Mit gen Boden gerichtetem Blick kniete Inor inmitten der riesigen Ratshalle und bot seinem Meister den wertvollen Siegespreis dar. Diesem jedoch schien entfallen zu sein, was sich in dem Samtsack von dunklem Smaragdgrün befand.
„Jetzt nimm es schon!“, raunte der Jüngling.
Unter anderen Umständen hätte sein Meister ihn gewiss absichtlich auf Knien schmoren lassen und diesen Anblick breit grinsend genossen. Heute jedoch blickte Yo mit ehrlicher Irritation fragend auf ihn herab. Was den Jüngling nach den Geschehnissen der letzten Nacht jedoch ebenso wenig verwunderte wie der sichtlich in Schieflage geratene Gemütszustand seines Ziehvaters. Allerdings hatte Inor mit weit Schlimmerem gerechnet, denn der Genuss einer Blutmahlzeit führte gemeinhin zu einer Dominanz der heißblütigen vampirischen Wurzeln im ohnehin aggressiven Charakter Yos und brachte diesen gern einmal gehörig aus dem Gleichgewicht. Verglichen mit den Erlebnissen in Nario Setonca hielt die geistige Umnachtung des Vampirelben sich dieses Mal offenbar in Grenzen. Was einerseits äußerst angenehm war, ihn andererseits aber auch skeptisch und vorsichtig stimmte. Ruhe kam bekanntlich vor dem Sturm.
Mit einem Räuspern schüttelte Inor seine abschweifenden Gedanken ab und konzentrierte sich wieder ganz auf seinen Anführer, dem seine übertriebene Ehrerweisung offenbar unangenehm war. Nur zögernd fuhr Yos Hand in den Stoff, doch sowie sie den Gegenstand darin berührte, kehrten die Erinnerungen augenscheinlich zurück. Die Gesichtszüge seines Mentors hellten sich auf und ein frohlockendes Grinsen erwuchs in dessen blassem Gesicht.
‚Na endlich!‘, dachte der Jüngling erleichtert und erhob sich schmunzelnd.
Betont langsam zog der Heerführer das in ein zweites, zinnoberrotes Samttuch eingeschlagene Schwert heraus und präsentierte es den Neun Weisen. Mit geweiteten Augen saßen die alten Herren auf ihrer Empore und beugten sich über die Brüstung, um es besser sehen zu können. Auch Inor betrachtete diese Waffe immer wieder gern, denn sie war wahrlich ein Schmuckstück und unverkennbar von eines Meisters Hand geschaffen.
Der gesamte Griff war vergoldet und mit kleinen, blutroten Rubinen besetzt. Selbst am Heft blitzten zwischen der spärlichen, schwarzen Lederwicklung kleine Edelsteine hervor. Die ebenfalls goldene, aufwärts gebogene Parierstange war schmal und mit Grifflöchern sowie feinen, eingeätzten Ornamenten versehen. Auch die Schwertscheide aus schwarzem Leder war überaus kunstvoll gestaltet und mit einem Schlangenmuster sowie viborianischen Schriftzeichen in dunklem Scharlach bestickt. Direkt unter dem Mundblech prangte unübersehbar das goldene Emblem seines einstigen Besitzers.
Ein ungläubiges Raunen ging durch die Reihen der Ältesten, als Yo es ihnen zu Angesicht drehte.
„Die Klinge Servenosas“, vernahm Inor ein bewunderndes Flüstern über seinem Kopf, konnte aber nicht ausmachen, wem es entschlüpft war.
„Unmöglich! Das kann nicht …“
Unverhohlen grinste sein Freund und Meister mehr als stolz und die rabenschwarzen Augen glänzten triumphierend.
„Oh doch. Es kann und es ist!“
Mit ruhigen Handgriffen löste er den goldenen Kordelverschluss der Scheide und zog die Klinge heraus. Stück für Stück und sehr langsam, damit jeder der Neun Weisen ausreichend Zeit hatte, alle Details zu erkennen und sich von der Echtheit des Schwertes zu überzeugen.
