Dieser Blick aus wahnsinnig großen, blauen Augen, brachte mich ins Straucheln, aber ich fing mich sofort wieder.
Keine Ahnung, ob ein Mensch auch so empfinden konnte, aber irgendwas, das sagte mir ihr Blick, muss sie gefühlt haben, denn sie zeigte Interesse und keinerlei Angst.
Ich ließ ihr nur ein kurzes Lächeln da, aber ich merkte mir genau den Platz, an dem ich sie gefunden hatte. Ich musste mich mit Gewalt dazu zwingen, äußerlich unbeeindruckt weiterzugehen, aber ich spürte ihre Augen in meinem Rücken, als sie mir hinterhersah. Ich lief wie gewohnt noch eine Stunde weiter, ehe ich kehrt machte und den Rückweg antrat. Diesmal sah ich mir die Gruppe genauer an, denn die galt es zur richtigen Zeit abzulenken, damit ich mit der Kleinen verschwinden konnte.
Ich machte einen großen Bogen um den Platz mit der Guppe Kindern. Sie wurden begleitet von zwei Ezieherinnen, die etwas abseits standen und den Kinder zusahen. Sie trugen ein Schild an der Kleidung, das sie als Mitarbeiterinnen eines Waisenhauses auswiesen, soviel konnte ich im Vorbeigehen gerade noch entziffern. Gut in den Dünen verborgen beobachtete ich sie, als sie gegen Nachmittag aufbrachen. Ich konnte ihnen unauffällig folgen, niemand beachtete mich.
Ich überlegte mir, dass es vielleicht doch besser wäre, sie vom Grundstück des Waisenhauses aus mitzunehmen. Ganz offensichtlich wurden sie hier nicht so streng bewacht und Wachleute gabe es sowieso nicht. Das Gelände war weitläufig und hatte genügend Stellen, an denen man sich verbergen konnte und die Kinder verteilten sich hier prima. Auch mein kleines Mädchen spielte dort ganz versunken an einem liegenden Baumstamm, der wohl als Klettergerät dienen sollte. Beinahe hätte ich sie gar nicht entdeckt, weil sie fast dahinter verschwand. Dann setzte sie ihre Puppe auf den Stamm und schien sich mit ihr zu unterhalten, was mir ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
Spielgeräte gab es kaum. Eine Schaukel an einem Baum und eine Sandkiste am anderen Ende vom Zaun. Ansonsten viel Wiese mit Bäumen, hinter denen sich die Kleinen verstecken konnten, wenn sie fangen spielten. Ich schaut ihnen eine Weile zu und sondierte die verschiedenen Tore im Zaun, aus denen man weg könnte. Die Klinken waren so weit oben angebracht, dass die Kleinen nicht herankamen. So wollten sie wohl verhindern, dass sie versehentlich vom Grundstück verschwanden. Ich vermutete, dass sie sich damit relativ sicher fühlten, denn wer sollte schon ein Kind aus dem Waisenhaus entführen? Es interessierte sich doch niemand für die verwaisten Kinder hier. Sie würden notdürftig versorgt werden, geschult und dann in ein ungewisses Leben entlassen werden.
Ich seufzte, war aber mit meinen Ergebnissen hier durchaus zufrieden. Wenn ich es morgen schaffen würde, irgendwie Kontakt zu der Kleinen aufzunehmen, wenn niemand auf sie achtete, dann würde sie mir sicher folgen und einfach mitkommen. Sie sah nicht so aus, als wenn sie hier besonders glücklich war. Wenn tatsächlich mal die Stimme eines Erwachsenen in den Garten schallte, waren es meistens nur harsche Anweisungen, die die Kinder sofort verstummen und zusammenzucken ließen. Meistens kümmerte sich aber keiner um sie und sie beschäftigten sich allein. Ich näherte mich vorsichtig dem einen Tor, das durch eine Hecke etwas verdeckt war von außen und probierte, es zu öffnen. Es war nicht abgeschlossen, wie ich es mir gedacht hatte. Das war gut. So brauchte ich nicht mit ihr den Zaun überwinden, sondern konnte sie einfach durch das Tor schleusen.
