Letztendlich erfüllten sich so einige Wünsche unsererseits an diesem Tag natürlich nicht. Das Entscheidende aber war erfüllt worden. Auch sonst waren wir im Laufe der Nacht jeder auf unsere Kosten gekommen, bis wir völlig erledigt eng umschlungen einfach einschliefen. Als ich erwachte, war Danielle bereits fort. Ich hätte sie gern noch einmal geküsst zum Abschied, aber es hätte nichts geändert, also schob ich den Gedanken einfach zur Seite.
Mein Alter war nun festgeschrieben, ebenso wie das von Danielle.
Sie würde ich vielleicht nie wiedersehen, aber das war uns die ganzen Jahre bewusst gewesen. Unsere Zeit war die intensive Vorbereitung auf die perfekte Täuschung der unwissenden Menschen, um sie schließlich zu überleben. Die Vorbereitungen liefen nun schon so lange, wir mussten Geduld haben und Ausdauer, aber daran würde es nicht scheitern.
Ab jetzt gehörten wir zu den aktiven Savantoj.
***
»Jetzt bist Du soweit, Alessandro. Nun musst du deinen eigenen Weg gehen, mehr kann ich dir nicht mitgeben. Ich habe jetzt andere Aufgaben. Du ab sofort die deinen. Viel Glück, mein Junge.«
Ich konnte meiner Mutter ansehen, dass sie zwiegespalten war, mich jetzt aus dem Haus zu schicken - womöglich für immer. Aber nach den unendlich vielen Gesprächen, die wir in den letzten Wochen geführt und Erklärungen, die wir ausgetauscht hatten, war es eine logische Konsequenz.
Meine Aufgabe machte mir auf der einen Seite Angst, denn ich wusste nicht, ob ich ihr gewachsen war. Doch sie erfüllte mich auch mit Stolz, weil ich ab sofort Teil einer großartigen Mission war. Ich war bereits als Savanto geboren worden, aber erst mit meiner Festschreibung meines augenblicklichen Alters mit meiner Studpartnero Danielle unterschied ich mich dabei nicht mehr sonderlich vom Alter meiner Mutter - jedenfalls für die Menschen und rein äußerlich.
Nun kannte ich alle Geheimnisse. Und ich wusste, was ich nun tun musste, auch wenn ich mich selbst für diesen Weg entschieden hatte.
Da wir Savantoj aussahen, wie ganz normale Menschen, waren wir optimal getarnt. Niemand konnte uns erkennen. Allein wir waren in der Lage, uns untereinander zu erkennen, aber auch nicht auf Anhieb.
Das Problem bestand eher darin, dass wir nicht auffallen durften, sonst würden wir auffliegen und dann war alles gefährdet. Da wir uns aber gut organisiert hatten, gab es genug Unterschlüpfe, die einsam lagen und sich im Familienbesitz befanden. In absehbarer Zeit kämen die nächsten Generationen, die sich nicht mehr verstecken mussten, weil sie keine Wandlung mehr benötigten. Teilweise gab es jetzt schon ganze Familienverbände, die völlig offen unter den Menschen lebten. Mit ein wenig Glück, konnte es in ein paar Jahren auch bei mir schon der Fall sein. Dann konnten die kommenden hunderte von Jahren kommen, alles durfte offen geschehen. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis die erste Phase abgeschlossen sein würde - vielleicht noch ein paar Jahrzehnte. Dann würde es ernst werden. Bis dahin hatte ich jedenfalls noch genug zu tun.
Ich schaute meine Mutter an und trat auf sie zu.
Behutsam umfasste ich mit beiden Händen ihr Gesicht, sodass sich Stirn und Nasenspitze berührten. Ich streifte ihr Schläfe mit zwei Fingern und kurz erglomm in unseren beiden Augenpaaren ein winziges nur für uns Savantoj sichtbares Grün auf. Dann gab ich ihr noch einen Kuss auf den Scheitel, drehte mich um und verließ das Haus ohne mich noch einmal umzudrehen.