Die aus blau schimmerndem Metall geschmiedete, mittellange Klinge wies eine etwa zwei Hand breite Fehlschärfe auf, die es ihrem Träger ermöglichte, die Waffe kürzer zu fassen und einen kräftigen Stoß auf seinen Gegner auszuführen. Die Schneide dagegen war meisterlich scharf geschliffen und funkelte bedrohlich im einfallenden Tageslicht. Allen Anwesenden war unverkennbar, dass dieses Schwert zuletzt in einem erbitterten Kampf geführt worden war, denn an den Seiten und der Klingenspitze klebte getrocknetes Blut. Inor hatte zwar den Griff und die Scheide des befleckten Schwertes sorgsam gereinigt, es aber bewusst unterlassen, die Schneide ebenfalls zu säubern. Das Blut der Kontrahenten hatte sich in der matt schimmernden Hohlkehle gesammelt und hob den kunstvoll dort eingravierten Namen nun in einer gespenstischen Mischung aus Dunkelrot und Blauschwarz hervor: Kedra Servenosa.
„Wie … wie seid Ihr in den Besitz dieses Schwertes gelangt?“, fragte Graf Pokinoi nach kurzem Räuspern mit stockender Stimme und war sichtlich bemüht, sich seine Verblüffung nicht anmerken zu lassen.
Inor fand schon immer, dass der alte Glatzkopf mit der Hakennase und dem langen Hals etwas von einem Geyer hatte. Die krächzende Stimme, die gebeugte Gestalt und die tückisch funkelnden Augen des Weisen sowie der kleine Halskragen seines Talars rundeten dieses Bild großartig ab.
„Was glaubst du denn?“, grinste Yo süffisant und stieß dann verächtlich die Luft durch die Nase aus.
Erneut ging ein Raunen durch den Rat und beinahe meinte Inor, Ehrfurcht und Respekt in den Augen der Alten lesen zu können. Dass dies wohl kaum den Tatsachen entsprach, war ihm zwar durchaus bewusst, allerdings wäre es eine willkommene Abwechslung zu den üblichen verbalen und mimischen Giftpfeilen. Doch von rechts war im Rat noch nie Gutes, geschweige denn ein lobendes Wort gekommen. Daher wandte der Vizegeneral den Blick lieber zu den Mitgliedern links des Ehrenwerten Aanh, der väterlich lächelte. Diese Weisen blickten weitaus freundlicher drein und der einzige offene Fürsprecher seines Meisters, Freiherr Arianth, nickte gar huldvoll mit dem Kopf.
„Das kann nicht sein!“, polterte plötzlich der wohlbeleibte Baron zu Feuerborn und Liebstein los und donnerte die Faust auf die Brüstung. „Kedra Servenosa ist einer der besten Schwertkämpfer unserer Zeit, wenn nicht gar der beste überhaupt!“
„Pah!“, entfuhr es Yo trotzig und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Die bleiche Hand um das Schwert schloss sich fester und führte es zum sichtbaren Bedauern einiger Ältester energisch wieder in die Scheide zurück. „Der beste Schwertkämpfer unserer Zeit“, wiederholte sein Ziehvater raunend mit spitzer Zunge und sah ihn grimmig an. „Ha! Der Witz ist so schlecht, darüber kannst nicht einmal du lachen, was?“
Noch ehe Inor antworten und den Groll seines Anführers dämpfen konnte, fuhr der Baron mit lauter Stimme fort.
„Schon viele tapfere Männer – junge wie erfahrene – haben sich mit ihm gemessen, doch Servenosa hat sie alle besiegt. Jeder, der die Tollkühnheit besessen hatte, ihn töten zu wollen, ruht nun selbst in der dunklen Erde und sein Blut nährt den Boden, auf dem Servenosa schreitet.“
Yos Augenbrauen zuckten unwirsch und sein malmender Unterkiefer schob sich ein wenig nach vorn. Die Nase gerümpft und die Lippen leicht geöffnet schnaubte er verächtlich und knurrte wie ein Schattenwolf, dem man die Beute streitig machte.
