Nach einer kleinen Pause, wollte sie wieder draußen spielen - und wir ließen sie. Sie hatte wohl Nachholbedarf nach unserer Reise und wir hatten jetzt wirklich Zeit, also warum nicht?
Aber schon das Essen am Abend gestaltet sich mehr als schwierig.
Ich hatte ihr lauter leckere Sachen hingestellt, aber sie weigerte sich plötzlich standhaft, irgendwas zu sich zu nehmen. Ich verstand die Welt nicht mehr.
Bisher hatte sie doch alles angebotene Essen angenommen. Auch trinken wollte sie auf einmal nicht mehr, nicht einen Schluck. Immer wieder spuckte sie es aus. Bis ich genug hatte.
Ich stand auf und holte eine kleine Nuckelflasche heraus, die ich mit Wasser füllte. Entschlossen ging ich auf sie zu und setzte sie auf meinen Schoß, Bella musste sie hergeben. Sie wehrte sich, nur hielt ich sie sanft, aber unerbittlich fest - und hielt dann Bella die Trinkflasche an den Mund.
Erstaunt verfolgte Angelina mein Tun und als ich Bella dann auch noch lobte, weil sie so gut trank, änderte sie ihre Meinung plötzlich und wollte selbst etwas zu trinken.
Sie durfte sich den Becher aussuchen und wählte einen blauen Becher.
Als sie alles ausgetrunken hatte, lobte ich auch sie und sie strahlte mich an.
Danach erklärte ich der Mama von Bella noch, wie wichtig es sei für kleine Mädchen, dass sie regelmäßig tranken. Ich wollte ihr auf die Nasenspitze stupsen, damit sie mir auch zuhörte, da zuckte sie zurück.
War sie etwa geschlagen worden?
Nachdenklich versicherte ich ihr, dass sie davor keine Angst haben müsste. Schon gar nicht vor mir.
Ich hoffte sehr, dass sie bis zum nächsten Morgen wieder zur Vernunft gekommen wäre, was das Essen betraf. Gio, der sich kurz in der Tür blicken ließ, zuckte nur mit den Schultern, als ich Angelina schließlich nach oben ins Bad schickte.
Als sie wieder runter kam, war sie immer noch unsicher und verängstigt, aber sie zog sich ganz allein aus und ihr Nachthemd an, bevor sie folgsam in das Bett schlüpfte.
Angelinas Tränenstrom begann, kaum dass sie im Bett lag. Es dauert nicht lange und sie kroch in die äußerste Ecke und versteckte sich unter der Decke. Sie schluchzte herzerreißend und laut, sie bekam kaum Luft und schniefte zwischendurch. Ich besorgte Taschentücher und legte mich neben sie.
»Angelina - komm her zu mir. Ich möchte dir die Nase putzen.«
Ich sah an den Konturen unter der Decke, dass sie den Kopf schüttelte.
»Ich heiße Marie«, ertönte erstickt unter der Decke. Ich schüttelte den Kopf.
Das sollte ich am besten sofort klarstellen, auch wenn ich hier nicht unbedingt mit einem Überraschungsbesuch rechnen musste.
»Nein. Du heißt Angelina. Das passt besser zu dir und zu mir. Du wirst dich daran gewöhnen. Jetzt komm schon unter der Decke hervor. Du möchtest doch bestimmt bald schlafen, damit wir morgen wieder spielen können - im Garten?«
Erwartungsvoll schaute ich auf die Decke, aber ich hatte den Eindruck, dass sie noch ein Stück weiter weggekrabbelt war. So würde das nichts werden. Ich seufzte. Das würde vermutlich lange dauern.
Es dauerte sehr lange.
Für meinen Geschmack endlos lange, denn ich war selbst müde, aber es half alles nichts.
Schließlich hob ich die Decke an, griff mir eines ihrer Beinchen und zog sie rasch bis zu mir ehe sie wieder flüchten konnte, dann presste ich sie an mich und legte mich auf den Rücken, sodass sie wie ein kleiner Frosch auf mir lag. Die Tränen liefen nach wie vor, darum hielt ich sie mit einer Hand sanft fest und begann, sie beruhigend zu streicheln. So wie meine Mutter mir geraten hatte.
