Sie sollte erstmal essen und trinken und ich schaute ihr dabei zu.
Ich hatte mir überlegt, dass ich mit ihr einen Spaziergang machen sollte, während wir uns unterhielten. In der Natur konnte sie vielleicht besser die anderen Bilder vergessen, wenn ich ihr jetzt die Wahrheit über mich sagen würde.
Kurz stellte ich mir eine Mauer vor, hinter der ich in Deckung gehen konnte. Nach und nach einen neuen Luftballon steigen lassen mit neuen Eröffnungen und dann rasch abtauchen. Ich fürchtete nur, es würde so nicht funktionieren.
Es erinnerte mich geschichtsträchtig an den sprichwörtlichen Gang nach Canossa. Tröstender Gedanke dabei - damals war es gut ausgegangen.
Als sie fertig war, brachte ich das Tablett mit dem Geschirr wieder rein. Dann atmete ich tief durch und ging hinaus zu ihr. Sie stand in der Sonne mit geschlossenen Augen und genoss die Wärme der letzten Herbstsonnenstrahlen. Sie sah trotz allem irgendwie zufrieden aus. Ich musste sie einfach in den Arm nehmen und sie schmiegte sich automatisch an mich. Ich mochte den Duft ihrer Haare und versenkte meine Nase in der blonden Pracht.
»Wollen wir zum Bach?«, murmelte ich schließlich und ich spürte ihr Nicken mehr, als dass ich es sah.
Hand in Hand liefen wir los, ihre fragenden Blicke von der Seite ignorierte ich so lange ich konnte, aber als sie schließlich unwillig schnaubte, wenn auch nur ganz leise, drückte ich kurz ihre Hand, bevor ich sie losließ und begann, endlich mit ihr zu reden.
Ich starrte dabei auf den vor uns liegenden Weg, obwohl sie an meinen Lippen hing, aber es würde mich total aus dem Konzept bringen, wenn ich sie jetzt ansah.
»Wir wussten, dass Du es herausfinden würdest. Im Grunde war es nicht schwer. Aber schwer zu begreifen, darum will man es lange nicht sehen.« Ich sah nun doch zu ihr hinüber und sie nickte ernst.
»Du meinst, dass es die Menschen sind, die das alles verursachen?«, fragte sie.
»Ja, vor allem, weil sie nicht lernfähig sind, sondern es immer noch schlimmer machen.« Es folgte eine kleine Pause. Dann fuhr ich fort, ich wagte den Sprung.
»Wäre es nicht wünschenswert, wenn es Wesen gäbe, die das aufhalten könnten?«
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich von fragend zu belustigt.
»Du meinst sowas wie Frankensteins Monster?«
Jetzt lachte sie laut auf.
Aber als ich nicht auf ihren Scherz einging, sondern sie nur weiter fragend ansah, wurde sie blass.
»Du meinst das ernst, nicht? Gibt es solche Wesen etwa schon?«
Ich konnte sehen, wie sich ihre Gedanken überschlugen, aber noch schöpfte sie keinen Verdacht oder schlussfolgerte in die richtige Richtung. Noch war alles graue Theorie.
Aber sofort sprudelten die Fragen aus ihr heraus wie eine zum Leben erwachte Quelle.
»Was tun sie? Wo sind sie? Wie wollen sie die Menschen aufhalten? Ist das gefährlich für uns? Kann ...«
Ich blieb stehen und hielt sie an ihren Armen fest, damit sie mich ansah und mir wieder zuhörte.
»Langsam! Ich erzähle es dir. Beruhige dich.«
Ich hielt ihrem Blick stand, als ich weitersprach.
»Es gibt sie tatsächlich schon sehr lange, diese Wesen. Was sie tun? Nun, sie versuchen unauffällig, von Menschen angerichteten Schaden umzukehren. Sie leben in sehr liebevollem Einvernehmen mit ihrer Umgebung und sich selbst, sie sind gewaltfrei und harmonisch überall hier mitten unter uns. Unerkannt und mit der Aufgabe betreut, unseren Planeten noch vor den Menschen zu retten. Sie riskieren jeden Tag ihr Leben dafür, dass sie an eine bessere Welt glauben und sich insgeheim dafür einsetzen. Sie haben dafür einige wenige Hilfsmittel erhalten, die ihnen helfen sollen, ihre Aufträge erfüllen zu können. Wer guten Herzens ist, muss sie jedenfalls nicht fürchten, falls das für dich die Frage nach der Gefährlichkeit ausreichend beantwortet.«
Gespannt beobachtete ich ihr Verhalten. Der Moment der ganzen Wahrheit war fast erreicht, es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie dahinterkam.
Erst stand sie nur so da und sah mich an.
Dann wich sie ein paar Schritte zurück, ihr Blick huschte hin und her und sie wirkte, als ob sie auf der Flucht wäre und panisch nach einem Ausweg suchte. Dann aber schaute sie mich plötzlich so fest an, dass es mir fast unheimlich wurde und ich wappnete mich innerlich, denn ich ahnte die kommende Frage bereits, bevor sie ihre Lippen verließ.
»Was haben diese Wesen mit dir und mir zu tun?«
Da war es, das kluge Mädchen, die die Zusammenhänge analytisch auf den richtigen Punkt brachte, wann immer es nötig war.
Ich versuchte, den Kloß in meinem Hals hinunterzuwürgen, es misslang kläglich.