„Dieser Mann ist schneller als das Auge, leiser als das Ohr und stärker als zehn Männer zusammen“, ergänzte der Weise mit Rauschebart und wallender Mähne in der zweiten Reihe rechts außen. War er bisher noch gar nicht in Erscheinung getreten, vollzog er nun offenkundig einen Schulterschluss mit dem Baron. „Er ist ein Schatten, ein Geist, so flüchtig und lautlos wie der Tod. Er ist ungeschlagen, gefürchtet und unbesiegbar. Er …“
„Was wollt ihr damit sagen?“, unterbrach Yo den Alten forsch, stieß die Schwertspitze mit einem hellen, klaren Ton auf dem Boden auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
Inor seufzte. In Momenten wie diesen verstand er seines Mentors Abneigung gegen die Menschen. Nicht dass Einsicht und Wahrheitstreue den bleichen Mann selbst zierten, doch Yo würde es nie in den Sinn kommen, einen Gegner zu verherrlichen oder zu einem unbezwingbaren Ungetüm zu glorifizieren, nur um sein eigenes Unvermögen zu rechtfertigen oder zu vertuschen. Menschen dagegen zeigten gemeinhin eine besondere Neigung zu eben dieser Charakterschwäche. Auf diese Weise entstanden Gerüchte, Legenden und schließlich Mythen. Und wenn man sie nur oft und lange genug vor den richtigen Leuten erzählte, glaubte auch jeder daran.
Wie bei Servenosa. Nur weil es einer Vielzahl unterschiedlichster Männer nicht gelungen war, ihn zur Strecke zu bringen, waren ihm übernatürlich anmutende Kräfte und Fähigkeiten angedichtet worden. Dabei war Servenosas Erfolgsgeheimnis etwas viel Banaleres und in Inors Augen sehr Unrühmliches gewesen.
„Was wir damit sagen wollen? Nun, ist das nicht offensichtlich?“ Mit spitzer Stimme, die seine Feindseligkeit kaum mehr zu verstecken suchte, wandte Baron zu Feuerborn und Liebstein sich nun direkt an die anderen Weisen. „Meine Brüder: Nie wäre Servenosa einem Bastard wie ihm unterlegen! Niemals! Also: Welch List, welch Tücke hat ihn in den Besitz dieses Schwertes gebracht?“
Mit anklagendem Zeigefinger deutete der Baron auf Yo, der sogleich die Fäuste ballte, sich ruckartig vom Rat abwandte, und so laut mit den Zähnen knirschte, dass Inor eine schaurige Gänsehaut auf den Armen und im Nacken bekam. Die Adern an der bleichen Stirn seines Meisters traten leicht hervor und er musste offenbar sehr an sich halten.
„Diese verdammten Vetteln wagen es tatsächlich, das Offensichtliche in Frage zu stellen und mich derart zu beleidigen?“, zischte er und seine Augen funkelten ihn aus schmalen Schlitzen an. „Die sollen lieber aufpassen, dass sie den heutigen Abend noch erleben!“
Beschwichtigend raunte der junge Adjutant seinem Anführer zu: „Ruhig Blut, Meister. Ihr steht nicht allein.“ Mit einem Nicken gen Empore versuchte er, Yo darauf aufmerksam zu machen, dass Freiherr Arianth sich erhoben und den ehrenrührigen Worten seines Ratsbruders entgegengestellt hatte. „Nicht provozieren lassen. Genau das will der Baron erreichen.“
Schnaubend verdrehte der Heerführer die Augen und blickte finster zur rechten Seite der Empore, von der zustimmendes, den Zweifler bestärkendes Raunen erklang. Seinen Unterstützer und den Ehrenwerten Aanh, der den Baron zur Mäßigung ermahnte, schien Yo dagegen nicht wahrzunehmen. Dann wandte er sich erneut ab und sah Inor mit einem Blick an, der ihm das labile Seelenleben seines Ziehvaters in Erinnerung rief und ihm größte Sorge bereitete. Mochte Yo über die letzten Sandgläser auch gefestigter erscheinen als noch bei seinem Eintreten in den Ratssaal, Inor ahnte, dass die Ereignisse der letzten Nacht tief in dessen Innerem schwelten. Und dass sie beim kleinsten Anlass aufbrechen und das Gemüt seines Mentors entgleisen lassen konnten. Doch eine kurze Handbewegung Yos, die ihm bedeutete, abzuwarten und sich nicht einzumischen, beruhigte ihn wieder. Auch die zwar kräftig rot leuchtende, doch nur wenig flackernde Aura seines Freundes zeugte davon, dass dieser seinen aufbrechenden Zorn noch im Griff hatte. Noch …
„Ihr wagt es, mich des Diebstahls zu bezichtigen?“
Laut und klar hallte die Stimme des Heermeisters durch die Halle und das Streitgespräch auf der Empore brach augenblicklich ab. Feindselig, doch gefasst blickte der dritte General den Baron direkt an und in seiner Frage schwang unverhohlen ein drohender Unterton mit. Inor betete, dass der Weise den Ernst der Lage erkannte.