»Das ist Bella«, ertönte plötzlich eine piepsige Stimme neben mir. Erschrocken fuhr ich herum und da stand sie und hielt ihre Puppe hoch, um sie mir zu zeigen. Ich blickte zurück zum Grundstück, aber kein Erwachsener war draußen zu sehen und niemand sah in unsere Richtung, also rang ich mir flugs ein Lächeln ab, als ich ihr leise antwortete.
»Hattest du Bella nicht auch heute am Strand dabei? Als du die vielen Muscheln gesammelt hast?«
Sie nickte sofort. Sie hatte mich also vorhin wahrgenommen.
»Ja, sie ist immer bei mir. Ich bin ihre Mami.«
Ich schluckte bei dieser Aussage, die so treuherzig von ihren Lippen kam. Wieder flog mein Blick auf das Grundstück. Noch war niemand zu sehen und eigentlich war auch noch genügend Zeit, dass die Kinder vielleicht noch eine Weile draußen spielen würden. Sollte ich die Gelegenheit beim Schopfe packen und sie sofort mitnehmen? Würde sie sich darauf einlassen? In Sekundenschnelle musste ich mich entscheiden.
»Wollen wir mit Bella zusammen einen kleinen Ausflug machen? Würde ihr das vielleicht gefallen?«
Ich tat so, als wenn ich dabei Bella ansah, ließ aber das Gelände nicht aus den Augen, während ich vorsichtig das Tor wieder einen Spalt öffnete. Prompt lief sie auf die geöffnete Tür zu und plapperte dabei weiter.
»Ich habe dich am Strand gesehen. Willst du dahin? Bella hat Angst vor dem Wasser. Können wir woanders hingehen?«
Sie setzte sich tatsächlich in Bewegung, trat zu mir hinaus und ich schloss rasch das Tor wieder hinter ihr. Ich griff nach ihrer Hand, die sie mir bereitwillig überließ.
Ich musste mich zwingen, gemächlich mit ihr zu den nächsten Bäumen zu gehen, noch hatten wir die Hecke als Deckung, es durfte nur niemand jetzt gerade hierhersehen.
Weit und breit gab es keine anderen Menschen, die hier entlang gingen, nicht einmal die obligatorischen Hundebesitzer schienen sich hierher zu verirren.
Ich stellte ihr belanglose Fragen zu ihrer Bella, während ich fieberhaft überlegte, wie ich jetzt weiter vorgehen wollte. Als wir vom Haus aus nicht mehr zu sehen waren, blieb ich kurz stehen und zog meinen Mantel aus. Wenn wir jetzt jemandem begegnen würden, konnte man uns vielleicht beschreiben, das durfte ich nicht riskieren, dazu war die Kleine viel zu auffällig. Ich hockte mich neben sie und sah sie freundlich an, damit sie keine Angst bekam.
»Bella hat wunderschöne Haare. Genau wie du. Wie heißt du eigentlich?«
»Marie. Ja, hat sie. Schöne Haare. Aber meine sind länger, schau mal.«
Darauf hatte ich gehofft. Sie hielt ihren Kopf ein wenig schief, damit ich sehen konnte, wie lang ihre Haare waren. Ein bekannter und geübter Griff an ihren Hals und sie fiel mir schlafend in die Arme. Ich wickelte sie rasch in den Mantel ein, nahm sie auf den Arm und lief nun praktisch mit "meinem" schlafenden Kind durch die Straßen. Ohne Hast steuerte ich kleine Seitenstraßen an und lief zielstrebig in eine bestimmte Straße.
Vorsorglich hatte ich mir gleich zu Beginn einen Mietwagen besorgt, den ich nun ansteuerte. Wie ich es für später genau geplant hatte, legte ich das Kind auf die Rückbank, deckte sie insgesamt mit einer Decke zu und ließ nur Bella ein wenig hervorschauen, damit Marie auch genug Luft bekam. Im Fußbereich hatte ich ihre neuen Sachen, die ich ihr bald anziehen würde, aber zunächst musste ich unauffällig meine Zelte hier abbrechen. Ich schloss den Wagen ab und machte mich auf den Weg zu meiner Unterkunft.
Das Zimmer war noch für zwei Tage bezahlt, da brauchte ich nur meinen Rucksack mitnehmen.
