Sie konnte auch anders. Angelina konnte auf einmal ausgesprochen zickig reagieren. Ich hatte mich mit Sophia beraten, aber so richtig konnte ich mit ihren Ratschlägen nichts anfangen und stand schon ab und zu recht hilflos vor ihren merkwürdigen Wutanfällen. Sie hielten ja nicht lange vor, aber sie waren nervig. Sie war nervig. Musste ich mir gegenüber einfach zugeben.
Aber was jetzt in ihr vorgehen musste und welches Gefühlschaos es in ihr anrichtete, konnte ich nur erahnen. Auch wenn sie im Moment ruhig an meiner Schulter lehnte, wusste ich doch, dass jederzeit dieser kleine Vulkan wieder in ihr ausbrechen konnte und das machte mich total nervös. Zu allem Unglück spürte sie meine Unsicherheit wohl sehr deutlich. Zeitweise wirkte sie tatasächlich schon erwachsen, aber in ihren Augen sah ich ihre Verletzlichkeit, die mir mehr Sorge bereitete als alles andere.
Am liebsten hätte ich sie mit Erklärungen vollgestopft, aber das würde eher den gegenteiligen Effekt haben und überhaupt nicht weiterführen.
Ich musste mich jetzt zusammennehmen und sie beschäftigen. Sie musste erkennen, wer für die ganze Misere verantwortlich war, bevor ich ihr sagen konnte, dass sie ein Teil der Lösung sein könnte.
Wie sehr wünschte ich mir, dass ich es ihr schon sagen dürfte. Damit ich mit ihr wieder offen reden konnte. Aber würde sie mit mir jemals noch ein Wort wechseln, wenn sie erfuhr, dass sie nicht unter ganz normalen Menschen aufgewachsen war?
Ruhig, Sandro. Es bringt nichts. Es geht nur Schritt für Schritt. Das hier ist der erste gewesen, jetzt muss der zweite folgen.
Ich strich ihr sanft über ihre Haare und war dankbar, dass sie nicht vor mir zurückwich.
»Ich weiß, dass dich diese Bilder, Nachrichten, Informationen furchtbar erschreckt haben. Es ging mir nicht anders, glaub mir das bitte. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich dich schon früher und in kleinen Schritten daran geführt hätte, ich weiß es nicht. Ich denke, der Schock wäre nicht so groß gewesen. Aber an den Tatsachen hätte es nichts geändert. Ich wollte dich erst stark machen, bevor du damit konfontiert wirst. Eine Sicherheit geben, die dir hilft, damit fertig zu werden. So viel Sicherheit geben, dass du selbst darüber nachdenken kannst, was man tun kann, um diese schrecklichen Dinge enden zu lassen. Ich möchte, dass du verstehst, warum ich es getan habe. Es tut mir unendlich leid, wie sehr du gerade leidest. Ich wünschte, ich hätte einen einfacheren Weg gefunden.«
Meine Stimme war immer leiser geworden und Angelina hatte sich keinen Zentimeter von mir wegbewegt. Ich musste so hart schlucken, dass es wehtat und ich ließ den Kopf sinken. Wie schwer konnte es sein, die richtigen Worte zu finden? Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen und ich ließ es zu. Mit erstickter Stimme redete ich endlich weiter.
»Wie du dir denken kannst, ist das, was du gesehen hast, nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt so viele Brennpunkte, dass es schwer sein wird, das alles in den Griff zu bekommen. Aber es ist nicht unmöglich. Ich hoffe, dass du dahinter kommen wirst, wenn du die Problematik mit etwas Abstand betrachtest. Die Gefühle dazu unter eine Decke legst, bildlich gesprochen, und es von außen betrachtest. Schau dir alles genau an, recherchiere, wie die Konflikte zustande gekommen sind und wie sie immer grausamer fortgesetzt werden - bis heute. Schau dir an, wie unser Planet ausgebeutet wird und überlege, wie man das ändern könnte. Was müsste man tun? Denke in den Pausen darüber nach, wie man grundsätzlich Probleme löst. Wir haben in den letzten Jahre so viele Probleme gemeinsam gelöst - greife auf dein Wissen zurück und vergiss dabei deine Angst. Angst lähmt. Angst ist ein wichtiges und gutes Gefühl, auch wenn es sich paradox anhört - aber eben nur an der richtigen Stelle. Wenn sie dich beschützt, dich vor Fehlern warnt, dann ist Angst gut. Wenn du aber ein Monster siehst und läufst nicht ganz schnell weg - dann hat dich die Angst getötet, bevor sie dir helfen konnte. Erinnerst du dich, was wir als erstes immer festgelegt haben, wenn wir ein Problem gemeinsam analysiert haben?«
Sie hob den Kopf und schaute mich an.
Diese Augen!
Sie machte mich jedesmal schwach, wenn ihr Blick auf mich traf, es hatte sich nichts geändert. Ich sehnte mich danach, dass sie endlich dasselbe empfinden würde und ich hoffte inständig, dass die weitaus schwächere Variante, die den Menschen zur Verfügung stand, für unsere Liebe ausreichen würde. Ich hoffte auf ihre Aura. Aber da waren wir noch lange nicht. Ein Problem nach dem anderen angehen, Sandro, rief ich mich zur Ordnung und versank in ihren verstörten Gefühlen, die sie mir soeben mit ihrem fragenden Blick offenbarte. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, aber ich hielt stand.
Am liebsten hätte ich sie in meine Arme gezogen, geküsst und wer weiß was noch angestellt, weil meine Gefühle gerade richtig aus den Fugen geriet, als sie mir die Antwort gab, auf die ich gehofft hatte.
Wir mussten die Ursache herausfinden, bevor wir sie bekämpfen konnten! Angelina gab mir mit ihrer Schlussfolgerung die Hoffnung zurück, die ich ihr heute so grausam entzogen hatte. Langsam breitete sich in mir die Zuversicht aus, dass sie es wirklich schaffen konnte, sich aus dem Gefühlschaos wieder zu befreien. Die vielen Stunden des Lernens waren nicht umsonst gewesen, sie hatte sehr viel mitgenommen und konnte auch unter Stress, wie jetzt, darauf zurückgreifen.
Eigentlich war ich total zufrieden unter diesen Umständen, wie unser Gespräch verlaufen war, denn wir konnten mit einem vorläufigen Plan nach Hause gehen und uns an die Arbeit machen.
Aber dann kam sie auf etwas zurück, was ich vorläufig ganz weit weg geschoben hatte, weil es mit der letzte Punkt sein sollte, den ich ihr sagen wollte. Auch daran hing noch eine Eröffnung, die sie vermutlich am Ende wieder gefühlsmäßig zurückwerfen würde.
Ich stellte fest, dass mich diese ganze Situation allmählich überforderte, weil sie an meinem mühselig aufgebautem Schutzschild zerrte und zottelte. Alles drohte einzureißen. Ich fühlte mich so hilflos und schlecht, dass ich dachte, ich würde zusammenbrechen, als sie danach fragte.
Unschuldig und mit dieser Neugier im Blick, der mir eine Gänsehaut verpasste.
Sie fragte nach der roten Schleife.