„Nie und nimmer habt Ihr dieses Schwert in einem ehrlichen Kampf erworben!“
Die Antwort des Ältesten war angriffslustig, beinahe streitsüchtig, und der Jüngling konnte es nicht fassen. Gab es eine unpassendere Reaktion als diese? Wohl kaum. Und den Blicken des Ehrenwerten Aanh und einiger anderer Weisen nach zu urteilen, war er nicht der Einzige, der so dachte. Für einen kurzen Moment schloss Inor die Augen und schüttelte den Kopf. Es war nicht das erste Mal, dass der Baron oder sein Intimus Graf Pokinoi blind vor Missgunst den Konflikt mit Yo suchten und Dinge in Frage stellten, die augenscheinlich für sich sprachen. Argwöhnisch musterte der junge Mann seinen Freund und Meister daher ganz genau. Hoffentlich behielt Yo die Nerven.
„Spyka fueco! Mortha malorha! T’asphyxio tú evymal!”, fing Inor einige unterdrückte Flüche der Art, die man nicht einmal hinter vorgehaltener Hand seinem besten Freund weitergab, auf.
Doch zu seiner Überraschung geschah weiter nichts. Für einen Moment grübelte der junge Mann, warum sein Mentor so ungewohnt ruhig blieb, doch dann erinnerte er sich, dass dieser von Beginn an keinen Hehl aus seiner Verachtung für Servenosa gemacht hatte. Offenbar erachtete Yo den ehemaligen Leibwächter Aleksar Vîbors nicht wert, mehr als zwei Sätze über ihn zu verlieren.
„Er mag vielleicht ein guter Attentäter gewesen sein, aber mit Sicherheit war er kein guter Kämpfer“, stellte er daher nur trocken klar und bedachte die Ratsmitglieder mit einem verächtlichen Blick. „Und dafür gibt es auch mehr als genug Zeugen.“
Das war Inors Zeichen. Noch während sein Anführer sich missfällig von den Ältesten abwandte, ergriff er das Wort und schilderte ihnen die Geschehnisse, die Yo Valkja in den Besitz dieses sagenumwobenen Schwertes gebracht hatten.
„Nun, wie die Weisen zweifellos wissen, haben wir den Einmarsch der Viborianer erst kurz vor dem Argonas aufhalten können und es dauerte über zwei Winter, die verlorenen Städte und Dörfer in Taquoi und Diranda zurückzuerobern. Eine lange Zeit, in der wir viel über die Regenten des Zwillingsreiches und ihren Kreis enger Vertrauter gelernt haben. Wenn man es richtig anstellt, erfährt man in Spelunken, Hinterhöfen und auf Marktplätzen mehr über das Fürstenhaus als manch ein Geschichtsschreiber während seiner ganzen Studienreisen.“
Der junge Mann zwinkerte dem Rat zu, doch keiner der alten Herren reagierte.
„Wie dem auch sei: Die Viborianer pflegen ihre Legenden und Mythen. Und eine davon war die geheimnisumwitterte Gestalt des Kedra Servenosa. Offiziell mochte es sich bei diesem Mann um den Leibwächter und die rechte Hand Aleksar Vîbors gehandelt haben, doch wie so oft trog der Schein. Respektvoll und ehrfürchtig, wenngleich stets nur hinter vorgehaltener Hand, sprach das Volk über diesen Mann und neben all der Anerkennung spürte man schnell auch Angst und Unbehagen bei den Menschen, wann immer der Name Servenosa fiel. So sehr sie ihn auch bewunderten und für seine Verdienste um ihr Land und ihren Fürsten achteten, genauso sehr fürchteten sie diesen Mann, von dem niemand zu sagen wusste, woher er kam oder wie er aussah. Eine Tatsache, die stutzig macht, finden Sie nicht? Ich meine, niemand – ob Feind oder Freund – wusste das Antlitz Servenosas zu beschreiben. Kein Wunder, dass ihm der Ruf eines Schattens vorauseilte. Wenn er in Erscheinung trat, dann stets verhüllt und nur sehr selten. Doch noch etwas Anderes schürte die Furcht der einfachen Leute und hatte uns von Anfang an hellhörig gemacht.“
Inor machte eine kleine Pause und trat näher an die Empore heran, auf der die Weisen sich neugierig nach vorn beugten und mit wachen, hungrigen Augen zu ihm heruntersahen.