»Ich bin eines dieser Wesen«, war meine tonlose Antwort.
Sie wich weiter zurück, ich wollte mich nicht beeindrucken lassen, aber mir tat es dennoch weh, als sie verschreckt ins Straucheln geriet und auf dem Hosenboden landete.
Sie blieb sitzen und starrte ungläubig zu mir hoch, Tränen sammelten sich in ihren Augen, aber sie kämpfte sie tapfer zurück. Ich ließ ihr den Moment, die Worte sinngemäß zu verkraften und blieb genau da wo ich war. Beobachtete sie nur.
Ihre Mimik erschreckte mich zutiefst, aber ich ließ mir nichts anmerken.
Sie sah mich an, als wenn ich ihr eröffnet hätte, dass ich in Wirklichkeit drei Köpfe hätte und sie heute noch zum Abendbrot verspeisen wolle.
Dann schüttelte sie den Kopf, ehe sie mich wieder ansah.
»Was bin ich?«
Berechtigte Frage.
»Du bist ein herzensguter Mensch, Angelina. Ich denke, ich habe dir das oft genug gesagt. Es gibt für dich keinerlei Grund, vor uns Angst zu haben. Wenn du dich an unsere allererste Begegnung erinnerst, dann weißt du auch, dass zwischen uns schon immer eine besondere Beziehung bestand. Sonst hätte ich dich niemals finden können. Du hast mich sozusagen gerufen ... «
Sie stützte ihren Kopf in ihren Händen ab und saß einfach nur so da. Ich stand daneben und sah ihr dabei zu, versuchte mich, in sie hineinzuversetzen und zu verstehen, wie es jetzt in ihr aussehen konnte, aber es überstieg auch meine Fantasie.
Als sie den Kopf hob und mich ansah, erkannte ich die widerstreitenden Gefühle, als sie mich verzweifelt fragte: »Was hast du mit mir vor?«
»Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Darf ich mich zu dir setzen, oder ist es dir unangenehm?«
Ich wartete geduldig, bis sie sich überwand und zögernd nickte.
Ich setzte mich nicht direkt neben sie, sondern ließ ein wenig Abstand, aber ich wollte nicht so unbeteiligt vor ihr stehen, wenn sie da wie ein Häufchen Unglück hockte. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, aber das konnte ich vergessen. Ich musste versuchen, ihr die Unsicherheit zu nehmen, ganz behutsam. Und das würde schwer werden und ganz sicher nicht in ein paar Minuten erledigt sein. Hier ging es jetzt um ihre Zukunft und wenn sie auch noch nicht viel, schon gar nicht alles wusste, das hatte sie begriffen.
»Wo soll ich anfangen? Vielleicht bei dem unwiderstehlichen Wunsch, dich zu finden, damit ich dir die Möglichkeit einer Wahl geben kann, deine Zukunft so gut zu leben, wie es möglich ist. Ich habe, seitdem ich dich aus dem Waisenhaus mitgenommen habe, jeden Tag versucht, dich vorzubereiten. Darauf, dass du dich - bevor du erwachsen bist - entscheiden kannst, wie es für dich weitergehen kann. Es besteht die Möglichkeit, dass du als Savanto mit uns zusammenleben kannst. Das ist an bestimmte Bedingungen geknüpft, die wir nicht ändern können. Das bedeutet, du müsstest diese akzeptieren, mit allen Risiken, die damit einhergehen. Dieses mögliche Leben haben wir alle versucht, dir nahe zu bringen. Du hast bereits seit Jahren mit uns gelebt, du weißt, was dich erwarten würde. Seit ein paar Wochen weißt du nun auch, was die Alternative wäre, wenn du dich entscheidest, weiterhin als Mensch unter Menschen zu leben. Auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschen würde, dass du eine Savanto wirst - wenn du dich nach deiner ersten goldenen Schleife wirklich entscheidest, lieber ein Mensch bleiben zu wollen, werde ich alles möglich machen, um dir einen problemlosen Start zu verschaffen. Wir haben alle Möglichkeiten, um dich wieder problemlos einzugliedern. Du musst nichts vermissen, dafür können wir sorgen. Ich hoffe sehr, dass du die kommende Zeit dafür nutzen wirst, um alles reiflich abzuwägen, bevor du dich vorschnell für die eine oder andere Seite entscheidest. Mehr kann ich an dieser Stelle nicht mehr für dich tun. Du kannst weiterhin alles recherchieren, nur über diese Wesen, die Savantoj, wirst du nichts finden. Aber du kannst uns alle fragen, es werden dir bald noch mehr von uns zur Verfügung stehen, denn dein neuer Lebensabschnitt bedeutet für dich auch, dass du mit deinen persönlichen Veränderungen klarkommen musst. Aber du warst nie und wirst auch in Zukunft nie allein sein. Wir hoffen, ich ganz besonders, dass du unser Hilfsangebot nicht ablehnst. Auch wenn alles im Moment sehr viel ist für dich - wir müssen dir jetzt die Möglichkeit geben, dir ein eigenes Bild zu machen. Du kannst mir glauben, dass es uns auch nicht leicht fällt.« Es zerreißt mich jetzt schon, fügte ich in Gedanken an.
Ich war nicht sicher, ob sie die Rede überhaupt vollständig erfassen konnte.
Sie saß einfach da.
Die ohrenbetäubende Stille wollte meinen Kopf zerbersten lassen.