Es gelang mir, ungesehen in das Zimmer und wieder hinaus zu kommen. Nun musste ich nur noch die Strecke bis zu einem bestimmten Bahnhof hinter mich bringen, zwei Fahrkarten besorgen, danach konnte ich offiziell mit meiner Tochter in die Toskana reisen - im Schlafwagen. Die Suche nach dem Kind würde ich in der Presse verfolgen, soweit es bis nach Italien interessant für sie sein würde.
Wenn ich mit meinem Schatz erstmal dort wäre, gäbe es keinen Anhaltspunkt mehr für ihren Verbleib. Dann wäre sie gerettet, für's Erste jedenfalls.
Als ich den Wagen startete, ging es mir schon erheblich besser. Das Kind schlief friedlich auf der Rückbank. Eine Pause wollte ich trotzdem einlegen, um sie zu wecken und ihr etwas zu trinken zu geben. Das war einer der Dinge, die mir Mutter sehr ans Herz gelegt hatte und ich würde versuchen, mich so gut wie möglich daran zu halten.
Ich suchte mir einen Parkplatz in einem Industriegelände, in dem auch keine Hundehalter herumliefen und setzte mich zu Marie. Wider Erwarten erwachte sie ohne großes Theater und hielt die Augen fast geschlossen, als sie die Flasche fast austrank. Ich legte sie wieder schlafen und sah zu, dass wir schnellstens zum Bahnhof kamen, Fahrkarten besorgten und auf den richtigen Bahnsteig fanden.
Eine halbe Stunde hatten wir zu überbrücken, dann fuhr der Zug endlich ein. Glücklicherweise kümmerten sich die wenigen Leute nur um sich selbst und waren damit beschäftigt, ihr Abteil zu finden und ihre Papiere zu studieren, wir wurden nicht weiter beachtet, als wir den Zug bestiegen.
Ich atmete auf, als wir endlich in unserem Abteil waren. Ich legte sie in eine der Kojen und vorher vorsorglich eine Windel an. Ich hatte eine Packung besorgt, die größten, die ich bekommen konnte, aber besser als nichts.
Bis hierhin war alles gut gegangen, aber wer wusste schon wie lange? Dann zog ich ihr die mitgebrachten Sachen an, die allesamt ein wenig zu groß waren, aber irgendwie ging es schon mit umkrempeln. Der Jogginganzug stand ihr trotzdem.
Wieder weckte ich sie kurz. Diesmal schaute sie mich mit großen Augen an. »Mama?«
Ich schüttelte den Kopf, hielt ihr aber sofort wieder eine neue Flasche vor, die sie zögerlich austrank. Dann sank sie zurück in die Kissen. Vorsichtshalber schickte ich sie wieder in den sicheren Schlaf.
Vor unserer Ankunft musste ich unbedingt noch die Windel wechseln, danach sollte sie auch etwas essen, ich hatte Obst und Brot dabei und hoffte, dass sie damit zufrieden sein würde. Noch eine Flasche Wasser danach und das sollte reichen, bis wir an unserem Ziel angekommen wären.
Bis hierher lief alles nach Plan und während der Schlafwagen durch die Nacht fuhr, konnte ich mal in Ruhe mein Mädchen betrachten, die wie ein Engel in der Schlafkoje lag. Ihr Mündchen verzog sich mit Nuckelbewegungen, die in mir einen Beschützerinstinkt hervorriefen, den ich kaum unterdrücken konnte. Zärtlich strich ich ihr über ihre seidigen Locken und fuhr mit meinem Zeigefinger ihre Gesichtskonturen ab, über die Augenbrauen und den kleinen Mund. Dann gab ich ihr einen kleinen Stups auf ihr Näschen und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe ich den Vorhang zuzog und sie schlafen ließ.
Auch ich musste jetzt Energien tanken und ein wenig Ruhe finden. Es waren noch viele Stunden, bis wir hier herauskamen und dann musste ich wieder fit sein. Ich machte mich ein wenig frisch in der Nasszelle und putzte meine Zähne.
Als ich eben in meine eigene Koje klettern wollte klopfte es.
Panik breitete sich wie ein Orkan in meinem Körper aus.
Hölzern ging ich zur Tür und entsperrte sie.