„Haben Sie, ehrenwerte Älteste jemals von einem offenen Zweikampf seines Leibwächters mit den auf Aleksar Vîbor angesetzten Attentätern oder gar Zeugen für einen solchen gehört? Nein? Nun, wir auch nicht. Alles, was wir in Erfahrung bringen konnten, waren Berichte über den Fund der Leichen der besiegten Kontrahenten, die manches Mal grausig zugerichtet oder absichtlich entstellt waren und gelegentlich auch zur Abschreckung und Mahnung auf dem Richtplatz zur Schau gestellt wurden. Sonderbar, nicht wahr?“
Erneut legte der Vizegeneral eine Sprechpause ein, um dem Rat die Möglichkeit zu geben, seinen Gedanken folgen, sie vielleicht sogar selbst entwickeln zu können.
„Darüber hinaus kamen offenbar nicht nur gedungene Halsabschneider, sondern hin und wieder auch politische Feinde Fürst Vîbors oder deren engste Vertraute und Familienangehörige unter mysteriösen Umständen ums Leben oder verschwanden aus heiterem Himmel spurlos. Ihr ahnt, worauf es hinausläuft?“
Wieder eine Pause. Nichts war zu hören. Kein Murmeln der Alten, die ihre ohnehin faltigen Gesichter in noch tiefere Furchen gelegt hatten und wie gebannt an seinen Lippen hingen. Lediglich das altbekannte Schnauben und Murren seines missmutigen Meisters war leise zu vernehmen. Seine eigene Stimme klang dafür umso lauter und seine Worte glasklar.
„Kedra Servenosa war nicht der überlegene Krieger, als der er von Mund zu Mund propagiert wurde. Er war nicht nur der Leibwächter Aleksar Vîbors. Nein, vielmehr war er sein persönlicher Meuchelmörder, der in Nacht und Nebel heimlich und hinterrücks die Feinde seines Herrn eliminierte! Wir haben guten Grund zu der Annahme, dass Servenosa auch für den heimtückischen mitternächtlichen Hinterhalt auf uns verantwortlich zeichnete und höchstwahrscheinlich sogar selbst daran beteiligt war.“
Plötzlich kam Bewegung in die Reihen der Weisen und noch bevor Graf Pokinoi das erste Wort sprach, wusste Inor, was der Älteste entgegnen würde.
„Ja, ich weiß, mein General und Anführer hatte die Order, Aleksar Vîbor und seine engsten Vertrauten mittels Gift töten zu lassen. Doch der Rat möge verstehen, dass dies dem Stolz eines jeden ehrbaren Kriegers widerspricht und eines Feldherrn unwürdig ist. Als solcher war mein Meister bestrebt, Servenosa zu einem offenen Duell zu zwingen und ihn vor den Augen seines Fürsten zu besiegen. Was bei der unverhofft offerierten Zusammenkunft in Aikasara dann auch erfolgreich gelang.“
Dass diese angebliche Verhandlung dem alleinigen Zweck gedient hatte, einen weiteren Anschlag auf das Leben seines Meisters zu verüben, verschwieg der Jüngling an dieser Stelle ebenso, wie er auf eine Beschreibung der blutigen Tumulte nach Servenosas Tod verzichtete.
„Und weiter?“, beugte Graf Pokinoi sich nach vorn über die Balustrade und in seinem Blick lag warnende Herausforderung.
„Was weiter?“
„War das alles, was ihr zu berichten habt?“ fragte der Graf mit spitzem Unterton und Inor begriff, dass die Weisen nach seiner ausholenden Einleitung nähere Informationen und eine ausführliche Beschreibung des Duells erwarteten.
