Der Spätsommerabend war noch jung, als die pralle, glutrote Sonne den fernen Horizont küsste und alles in ein unheimliches Karmin tauchte, während von Osten her dunkles Ultramarin durch den Himmel zog und ihn allmählich verfinsterte. Der Arboloro im Südosten Yaras lag bereits im Zwielicht der Schatten, wogegen sein Saum auf der nordwestlichen Seite noch rotgülden im vergehenden Tageslicht erstrahlte und eine warme, angenehme Ruhe verströmte.
Cru mochte die Machtübernahme der Nachtschatten des Abends beinahe ebenso sehr, wie er des Morgens den Siegeszug des Tageslichts liebte. Auf die Reste des Fenstersimses gestützt sog er die frischer werdende Abendluft ein und ließ seinen Blick über den Wald sowie die Gedanken schweifen. Es tat gut, wieder in seinem eigenen Refugium zu weilen. Sowie er den silbrig schimmernden See im dunklen Meer der Baumwipfel sah, verharrte er und erinnerte sich der Funken, die zwei Nächte zuvor aus dem Wasser zu ihm aufgestiegen waren. Der Sibulek lächelte versonnen. An jenem Abend hatte er das Zeichen seines Partners nicht begriffen. Hatte die Vorboten des Flächenbrandes, der über ihn hinweggefegt war, nicht erkannt. Vorsichtig strich er über den einstmals schönen Eibenholzrahmen, der unter seinen Fingerkuppen zu schwarzem Staub zerfiel, und bekam unvermittelt weiche Knie. Keuchend lehnte er sich gegen die Einfassung.
Ein kräftiger Mann mit kurzem, schwarzgelocktem Haar und einem leidlich gepflegten Stoppelbart trat hinzu. „Würd mich an Eurer Stelle nich so anlehn, General“, nuschelte er und stellte eine große lederne Arbeitstasche samt allerlei Gerätschaften unter dem verkohlten Fensterrahmen ab.
Ein tiefer Atemzug, dann richtete Cru sich wieder auf, klopfte den gräulichen Schleier von seinem weißen Hemd und reichte dem Mann die Hand. „Habt Dank, dass Ihr so schnell kommen konntet, Meister Tjorval.“
„Petyr, General. Und für Euch immer. Hab versprochn, ich steh zur Verfügung, wann immer Ihr mich braucht. Is das Mindeste, nachdem Ihr meine Glendis gerettet habt. Sie lässt Euch übrigens schön grüßn.“
„Bitte richtet Eurer Tochter meinen Dank und ebenfalls die besten Grüße aus. Ich hoffe, sie erfreut sich bester Gesundheit und treibt sich des Abends nicht mehr fernab der ausgetretenen Pfade im Arboloro herum.“
„Kein Fuß setzt sie mehr in diesn verfluchtn Teil des Walds. Und sitzt beim letztn Strahl des Tageslichts brav daheim in ihrer Kammer. Der Schreck steckt dem Mädel noch immer in Knochen, das sag ich Euch. Doch was erzähl ich und halt Euch auf? Besser, ich mach mich ans Werk, damit alles wieder seine Ordnung hat, wenn das Festgelage vorbei is.“
Cru nickte und machte dem jungen Gehilfen, der zwei Balken auf seinen schmalen Schultern durch die Kammer balancierte, Platz. Indes begann der Meister damit, die Reste des Fensterrahmens mit einer Eisenstange abzubrechen, und ließ sie dann einfach aus dem Fenster in die Tiefe fallen.
„Könnt Euch ruhig amüsiern gehn, General. Wird alles zu Eurer Zufriedenheit sein“, brummte der Zimmermann in seinen Stoppelbart hinein und schob den Heerführer dezent zur Seite.
