Sie schlief nur zehn Minuten. Die Tränen waren noch nicht getrocknet, als sie ihre Augen wieder öffnete.
Ich schluckte, als ich sah, wie sie mit sich kämpfte. Dann kamen sie in einer Geschwindigkeit, die mir Angst machte. Die Fragen.
»Warum? Was ist da los, wieso bekämpfen sich überall die Menschen? Warum machen sie so sinnlos alles kaputt - und bringen sich gegenseitig um?«
»Das sind Fragen, die ich mir jeden Tag stelle und doch keine Antwort darauf finde. Ich hätte dir am liebsten nie davon erzählt, aber ich kann dich nicht länger vor diesen Tatsachen beschützen. Vielleicht verstehst du, dass ich dir das so lange nicht gezeigt habe. Du warst immer so ein fröhliches Kind, es hätte deine Welt in den Grundfesten erschüttert und dann wäre aus dir vielleicht nicht so ein wunderbarer Mensch geworden, wie du es heute bist. Eigentlich ...«, unterbrach ich mich selbst in meiner Rede. »bist du lediglich dieser wunderbare Mensch geblieben. Einer der Wenigen auf dieser Welt.«
Ich holte gequält tief Luft und rückte ein wenig von ihr ab, sodass wir uns ansehen konnten.
In ihrem Gesicht konnte ich so viele Emotionen ablesen, die mir weh taten.
Schmerz, Entsetzen, Fassungslosigkeit und Traurigkeit.
»Wollen wir an den See gehen?«
Diesen Platz liebte sie besonders, vielleicht konnte er sie ein wenig beruhigen. Ob ich ihr heute schon mehr zumuten konnte? Ich sollte sie erstmal diese Sache verkraften lassen. Wenn ich es mir richtig überlegte, war das sogar etwas, was ich selbst bis heute noch nicht begriffen hatte.
So wie ich sie kannte, würde sie noch mehr wissen wollen, auch wenn es sie noch so sehr mitnahm.
Resigniert nickte sie nur, aber sie griff nach meiner Hand, was sie in letzter Zeit nicht mehr so häufig getan hatte.
Wir legten den Weg relativ schweigsam zurück, aber ab und zu brachte sie doch eine Frage an und ich musste mich blitzschnell ihren augenblicklichen Gedankengängen anpassen, um nach den richtigen Antworten zu suchen.
»Ist es überall so? Warum bekriegen sich die Menschen? Was ist die Ursache für solche Massaker? Sehen sie denn nicht, was sie damit anrichten? Wie kann man so leben wollen?«
Ich sortierte meine Gedanken.
»In sehr vielen Regionen werden Kriege ausgefochten, Angelina. Das ist leider so, war schon immer so und wird eher schlimmer, als besser. Ursachen dafür gibt es unendlich viele, mal abgesehen von dem einen irrsinnigen Gedanken, dass jeder immer mehr haben will. Unterschiedliche Religionen verursachen Konflikte. Unterdrückung von Minderheiten, die sich dann wehren wollen. Hunger wegen Naturkatastrophen. Armut, Seuchen und ...« Ich brach ab, als sie plötzlich stehen blieb.
»Ist nicht dein Ernst. Überall, auch hier in Europa? Warum habe ich davon nichts bemerkt? Wie konntest du das alles vor mir geheimhalten?«
Schuldbewusst wich ich ihrem Blick aus. Sie hatte ja Recht. Andererseits auch wieder nicht. Ich bemühte mich, um eine Erklärung.
»Angelina - du warst drei Jahre alt. Sollte ich dich damit konfrontieren, wo du dich erstmal hier einleben solltest?«, versuchte ich mich rauszureden. Aber ich hatte sie unterschätzt.
»Ich bin schon lange keine drei Jahre mehr alt. Haben Gios Kinder auch nichts davon erfahren? Doch - in der Schule! Deswegen sollte ich nicht zur Schule gehen, oder?« Sie sah mich misstrauisch an und ich wand mich innerlich. Dieses Thema ging jetzt schon in die völlig falsche Richtung! Ich konnte ihr nicht noch mehr erzählen. Noch nicht heute und schon gar nicht, wenn sie noch so aufgewühlt war.