„Nun ja, der Kampf … also … Da gibt es nicht viel zu erzählen. Der Kampf war … kurz und … heftig und … endete mit dem Tod Servenosas. Ein schneller, gebührlicher Tod von der Hand eines ehrbaren Kriegers.“
Mehr fiel dem jungen Stellvertreter nicht ein, ohne dass er Gefahr lief, Einzelheiten preiszugeben, die besser im Dunkeln blieben. Zufriedenstellend waren seine Worte jedoch augenscheinlich weder für den Grafen und Baron zu Feuerborn und Liebstein noch für einen der anderen beiden Herren rechts auf der Empore. Geräuschvoll räusperte Inor sich daher kurz und beendete seine Ausführungen mit einem Schlusssatz, der dem Ältestenrat noch einmal ihren vollumfänglichen Sieg vor Augen führen sollte.
„Wie dem auch sei, nach dieser Zusammenkunft war der Krieg vorbei, der Attentäter Servenosa gerichtet und das Hause Vîbor war besiegt.“
„Ein großer Tag für unser Land und ein großer Sieg für General Valkja“, lobte Freiherr Arianth und blickte demonstrativ zum anderen Ende der Empore. „Damit dürfte Yo Valkjas rechtmäßiger Besitz dieses Schwertes bewiesen sein.“
„… nicht überzeugt“, murmelte einer der vier Weisen auf der rechten Seite und erntete dafür fragende, teils gar entrüstete Blicke von links.
„Wie bitte? Was sagtet Ihr, verehrter Baron zu Feuerborn und Liebstein?“, hakte der Ehrenwerte Aanh fragend nach. Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte er sich seinem Ratsbruder zu und forderte diesen auf, seine Wortmeldung zu wiederholen.
„Ich sagte: Ich bin nicht überzeugt“, antwortete dieser selbstsicher und erhob sich von seinem Sitz.
Für einen Moment schloss Inor die Augen und atmete tief durch. Das durfte doch nicht wahr sein! Da tat er alles Menschenmögliche, um den Rat vor seines Meisters Zorn zu schützen, und dann das. So viel Argwohn hatte Yo, der erneut die Arme vor der Brust verschränkte und seine Augen zu schmalen Schlitzen verengte, nicht verdient.
„Was, ehrenwerter Baron, lässt Euch an den Worten dieses ehrbaren Mannes zweifeln?“, mischte sich Graf Ronesca in den Disput seiner Ratsbrüder ein, deutete dabei auf Inor und nickte ihm anerkennend zu.
„Gesunder Menschenverstand“, warf Graf Pokinoi giftig ein und sprang ebenfalls auf, bevor der Gefragte antworten konnte. „Lassen wir das Geplänkel. Wir alle kennen die Berichte, die uns glauben machen wollen, dass dieser ...“ Kurz unterbrach der Graf, wahrscheinlich um sich nicht zu einem ungebührlichen Schimpfwort, das ihm ohne Zweifel auf den Lippen lag, hinreißen zu lassen. Dann räusperte er sich und nahm den Satz wieder auf. „… dass General Valkja Kedra Servenosa binnen weniger Atemzüge derart überlegen geschlagen hat, als wäre Servenosa ein blutiger Anfänger gewesen. Dass er hernach im Alleingang drei Dutzend Wachen niedergestreckt, um nicht zu sagen regelrecht massakriert hat. Und dass er zur Vollendung selbst Fürst Aleksar Vîbor, der weithin berühmt für seine äußerst flinken und ausgezeichneten Schwertkünste ist, in kürzester Zeit besiegt und Blut spuckend auf Knien zur Kapitulation gezwungen hat. Alles Unfug, sage ich! Diese angeblichen Augenzeugenberichte sind doch allesamt gnadenlos beschönigt und verfälscht. Wer weiß, welch schändliche Taten sie verbergen? Selbst seinen Siegelring soll Fürst Vîbor ihm angeblich übermacht haben. Seinen Siegelring, meine Herren, das Geburtsrecht seines Herrscheranspruchs. Hah!“
Inor spürte, wie ihm die Wärme in die Wangen schoss. Ob aus Fremdscham auf Grund der offen zur Schau gestellten verleumderischen Bosheit des Grafen oder weil der Rat augenscheinlich über alle verschwiegenen dunklen Einzelheiten bereits unterrichtet war, wusste er nicht zu sagen. Beklommen biss der junge Mann sich auf die Lippen und sah zu Boden, während sein Meister brummende, rollende Laute von sich gab, die denen eines ausgehungerten Orços ähnelten. Inor wusste, dass Yo die ewigen Zweifel der Neun Weisen mittlerweile mehr als persönlich nahm und auch ohne Worte oder Blickkontakt konnte er dessen gewaltlüsterne Gedanken erraten. Dabei hatte er wirklich alle Hoffnung darauf gesetzt, die ganze Angelegenheit friedlich und diplomatisch lösen zu können. Und zwar bevor seinem Ziehvater der Geduldsfaden riss und sich die Nachwirkungen der letzten Nacht offenbarten.