„So wie immer, Petyr“, antwortete Cru schmunzelnd. Wie gut, dass Meister Tjorval kein Mann vieler Fragen war. „Ich … brauche nur noch einen Moment.“ Was himmelweit untertrieben war. Eigentlich brauchte er mehr als nur einen Moment. Der kurze Schlaf auf Yos viel zu harter Pritsche war zwar eine wahre Wohltat, letztlich aber viel zu kurz gewesen. Der Sibulek fühlte sich wie der Schatten seines Selbst und sein Interesse an der abendlichen Festivität hielt sich in engen Grenzen. Viel lieber hätte er sich auf seinem Bett ausgebreitet und die nächsten zwei oder drei Tage durchgeschlafen. Mindestens. Doch in seiner Kammer konnte er nicht bleiben, hier stand er nur im Weg. Und wer wusste denn, was für Dummheiten Yo wieder anstellte, sollte er seinem Partner keine Gesellschaft leisten?
So schnell es ihm möglich war, wechselte der Anführer der Weißen Wölfe das Obergewand und streifte sich noch ein lockeres Wams sowie die Paradejacke eines Generals über. Dann schickte er sich an, erneut den Weg zum Ratssaal anzutreten. „Ich bin hoffentlich gegen Mitternacht zurück, Petyr. Braucht Ihr noch etwas?“
„Kümmer mich schon“, antwortete der schwer beschäftigte Mann einsilbig. „Und macht Euch keine Sorgn: Weder die Pfeifn vom Rat noch sonst wer hat mich komm sehn und mich wird auch keiner gehn sehn.“
Der Zweite General nickte. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie unauffällig der Zimmermann war. Petyr gehörte zu dem Schlag von Menschen, die man einfach nicht wahrnahm. Ganz so, als umgäbe ihn eine Aura der Unsichtbarkeit. Er wollte gar nicht wissen, wie oft Meister Tjorval seinen Weg gekreuzt hatte, ohne dass er Notiz von ihm genommen hatte, bis er wenige Mondzyklen vor seiner Absendung nach Æhran dessen jüngste Tochter aus den Fängen eines grauen Wolfhundbastards gerettet hatte. Lebendig, doch seelisch verwundet, hatte er sie seinerzeit bei ihrem Vater zurückgelassen und sich im Stillen dafür gescholten. Schließlich hatte er sich bei ihrer Ankunft in dieser Stadt auferlegt, seine Fähigkeiten keiner Menschenseele zu offenbaren. Allein, die tödlichen Wunden des Mädchens hatten ihm keine andere Wahl gelassen, als diese Regel zu brechen und Magie zur Stillung ihrer Blutungen einzusetzen. Ein Fehltritt, den er dennoch nie bereut hatte, wiewohl die junge Frau dem Vernehmen nach von diesem Tag an zunehmend wunderlicher geworden war.
Ein letzter Schluck Wasser zur Stärkung, dann trat Cru auf den Gang hinaus und ließ den Meister seine Arbeit verrichten. Das Wegstück vor seiner Kammer lag wie zumeist im Dunkel und nur wenige Seelen verirrten sich hier herauf. Ein Stockwerk tiefer war es dagegen schon deutlich belebter und je weiter gen Südflügel er kam, desto dichter drängten die Menschen sich durch die Gänge. In der heimlichen Hoffnung auf eine stützende Schulter nahm der Sibulek den kleinen Umweg zu Forsos Kammer in Kauf. Leider vergeblich, wie er nach dreimaligem Klopfen feststellte. Sein Schüler war ausgeflogen und mit ihm sein Bruder, denn auch Inors Tür öffnete sich nicht. Resigniert seufzte Cru und trat den Gang zum Bankett allein an.
Auf halbem Wege verschnaufte er kurz und warf einen Blick aus einem der zahlreichen Fenster zum Burghof, der durch kleine und größere Lagerfeuer taghell erleuchtet war. Nach drei Jahren erstmals wiedervereint saßen die Krieger der Grünen Nebel, der Weißen Wölfe und des Roten Mondes dort unten beisammen und stießen mit Tonkrügen voll Met und Schwarzgebranntem auf ihre wohlbehaltene Heimkehr an. Es wurde gesungen, gegrölt, gelacht und so manches Abenteuer zum Besten gegeben. Mittendrin saßen die Karten- und Würfelspieler, die sich gegenseitig um ihren Sold erleichterten. Cru schüttelte den Kopf. Der Menschen Schwäche fürs Glücksspiel würde er wohl niemals verstehen. Ebenso wenig wie ihren Hang zur Doppelmoral. Denn obgleich die Hemmschwelle für unzüchtiges Verhalten bei Tageslicht so hoch wie ein Gebirge war, sank sie im vermeintlichen Schutz der Schatten nahezu ins Bodenlose. Kaum verwunderlich also, dass am Rande der Feuer und in schlecht einsehbaren Ecken des Burghofs sich zahllose forschende Hände unter Röcke und Wämser verirrten, gierige Zungen nacktes Fleisch erkundeten, und so manche Magd oder Zofe heute Nacht mit Sicherheit ihrer Jungfräulichkeit beraubt wurde. Schnaufend schüttelte Cru den Kopf, bevor seine Gedanken weiter abschweifen konnten, und setzte seinen Gang fort.