»Das war nur ein Grund, warum du nicht zur Schule gegangen bist. Darüber möchte ich mit dir, ehrlich gesagt, erst später reden. Es - es gibt mehr, was wir besprechen müssen, aber nicht alles heute. Bitte, Angelina. Lass uns jetzt bei diesen Informationen bleiben bis ...«. Wieder brach ich ab.
Ja, bis wann? Ich war völlig aus dem Konzept und wurde zunehmend nervöser. Sie überlegte einen Moment, dann verzog sie das Gesicht und lief weiter, ich hinterher. Ich kam mir vor wie ein geprügelter Hund, der etwas angestellt hatte und nun auf seine Bestrafung wartete. Irgendwie war es ja auch so.
Sie lief immer schneller, ich folgte ihr langsamer. Dabei wusste ich genau, dass mir das auch nicht weiterhelfen würde. Wenigstens bohrte sie mit der Schule nicht nach. Als ich bei ihr ankam, saß sie bereits am Ufer und starrte auf das Wasser. Ich setzte mich neben sie, wagte es aber nicht, ihre Hand zu nehmen und sah auch zu, dass ein gewisser Abstand zwischen uns blieb. Ich spürte, dass sie den brauchte.
»Obwohl es immer schon Mahner gab, die aufzeigten, wie gefährlich diese Entwicklung war, passierte nie etwas, was das auf Dauer eingedämmt hat. Wie soll man die Machthaber stoppen und den Opfern helfen? Solange Geld die Welt regiert, hat immer der mit dem Geld das Sagen. Oder Militärs unterdrücken das einfache Volk. Oder Kriminelle vergiften Kinder, rauben, stehlen und töten jeden, der sich ihnen in den Weg stellen will. Jedes Kind muss sich bei diesen Tatsachen fürchten. Jedenfalls solange es zu jung ist. Jetzt kannst du die Zusammenhänge vielleicht erfassen - verstehen kann das Niemand, auch ich nicht.«
Sie schnaubte und ich schaute überrascht zu ihr hinüber.
»Was soll ich denn jetzt damit anfangen? Ich sitze hier mit dir in diesem kleinen Paradies und warte nun in aller Seelenruhe, bis irgendein Kriegsherr beschließt, auch hierher zu kommen, alles wegzubomben und jeden abzuschlachten? Ich soll mich ernsthaft mit meiner Zukunft auseinandersetzen? Wozu, wenn doch alles den Bach runtergehen wird? Worauf soll ich mich denn freuen? Wir verursachen Müll, der unseren Planeten erstickt, von der Ausbeutung will ich gar nicht erst anfangen. So wie ich das sehe, nachdem, was ich alles nur ganz kurz angesehen habe, brauche ich gar nicht mehr erwachsen zu werden. So wie du sagst - es wird sich nie etwas ändern zum Guten. Es ist einfach nur entsetzlich und ich will nichts mehr davon sehen! Oder doch! Ich werde mir so viel ansehen, wie ich nur kann, dann werde ich wahrscheinlich in einem Tränenmeer ertrinken, oder zum Sterben in den Wald gehen oder was weiß ich ...«
Ihre Stimme war immer lauter geworden, zum Schluss schrie sie bis ihre Stimme sich überschlug, sie aufsprang und unruhig und aufgelöst am Ufer hin- und herlief.
Ich wusste nicht, was ich machen sollte nach diesem Ausbruch und geriet fast in Panik.
Sie hatte ja Recht mit ihren Schlussfolgerungen. Trotzdem konnte ich ihr nicht einfach die in meinen Augen Schuldigen nennen. Nicht, solange sie nicht wusste, wer ich war. Aber irgendetwas musste ich sagen. Einen Lösungsansatz bieten. Etwas, woran sie sich festhalten konnte, selbst jetzt noch.
»Was wäre, wenn es doch noch Espero, Hoffnung gäbe? Wenn man vielleicht alles Negative wieder umkehren könnte? Setz dich doch bitte wieder. Ich habe da eine Idee, was du in den nächsten Tagen tun könntest dafür. Willst du es hören?«
Ungläubig sah sie zu mir herunter. Dann setzte sie sich wieder neben mich und lehnte ihren Kopf an meine Schulter.
»Hoffnung. Das kann ich gerade gut gebrauchen, Sandro. Erzähl mir davon.«