Mit einem Mal verstummte Yos Knurren jedoch und als Inor zu ihm blickte, erhellte ein Gedanke das gewittrige Gesicht des bleichen Mannes. Verstohlen blickte sein Mentor kurz an sich herunter und prüfte offenbar seine Beinkleider. Ein Griff in die rechte Hosentasche und schon stahl sich wieder dieses selbstsichere Lächeln, das andere oftmals als überheblich oder abschätzig empfanden, auf seines Freundes Lippen.
„Da ihr sowohl an mir als auch meinem Adjutanten zweifelt, kann ich für euer Seelenheil nur hoffen, dass ihr wenigstens Aleksar Vîbor selbst Glauben schenkt!“
Die Worte des Generals unterbrachen den Disput auf der Empore. Die Alten keines Blickes würdigend machte Yo einige Schritte auf sie zu und schnippte ohne Vorwarnung einen kleinen Gegenstand in die Luft. Dann zog er sich wieder zu Inor zurück und grinste zufrieden.
„Lehn dich zurück und genieß das Schauspiel“, raunte er ihm zu und tat dies augenscheinlich selbst.
Gebannt beobachteten die Weisen das glänzende und rotierende Ding, das in einem hohen Bogen auf die Empore flog und der Ehrenwerte Aanh duckte sich leicht, damit er es nicht an den Kopf bekam. Mit einer schnellen Handbewegung griff Richter Llangmuth danach, noch ehe es im Schoß des neben ihm sitzenden Freiherrn Kharus landete, und hielt es gut sichtbar zwischen zwei Fingern vor sich hin. Überraschung und Entsetzen lagen dicht beieinander, als die übrigen Weisen erkannten, was er da in den Händen hielt.
„Hm“, murmelte der Richter und sprach dann laut, doch wie zu sich selbst. „Ein goldener, kunstvoll gestalteter Fingerreif, dessen Ringschiene eine Schlange mit einem tropfenförmigen, blutroten Rubin im geöffneten Maul ist.“
„Valaras Blut!“, rief Herzog Piivii von ganz rechts mit unterdrückter Aufregung aus und ein Raunen ging durch die Reihen des Rates.
Fachmännisch hielt der alte Richter das Schmuckstück nun gegen die einfallende Sonne und drehte es langsam hin und her. „Den Edelstein selbst ziert eine hauchdünne Gravur, die man nur im richtigen Winkel gegen das Licht erkennt und die die Buchstaben A und V, ebenfalls schlängelnd ineinander verwoben, zeigt.“
„Aleksar Vîbor“, raunte Freiherr Kharus ungläubig.
Erneut folgte geräuschvolles Murmeln, welches jedoch abrupt verstummte, als der Richter fortfuhr: „Auf der Innenseite des Ringes prangen Zeichen der altvorderen Schrift. Hm, lasst mich ihrer erinnern … Ah, ja. „Blut ist dicker als Wasser.““
„Der Leitspruch des viborianischen Fürstenhauses!“ stieß nun selbst Graf Pokinoi ehrfürchtig aus, sank in seinen Sitz zurück und wurde ganz klein.
Dieses Mal blieb das Raunen aus, denn auch der letzte der Neun Weisen hatte begriffen, was Ihnen da so lax zugeworfen worden war. Der Siegelring Aleksar Vîbors! Zeichen seiner Herrschaft, Insigne seiner Macht. Ein unumstößlicher Beweis.
‚Nun wird es keiner der Alten mehr wagen, an dir zu zweifeln, Meister‘, dachte Inor zufrieden und lächelte.
Mit großen Augen voller Erstaunen starrte ein Ratsmitglied nach dem anderen auf das symbolträchtige Schmuckstück, das nun durch ihre stummen Reihen wanderte, und betrachtete es ausgiebig. Genugtuung für den Stolz seines viel gescholtenen Anführers, wie er nur allzu deutlich in dessen Gesichtszügen lesen konnte.