Kleine Kinder brauchen viel Körperkontakt, hatte sie gesagt. Unterschätze nicht die Wirkung.
Die Unmenge an Geduld, die man aufbringen musste, hatte sie wohlweislich nicht erwähnt.
Es dauerte mehr als eine Stunde, bis die Tränen versiegt waren und sie eingeschlafen war. Sie war weiter nach oben gerutscht und hatte ihr Gesichtchen in meiner Halskuhle verborgen.
Vorsichtig legte ich sie neben mich, deckte sie zu und ging danach erleichtert zu Gio hinaus, der sich noch ein Getränk geholt hatte und in Seelenruhe auf mich gewartet hatte.
»Gratuliere. Erste Hürde ist geschafft«, kommentierte er grinsend. »Ich kann dir gleich noch einen Rat geben. Schaffe dir Rituale mit ihr. Je mehr desto besser. Und halte dich selbst daran. Das wird ihr Sicherheit geben. Es vereinfacht das Zusammenleben ungemein, ob es ums Einschlafen geht oder um den Tagesablauf, den man dann besser planen kann. Je mehr sie vorher weiß, was auf sie zukommt, desto besser kommt ihr miteinander klar.«
Das klang logisch.
»Ach außerdem - du solltest zum Zähne putzen mitgehen und helfen. Das können die Kleinen nicht so gut allein.«
Uff - daran hatte ich nicht gedacht.
Gio mit seiner Erfahrung hatte da bestimmt den besseren Überblick und ich war dankbar für jede Hilfestellung. Schließlich wollte ich alles richtig machen.
Wir redeten noch eine halbe Stunde, dann verzog sich Gio ins Wohnzimmer auf die Couch und ich ging ins Schlafzimmer zu Angelina. Behutsam legte ich mich auf meine Seite des Bettes, damit sie nicht aufwachte, aber bis zum Morgen blieb es ruhig.
Ich wachte auf, als ich Gio im Zimmer bemerkte, der Angelinas Schläfen behutsam berührte, um die notwendige Erweiterung des Gefühlsnetzes des Kindes zu ihrer Vergangenheit herzustellen. Anscheinend war er soeben fertig geworden, denn er richtete sich zufrieden auf und zeigte mit der Hand ins Wohnzimmer. Ich nickte und folgte ihm gleich darauf.
»Ich konnte es relativ einfach hinbekommen. Ihre Aura ist wirklich stark. Die Verbindungen sind jetzt alle positiv vernetzt, negative Gefühle werden unterdrückt von beiden Seiten. Du bist übrigens auch mit eingebunden. Du hast sie ja geholt. Vielleicht gar nicht so schlecht für euch.«
Gio zwinkerte mir zu. Ich wollte gerade antworten, da hörten wir schon die kleinen Füße tapsen, die auf die Wohnzimmertür zuhielten.
Gebannt schauten wir beide, wie die Klinke heruntergedrückt wurde und Angelina mit Bella im Arm im Türrahmen stand.
Sie gneistete, weil die Sonne sie blendete, aber dann schaute sie neugierig nach allen Seiten.
»Wie heißt du?«
Sie sah mich freundlich fragend an.
Es war nicht zu fassen!
Ich hatte ihr nicht mal meinen Namen gesagt?
»Alessandro. Ich bin Alessandro und das hier«, ich deutete auf Gio.»Das ist Giovanni, mein Freund. Und wenn du willst auch deiner.«
Sie legte ihren Zeigefinger an die Nase (was übrigens entzückend aussah) und schien zu überlegen, ob sie neue Freunde brauchte.
»Er hat dich aber anders genannt gestern - und du ihn auch. Warum sagt ihr zu mir Angelina?«
Puh - ein schlaues Kind, das sehr gut aufpasste. Da würde ich vorsichtig sein müssen. Ich lächelte sie an.
