Ich konnte mich noch lebhaft an das Gespräch mit meiner Mutter erinnern, als ich ihr das erste Mal von meiner Auraeho erzählte. Von diesem überwältigenden Gefühl, das mich gepackt hatte. Du musste sie geboren worden sein, denn danach ließ es mich nie wieder los. Es stand sofort für mich fest, dass ich sie zu mir holen musste, auf sie aufpassen und beschützen.
Meine Vorstellungskraft allein machte es mir möglich, mir die Gefühle von Menschen vorzustellen, wenn sie bemerkten, dass ein Kind weg war.
Allein, ich hatte mich entschieden, Marie zu retten, ihr die Möglichkeit zu geben zu überleben, darum konnte ich ihnen ihren Schmerz von der Trennung nicht gänzlich abnehmen.
Mitleid mit den Menschen war unter den Savantoj verpönt, aber da uns jedwede Form von Gewalt ebenfalls unerträglich erschien, hatten wir für diese Art von freiwilligen Rettungsaktionen wie für Marie, eine Möglichkeit gefunden, um dem Kind den Trennungsschmerz zu seiner Vergangenheit erträglicher zu machen:
Es war eine Erweiterung der gefühlsmäßigen Verbindungen zu Marie, die ihnen ihre gegenseitigen Gefühle vermitteln konnten, dass sie sie liebten und es ihnen gutging, alles durchweg positiv. Die andere Seite wurde komplett deaktiviert.
Das konnten wir von Marie aus steuern, alle vorhandenen Verbindungen erspüren und sie mit dieser Erweiterung ausrüsten. Das Gute daran - auch Marie konnte das im Umkehrschluss erfühlen. Damit spürte sie die wohlbekannten Menschen weiterhin, was sie beruhigen sollte und ihr das Gefühl vermitteln, dass sie sie nicht vergessen hatten, auch wenn es vielleicht nur Bezugspersonen aus dem Waisenhaus waren. Die Verbindung zu ihren Eltern war abgebrochen durch deren Tod, trotzdem sollten diese Reste positiv besetzt werden, auch die übrigen Verbindungen galt es zu beeinflussen. Dadurch, dass diese Gefühle nach beiden Seiten von Angst befreit, sich nur auf das liebevolle und sichere Gefühl bezogen, litt niemand so unsäglich unter der Trennung wie normalerweise.
Mehr konnten und wollten wir nicht tun. Schließlich hatte sich die Spezies Mensch selbst ihren Untergang geschaffen. Wir konnten aus eigener Kraft nur sehr Wenige in unsere Welt retten und selbst das war nicht leicht, brandgefährlich und nicht sicher. Eigentlich trat das nur auf, wenn sich unter den Menschen wider Erwarten ein duobla animo, ein Seelenzwilling befand, so wie bei mir mit Marie.
Gio stand neben mir, als sie plötzlich aufwachte, als wenn sie uns gespürt hätte.
Sie rieb sich ihre Augen und schaute uns dann verwirrt an.
Ich setzte mich beruhigend lächelnd zu ihr auf die Bettkante. Sie presste ihre Puppe an sich.
»Hallo Angelina, hast du ausgeschlafen? Komm mal her, mein Schatz, ich zeige dir mal das Haus und den Garten. Oder möchtest du zuerst in den Garten?«
»Kann ich im Garten spielen?«
Ich war gerührt über ihren ersten Wunsch und nahm sie kurzerhand auf den Arm, öffnete die Tür nach draußen, die es auch im Schlafzimmer gab, und setzte sie vorsichtig ab.
»Natürlich kannst du spielen hier. Schau dir alles gut an, sei aber vorsichtig, der Weg fällt am Ende ab, nicht dass du herunterfällst.«
Sie nickte sehr ernsthaft, lief aber dann unbekümmert hinaus auf die Terrasse, die an einen großen Platz grenzte. Von hier aus hatte man einen traumhaften Blick auf das gesamte Tal.
Dafür interessierte sich das Kind nicht sonderlich.
Sie steuerte gleich auf einen Busch zu, in dem sie ein Vögelchen entdeckt hatte. Natürlich flüchtete der kleine Piepmatz sofort, aber Angelina juchzte vor Freude und dabei ging mir das Herz auf.
Gio und ich beobachteten sie eine Weile und setzten uns einfach wieder, um ihr Treiben zu beobachten. Es wäre zu schade gewesen, wenn wir ihre ersten Erkundigungen auf eigene Faust jetzt unterbrochen hätten, also ließen wir sie in stillem Einvernehmen gewähren.