Welchen Tribut der stolze Herrscher Coohs Yo damit gezollt und welcher Gefahr er sich und sein Reich damit ausgesetzt hatte, war seinem völlig unpolitischen Anführer bis heute nicht im Ansatz bewusst. Für seinen Meister war dies ein Ring wie jeder andere. Ein Schmuckstück, das er lediglich aus einem Grund behalten hatte: um sich von Zeit zu Zeit diesen Kampf in Erinnerung zu rufen, darin zu schwelgen und sich an dem Anblick des blutüberströmt vor ihm knienden Fürsten zu ergötzen. Aleksar Vîbor selbst hatte den Ring als Dankesschuld für die Schonung seines Lebens demütig in die Hände seines Bezwingers gelegt, war aber unfähig gewesen, diesem dabei in die Augen zu sehen. Ein deutlicheres Zeichen für die Kapitulation eines Regenten gab es nicht! Um die wahre Bedeutung und Macht des Ringes wusste Yo jedoch mit Sicherheit nicht.
Die Weisen dagegen schon, wie Inor schien. Ein begehrliches Glänzen erglomm in einigen der alten Augen und verriet die machthungrigen und rachsüchtigen Gedanken in ihren Köpfen.
„Ich glaube, das war keine gute Idee, Meister“, raunte er und war ehrlich um das Wohl der Bürger Coohs besorgt. Was geschah, sollte der Rat den Ring an sich nehmen und sich seine Macht zunutze machen, das wollte er sich nicht ausmalen.
„Ich weiß“, grollte Yo missmutig zurück. Offenbar war das Begehr der Ältesten derart offensichtlich, dass selbst seinem Meister allmählich dämmerte, was er da aus den Händen gegeben hatte.
„Was machen wir?“
Doch Yo antwortet nicht. Scheinbar seelenruhig sah er zu, wie der Ring weiter durch die faltigen Hände der Weisen wanderte, bis er beim Vorsitzenden angelangt war. Dann stapfte er umgehend nach vorn zur Empore, blickte den Ratssprecher unverwandt an und streckte wortlos die rechte Hand mit nach oben gedrehter Handfläche aus.
Der Ehrenwerte Aanh zögerte. Zweifelsohne war dem Neunten der Weisen sehr wohl bewusst, welche Macht dieses Schmuckstück seinem Träger verlieh. Und wie verlockend dies für die Herrschaft Lanois war. Der gutherzige Mann schien jedoch auch zu wissen, dass es sich bei diesem Ring nur untergeordnet um das Zeichen einer politischen Unterwerfung und vordergründig um den ganz persönlichen Preis für das Leben eines Menschen handelte. Blieb abzuwarten, was in seinen Augen schwerer wog.
Mehrere Augenblicke standen Yo und der Vorsprecher des Rates sich schweigend gegenüber und sahen einander nur prüfend an. Dann erhob der Ehrenwerte Aanh sich von seinem Sitz und lehnte sich leicht nach vorn.
„Die Weisen können sich darauf verlassen, dass Konsul Jooru den Tribut Coohs noch vor Einbruch des Winters nach Yara entsendet?“
„Die Delegation müsste bereits auf dem Weg sein“, log Yo, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Auch darauf, dass das Fürstenhaus persönlich an den anberaumten Friedensverhandlungen hier auf der Serçeburg teilnimmt?“
„Lŷsandro Vîbor hat seine Teilnahme eidesstattlich zugesagt.“ Wieder gelogen.
„Und Aleksar?“
„Wird meinem Ruf folgen.“
Für einen Moment bewunderte Inor die Leichtigkeit und Selbstsicherheit, mit der sein Meister ein falsches Zeugnis nach dem anderen ablegte. Ohne weitere Umschweife händigte der Ratssprecher Yo den Ring daraufhin wieder aus. Die anderen Weisen waren davon so überrascht, dass sie vor Schreck zu protestieren vergaßen. Selbst sein Anführer war für einen kurzen Moment konsterniert und blickte nur ungläubig auf das Schmuckstück, bevor er es wieder in seiner Hosentasche verschwinden ließ und stumm zu ihm zurückkehrte.