Vor dem Ratssaal hielt er kurz inne. Mit jedem Mal, das sich die Flügeltüren öffneten, schwappte eine lärmende Welle heraus und als der Sibulek widerstrebend hindurchtrat, erschlugen ihn die Klänge der Schalmeien, Lauten und Fideln fast. Für einen Moment zögerte Cru. Ob er dem Abend in seiner Verfassung überhaupt gewachsen war? Was, wenn seine Kräfte ihn plötzlich verließen und er unbemerkt in irgendeiner Ecke zusammenbrach oder unter den Tisch rutschte? Dann jedoch fasste er sich ein Herz und schritt zügig voran, bevor er weiter im Weg herumstand und dabei ein treffliches Kollisionsobjekt für all die fleißigen Mägde, Mundschenke und Küchenjungen abgab. Zielgerichtet steuerte er die mittlere der vorderen drei Marmorsäulen auf der rechten Seite an und ließ den Blick schweifen.
Der Saal hatte sich sehr verändert, war kaum mehr als Ort ihrer Berichterstattung zu erkennen. Bunte Wandteppiche schmückten den Raum zu beiden Seiten. Direkt vor ihm auf der anderen Seite prangte das überdimensionale Banner Lanois mit dem namensgebenden Margoi-Baum und den halbkreisförmig um diesen angeordneten Schutzzeichen der Hohen Mutter und des Hohen Vaters. Etwas nach unten abgesetzt hingen die Fahnen des Zwillingsreiches. Links die dem Sonnenlauf folgende Goldschlange Coohs, rechts die der Sonne entgegenlaufende Silberschlange Roocs. Cru wusste nicht zusagen warum, doch er mochte die Metaphorik der Viborianer. Jedes Banner für sich genommen, symbolisierte die Werte des Fürstenhauses und war in seiner handwerklichen Kunst beeindruckend. Doch erst, wenn man die beiden gegenläufigen Schlangenmotive übereinanderlegte, erhielt man das vollständige Bild. Erst vereint zeigte sich die wahre Stärke des Zwillingsreiches.
„Oder die wahre Schwäche“, murmelte der Sibulek und kam nicht umhin, an sich und seinen Partner zu denken. Dann seufzte er tonlos und bemühte sich, diesen Gedanken abzuschütteln.
Rechts und links der Banner des Zwillingsreiches war noch Platz für jeweils eine weitere Fahne. In weniger als einem Mondzyklus würden dort auch die Pranke des Schwarzbären über drei spitz zulaufenden Streifen auf dem Banner Æhrans sowie die mit Dreiecken, Sternen und lytischen Runen übersäte Fahne Utlays prangen. Blieb nur zu hoffen, dass die Generäle ihrer Pflicht Genüge getan hatten und nicht auch noch an den anstehenden Friedensverhandlungen teilnehmen mussten. Ein Gedanke, der Cru schnaufen ließ und die Last auf seinen Schultern erhöhte.
Schnell wandte er den Blick weg von den Bannern hin zur Mitte des Ratssaales, wo in scheinbar endloser Reihung blumengeschmückte Tafeln standen. Keiner festen Ordnung folgend saßen die Damen und Herren des Hofes und Adels am heutigen Abend zu beiden Seiten der Tische, anstatt wie sonst üblich nach Geschlechtern getrennt und aufsteigend im Rang. Hoch über ihren Köpfen hingen große, filigrane und reich verzierte Leuchter mit mehreren Armen von der Decke herab und pendelten sacht im seichten Luftstrom. Die warmen Lichter zauberten einen wilden Tanz aberhunderter Schatten in die Kreuzgewölbe der Halle.