»Geschlafen hat sie ja wohl genug in den letzten Stunden, dann kann sie jetzt ruhig toben, bis sie müde und hungrig wird. Ich kann das auch morgen regeln. Jetzt ist sie so schön abgelenkt. Ich bleibe trotzdem noch eine Weile, damit sie mich schneller kennenlernt.«
Gio schmunzelte vor sich hin und ich musste daran denken, dass seine drei Kinder dann heute Abend wohl ohne ihn schlafen gehen müssten. Aber ich wusste, das war eine Ausnahme und Angelina und mir geschuldet.
Gios Gefährtin Sophia würde es verstehen.
Auch wenn wir weit voneinander aufgewachsen waren, hatte sich unsere früh geschlossene Kinderfreundschaft bis heute gehalten. Ich war froh, sie jetzt wieder in der Nähe zu haben und erhoffte mir später auch ein wenig Abwechslung für Angelina.
Irgendwann ging ich rein in die Küche und machte für uns alle ein paar Schnittchen mit frischem Gemüse. Ich nahm alles mit raus und Angelina kam tatsächlich ab und zu und stibitzte was vom Teller. Aber es gab so viel zu entdecken, dass ich sie nicht überreden konnte, sich mit uns an den Tisch zu setzen. Viel hatte sie auch nicht gegessen, das Wasser wollte sie gar nicht.
Im Moment wollte ich ihr alle Freiheiten lassen, ich war schon froh, dass sie ihre Umgebung als schön empfand, wie man ihr deutlich anmerken konnte.
Ich unterhielt mich derweil mit Gio leise, um die Kleine in ihrem Entdeckungsdrang nicht zu stören.
»Sie ist wirklich süß«, meinte Gio, während er sie beobachtete, wie sie einem Schmetterling hinterherjagte.
»Das stimmt. War aber nicht der Grund, warum ich sie mitgenommen habe. Ich muss sie retten! Für uns. Auch für mich natürlich, aber das stelle ich ganz hinten an. Ich habe sie gespürt, sonst hätte ich sie niemals finden können. Obwohl sie weit entfernt war, konnte ich ihre Aura spüren. Für ein Menschenkind schon sehr selten.«
Gio schaute mich ernst an, auch das spürte ich, ohne den Blick von Angelina abzuwenden.
»Deine Eltern haben uns darüber schon informiert. Ich wollte es erst nicht glauben, aber du hast mich überzeugt. Auch ich spüre ihre Aura und es hat nichts mit der Bestimmung zu tun. Sie ist außergewöhnlich stark. Gut für dich, mein Freund. Wie planst du die nächsten Wochen? Sie ist ja noch ein halbes Baby, da brauchst du kaum mit irgendwelchen schulischen Dingen anfangen. Vermutlich möchte sie den ganzen Tag spielen. Wenn sie erstmal sorglos von ihrem alten Leben Abschied genommen hat, müsst ihr euch aneinander gewöhnen, damit sie sich wohl fühlt. Apropos - ich bleibe einfach über Nacht bei euch, dann kann ich sie morgen früh gleich entsprechend behandeln. Bevor sie aufwacht. Es könnte heute Abend länger als gedacht dauern, bis sie wieder von allein einschläft.«
Irritiert sah ich ihn nun doch an.
»Warum meinst du das?«
»Wenn die Kinder abends zur Ruhe kommen, dann denken sie über ihren Tag nach und reflektieren ihn. Ich denke, sie wird ihre Mutter vermissen und muss getröstet werden, damit sie in den Schlaf findet. Kenne ich von meinen, nur dass ich die Mutter dann zur Hand habe. Vielleicht hat sie sich ja schon im Waisenhaus daran gewöhnt, aber so ganz glaube ich da noch nicht dran. Sie ist noch sehr klein.«
Mit einem mulmigen Gefühl schaute ich zu dem spielenden Kind. Es sah doch alles sehr gut aus? Vielleicht würde es ja nicht so schlimm werden, schließlich war alles bestens vorbereitet. Handtücher, Zahnbürste lagen bereit, sogar ein Nachthemd hatte Sophia abgegeben aus ihrem Vorrat und Bella sollte natürlich auch bei ihr schlafen.
»Ach, einen genauen Plan habe ich noch nicht. Ich lasse es mal auf mich zukommen. Es wird schon irgendwie gehen«, murmelte ich leise, während mich Gio mit einem Achselzucken und zweifelndem Blick bedachte, aber nichts mehr sagte.
Ich redete mir Mut zu und ließ sie sich weiter vorläufig müde spielen. Aber als sie das dritte Mal über ihre eigenen Füße stolperte, ging ich zu ihr und nahm sie auf den Arm. Sie weinte, was mir leid tat. Ich tröstete sie so gut ich konnte.
Ein bisschen tat ich mir selber leid, denn ich musste es allein schaffen, sie heute zur Ruhe zu bringen. Ich trug das Kind ins Haus und wusste genau, dass Gio hier draußen sitzen bleiben würde, egal wie lange ich brauchen würde.