Ich kannte meine jetzige Aufgabe genau, meine vorläufige Heimat lag in der Toskana und war perfekt, um ein Kind dort aufzuziehen. Doch mein erster Weg würde in die entgegengesetzte Richtung gehen.
Ich hatte meine erste und wichtigste Aufgabe zu erledigen.
Ich musste das bestimmte Kind, meine Auraeho, finden. Meine zugedachte Lebenspartnerin. Ich hatte es gar nicht glauben wollen, dass sie ausgerechnet unter den Menschen lebte, unseren Feinden, aber am Ende stellte es sich als wahr heraus. Ich hatte sie schon am tag ihrer Geburt gespürt, aber bis jetzt konnte ich mich ihrer noch nciht annehmen.
Die einzige Möglichkeit sie zu retten war, sie von dort mitzunehmen. Glücklicherweise musste sie sich an der Küste Dänemarks befinden - unser zukünftiger Aufenthaltsort sollte in Italien liegen, ein alter Familienbesitz, einsam gelegen. Je weiter wir von ihrem jetzigen Aufenthaltsort entfernt lebten, desto besser konnte ich unsere Spuren verwischen.
Es würde natürlich einen Aufschrei unter den Menschen geben, vielleicht auch groß angelegte Suchaktionen und Nachforschungen. Aber sie würden vergeblich und verzweifelt versuchen, das Kind wiederzufinden.
Wenn sie wüssten, dass ich dem Mädchen ein erfülltes Leben verschaffen würde, wäre es vielleicht anders. Aber nur vielleicht. Behörden und Eltern der Menschen dachten doch immer, sie würden das Beste für die Kinder tun. In diesem Fall lagen sie jedoch so weit daneben, wie es nur möglich war. Wenn die Welt erstmal in Schutt und Asche lag, wäre es für alle Lebewesen vorbei. Auf jeden Fall für die Menschen. Wir Savantoj hatten noch eine Chance und die wollten wir nutzen.
Die Savantoj würden alles dafür tun.
Es konnte nur noch gelingen, wenn die Menschen in ihrem Egoismus von der Erde verschwanden. Das gab uns die Überlieferung vor.
Sie hatten ja nur eine begrenzte Lebenserwartung und darin lag der Vorteil von uns.
Unsere Lebensweise war so angepasst, dass wir unserer Umgebung nicht schadeten, selbst eine Überbevölkerung regelte sich ganz natürlich von allein. Das war zwar im System etwas, was ich noch nicht ganz verstanden hatte, aber noch betraf es niemanden unserer Spezies, denn bisher waren wir erst beim Aufbau und es würde noch Jahrzehnte dauern, bis wir das Ende der ersten Phase erreicht hätten.
Im Rucksack auf meinem Rücken hatte ich nun meinen gesamten Besitz bei mir, aber das reichte. An Geld kamen wir weltweit durch die Konten der Familie, alles gut verschleiert, wir brauchten aber nur sehr wenig.
Ich hatte einen Plan. Ich hatte die Aura meines Mädchens in Dänemark erspürt und sie zog mich unwiderstehlich an. Am leichtesten konnte man Menschen an einem Strand beobachten und verschwinden lassen - jedenfalls stellte ich mir das am einfachsten vor. Ich war davon überzeugt, dass ich sie dort finden würde.
Am Strand spazieren zu gehen war außerdem traumhaft schön und würde mich gleich auf die kommende Zeit einstimmen, auf die ich mich trotz aller Unsicherheiten sehr freute.
Am Ende hatte meine Mutter mir noch sehr viele Tipps für kleine Kinder mitgegeben, vieles kannte ich durch meine Geschwister schon, und so hoffte ich, dass ich das alles einigermaßen bewältigen würde.
Ich fuhr zum Bahnhof und löste eine Fahrkarte nach Dänemark. Weites schönes Land und viele Touristen, aber schön verteilt. Ideal für meine Zwecke. Mein Gefühl leitete mich, darauf musste ich mich zukünftig verlassen.
Irgendwo in einer der vielen Gaststätten ein Zimmer zu finden. wo mich mein Gefühl hinzog, war mein nächstes Ziel. Dann konnte ich morgen starten.
