schönes war.
»Was ist los?«, fragte sie auch schon.
»Ich möchte, nein - ich muss dir etwas zeigen, was ich bisher vor dir geheimgehalten habe, weil ich dich vor diesen Bildern schützen wollte. So lange wie möglich. Nun aber ist es an der Zeit, dass ich dir reinen Wein einschenken muss und will. Wollen wir an den Tisch drinnen gehen? Du kannst es sonst in der Sonne nicht erkennen.«
Niedergeschlagen wagte ich es kaum, sie anzusehen, aber ich erkannte aus den Augenwinkeln, dass sie wortlos nickte und hineninging. Also folgte ich ihr mit schweren Schritten.
Sie setzte sich an den Tisch und schaute mich prüfend an, als ich mich neben sie an den Tisch begab und den Laptop vor sie hinstellte.
»Was ist das?« Es war nur ein Flüstern von ihr.
»Eine Art Computer. Eine elektronische Verbindung über das sogenannte Internet, über das man Informationen aus der ganzen Welt bekommen kann und genau sehen, was wo gerade passiert und wie es da aussieht. Ich zeige dir erstmal, wie man damit umgeht. Danach kannst du dir allein ein Bild machen, aber ich werde hier bleiben für Fragen und wenn du andere Hilfe brauchst. Ist das in Ordnung für dich?«
»Warum jetzt? Hat es was mit der roten Schleife zu tun?«
Ich wich ihrem Blick aus.
»Vielleicht. Ich erkläre dir erstmal das Gerät. Nach zwei Stunden geht er aus. Dann können wir über alles reden. Oder du gehst einfach nachdenken, wenn du das lieber willst. Ich werde jedenfalls hier sein, wenn du mich brauchst.«
Entschlossen klappte ich den Laptop auf und begann ihr alles zu erklären, was sie zur Bedienung wissen musste. Ich hatte ja die Sicherheit, dass sie nicht überall hinsurfen konnte, also zog ich mich danach gleich zurück auf das Sofa und schaute ihr wehmütig zu.
Wie viele Träume würden jetzt in ihr platzen wie Seifenblasen? Konnte sie so viele Bilder von Kriegsschauplätzen und anderen Katastrophen verkraften? Bisher war sie von solchen Meldungen verschont geblieben. Ich sah, wie das flackernde Licht über ihr Gesicht huschte, wenn sie sich Videos ansah und wie ihr immer wieder Tränen in die Augen stiegen oder sie entsetzt kurz den Blick abwendete, weil sie es nicht ertragen konnte.
Ich litt mit jeder Minute mehr mit ihr, aber es half nichts.
Jetzt musste sie da durch. Und ich auch.
Es kam mir unendlich lange vor und sie sagt kein einziges Wort in der Zeit, bis der Bildschirm schwarz wurde.
Die ersten zwei Stunden waren vorüber und sie war am Ende, genau wie ich. Schluchzend stand sie auf und flüchtete sich in meine Arme, so als wollte sie wieder das kleine Mädchen sein, dem ich zuflüstern konnte, das alles wieder gut werden würde.
Nur diesmal blieb auch ich stumm und wiegte sie nur in meinen Armen, bis sie erschöpft einschlief.
Ich hatte Angst davor, was passieren würde, wenn sie wieder aufwachte.