»Das hast du dir sehr gut gemerkt, Angelina. Wir nennen dich Angelina, weil das jetzt dein Name ist. Es bedeutet Engelchen in der italienischen Sprache und wir leben ja hier in Italien. Deswegen heißt du Angelina. Hast du das verstanden?«
Nach einem sprachlosen Moment ihrerseits schaltete sich jetzt Gio ein.
»Ich heiße Giovanni, aber meine Freunde nennen mich Gio. Das ist kürzer. Und Alessandro nenne ich immer Sandro. Ist auch kürzer. Was gefällt dir denn besser?«
Angelina schien darüber nachzudenken. Dann hatte sie sich entschieden.
»Sandro und Gio finde ich gut. Ich hab Hunger.«
Ein Thema abgehakt, das nächste sofort angesprochen - ein munteres Kind. Ich zwinkerte Gio zu und machte mich daran, den Tisch zu decken.
»Das müssen wir unbedingt ändern. Ich habe dir gestern neue Sachen hingelegt im Schlafzimmer. Kannst du dich schon allein anziehen, oder soll Gio dir helfen?«
»Helfen«, qietschte sie, drehte sich um und rannte zurück ins Schlafzimmer gefolgt von einem lachenden Gio.
Ich schüttelte den Kopf. So hatte ich es mir nicht vorgestellt, aber es gefiel mir ausgesprochen gut.
Auch das Frühstück gestaltete sich heute sehr entspannt, wenn man mal davon absah, dass wir Erwachsenen jeden Wunsch des Kindes von den Augen ablesen wollten und selbst kaum zum essen kamen. Aber Angelina war zufrieden.
Als sie danach wieder in den Garten durfte, war ihre kleine Welt erstmal rundum in Ordnung. Keine Frage nach Mama, keine Tränen, kein Kummer. Der Anfang war gemacht.
Als Gio sich später verabschiedete, war sie sogar ein wenig traurig, aber er versprach ihr, dass er sie bald wieder besuchen käme. Mit seiner ganzen Familie.
Wir sagten ihr nicht, dass es frühestens in vier Wochen sein würde, denn zunächst wollte ich sie an die Umgebung und unser Leben hier eingewöhnen. Ablenkung bekam sie dann noch früh genug. Ich hoffte bis dahin, dass wir dann schon als Team auftreten würden.
Während Angelina draußen spielte, setzte ich mich auf die Terrasse mit einem Notizbuch, in dem ich meine Gedanken und nächsten Ziele aufschreiben wollte.
Rituale ausdenken, die wir beide einhalten sollten, Spiele herausfinden, die sie interessierten. Außerdem gab es noch grundsätzliche Dinge, die ich ihr schnell beibringen wollte, zum Beispiel schwimmen. Vermutlich konnte sie das noch nicht oder noch nicht gut genug. Sie sollte in jedem Fall mit Wasser vertraut sein. Im Winter würden sich andere Dinge finden, die ich mit ihr anstellen konnte. Langeweile würde es bei uns kaum geben, davon war ich überzeugt. Konzentriert schrieb ich in dem Buch, ohne dabei Angelina aus den Augen zu verlieren.
Nach einer Weile, wollte die Kleine wieder etwas essen, das Wasser hatte sie auch schon ausgetrunken, also sagte ich ihr, dass wir jetzt drinnen etwas kochen würden und sie mir helfen dürfe. Sie war einverstanden und nach dem Essen legte ich sie ins Bett, damit sie einen kleinen Erholungsschlaf machen konnte.
Gio hatte mir von meiner langen Wunschliste an Büchern nur zwei mitgebracht.
Er meinte, Angelina wäre noch viel zu klein, um schon richtig wie in der Schule zu lernen. Vermutlich hatte er recht. Die beiden Bücher waren daher für mich - über Kindererziehung und Kinderkrankheiten.
Ich musste grinsen. Vermutlich würde ich ab und zu hineinschauen müssen, aber hoffentlich nicht zu häufig. Schließlich hatte ich mich schon eine Weile darauf vorbereitet.
Ich stellte die beiden Bücher ins Regal und ruhte mich für den Nachmittag noch ein wenig aus. Angelina würde mich sicher noch genug fordern heute, aber ich freute mich darauf.