Bis dahin genoss ich die Ruhe meiner Bahnfahrt und die Aussicht bald an einem herrlichen Strand zu sein, der mich meinem Lebenstraum und meiner Aufgabe ein großes Stück näher bringen sollte.
Das Zimmer war schnell gefunden. Einfach, aber sauber. Das reichte mir vollkommen.
Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel.
»Ich habe ein gutes Gefühl heute«, sprach ich mir Mut zu. Die Präsenz meiner Auraeho war mir hier allgegenwärtig. Unwiderstehlich.
Ich strich mir durch mein schwarzes, leicht gelocktes Haar, drehte mich um und verließ gespannt und in großer Vorfreude meine Unterkunft.
Den Rucksack hatte ich nicht mitgenommen. Heute würde ich sondieren und sie finden. Sie lokalisieren und erkennen.
Ich konnte ja nicht einfach irgendein Menschenkind mitnehmen. Es musste absolut zu mir und meiner Seele passen, sonst brachte es alles nichts. Nur für meine Auraeho würde ich mein Leben geben. Ansonsten wäre ich das Risiko nicht eingegangen und auch meine Eltern hätten mir davon dringend abgeraten. Sie war diejenige, die die Bestimmung für mich vorgesehen hatte. Ich musste darauf vertrauen, dass dieses Band auch von Mensch auf Savanto überspringen konnte, oder dass die Zuneigung auch sonst tief genug wachsen würde. Am Ende musste sie mich so lieben und vertrauen, dass ...
Nein, darüber wollte ich noch nicht nachdenken, denn das war ein riskantes Unterfangen und man ging so etwas in Ruhe Schritt für Schritt an. Wenn ich alles perfekt hinbekam, dann musste der Rest einfach auch funktionieren. Das war frühestens in zehn bis fünfzehn Jahren so weit. Eher später. Also ruhig Blut, Sandro, redete ich in Gdanken auf mich ein.
Ablenkung könnte fatal für mich - und sie - enden.
Der Weg zum Strand war nicht so weit, aber dafür war er dann schier endlos lang. Ein Traum.
Wenige Menschen, auch Kinder, traf ich hier an. Aber als ich gemütlich am Wasser entlang schlenderte, begegneten mir nur Jungen oder Mädchen, die bereits zu alt waren.
Sie sollte höchstens vier Jahre alt sein, sonst bestand die Gefahr, dass die Bindung zu den Menschen schon zu stark war. Es war jedesmal ein Drahtseilakt, Mutter hatte mir das sehr eindringlich nahe gebracht. Zu jung war schlecht wegen der Ernährung und Windeln, die es dann zu besorgen galt, womit man zu leicht auffiel. Also war das Alter schon sehr begrenzt zu nutzen, aber ich war zuversichtlich, dass ich die Richtige finden würde - und sie nicht noch zu klein oder zu alt sein würde. Aber die Bestimmung würde hoffentlich dafür sorgen, dass es passte und danach lag es an mir. Irgendwie fühlte es sich so an, als wenn ich eine neue kleine Schwester suchte, für die ich bis zur Volljährigkeit sorgen würde.
Niemand beachtete mich, das war gut.
Ich konnte mich in Ruhe umsehen, außer mir gab es noch ein paar Leute, die ebenfalls einen Strandspaziergang machten. Vereinzelt befanden sich Hunde dabei, die sich mit den anrollenden Wellen amüsierten oder sich gegenseitig jagten und beschnüffelten. Ideale Ablenkung von mir.
Zufrieden musterte ich derweil die spielenden Kinder im Sand oder im nahem Uferbereich des Wasser.
Nur was ich suchte, war nicht dabei.
Auch nicht auf dem Rückweg.
Das Szenario wiederholte sich einige Tage und allmählich fragte ich mich, ob mein Gefühl für diesen Ort und gerade diesen Strand mich getäuscht haben sollte.
Da wurde ich von blonden Haaren im Sonnenlicht geblendet. Der Wind zerzauste ihre Locken. Als mein Schatten sie erreichte, hob sie den Kopf und sah mich an.
Ihr Blick brannte sich in meine Seele.
Ich hatte sie gefunden.