Weiter hinten, auf den niederen Rängen der Empore, auf denen sonst die Neun Weisen thronten, waren jetzt die Musiker positioniert. Die melodiösen, festlichen Töne ihrer Instrumente schwebten über den Köpfen der Feiernden wie ein alles umhüllender, angenehm unaufdringlicher Klangteppich. Sanft verwob dieser sich mit dem appetitlichen Geruch von Gebratenem und Gesottenem, dampfenden Suppen, heimischen Vegetabilien und aromatischen Kräutern. Unvermittelt lief dem Sibulek das Wasser im Mund zusammen und er leckte sich über die Lippen. Neben dem üblichen Hafer- und Einkornbrei gab es mit Sicherheit auch die für Yara typische schwarze Zweikorngrütze. Nie hätte er sich bei ihrer Ankunft vor sechs Wintern träumen lassen, dass dieses gewürzstarke und in seiner Konsistenz und Farbe an Kindspech erinnernde Gericht zu einer seiner Leibspeisen werden würde. Und ein probates Mittel, um Yo, die Jungs und auch sonst die meisten Krieger von seinem Tisch zu vertreiben. Durchaus hilfreich, wenn man sein Mahl einmal in Ruhe allein genießen wollte.
Am Fuße der Empore befand sich quer zu den langen Tafeln ein weiterer, prunkvoll gedeckter und geschmückter Tisch von etwa zehn Mannslängen. In der Mitte thronte leicht erhöht Kãn o‘ Kaam, der junge Herrscher Lanois. Wie üblich war sein Antlitz unter einer locker sitzenden Kapuze verborgen und sein jungenhafter Körper in ein prunkvolles, die schmale Statur übertünchendes Gewand gekleidet. Das bedeckte Haupt des Regenten zierte die feingliedrige, stein-und schmucklose Krone aus mattem Gold und Silber, die ihrer Schlichtheit wegen gemeinhin auch Kindsreif genannt wurde. Wie ziemlich jeder bei Hofe hatte auch Cru das Antlitz Kãn o‘ Kaams noch nie zu Gesicht bekommen. Selbst bei seiner Ernennung zum General damals hatte er kaum mehr als die im Dunkel der Kapuze liegenden Augen des Königs, deren Farbe am ehesten mit einem warmen Lehmton zu beschreiben war, und dessen jugendliches, wohlwollendes Lächeln erkannt. Er konnte daher nur ahnen, dass der Landesherr ein junger Mann von sechszehn bis vierundzwanzig Lenzen war.
Zur Rechten des Königs saß der offenbar bestens gelaunte Ehrenwerte Aanh und sprach wie üblich dem Rotwein zu, zur Linken nahm eben die engste Vertraute, erste Beraterin und Mutter des Burgherrn, die Königmutter Kãn a‘ Maari, Platz. Für einen Moment verweilte der Blick des Sibulek auf der schlichten, doch trotz ihres fortgeschrittenen Alters anmutigen Schönheit. Gerne erinnerte er seiner vor Kriegsausbruch zahlreichen Audienzen bei ihr und der tiefgründigen Gespräche über die großen Fragen des Lebens und so manch in Vergessenheit geratene Lehre der Alten. Selten hatte er eine so weise und gütige Frau unter den Menschen getroffen. Einer jedoch fehlte in der illustren Runde der Mächtigen: Fürst Lŷsandro Vîbor, der Ehrengast. Und auch Yo hatte er bisher nicht ausfindig machen können.
‚Na, hoffentlich hat das Eine nichts mit dem Anderen zu tun.‘
Ein Klirren und Scheppern lenkte die Aufmerksamkeit des Zweiten Generals zurück zu den Tafeln in der Mitte des Saales, wo fortwährend Küchenjungen und Mundschenke zwischen den Feiernden herum sausten, um diese mit Speis und Trank zu versorgen. Dass Unfälle dabei naturgemäß nicht ausblieben, bewiesen nicht nur die zwei blonden Weinjungen, die eben inmitten der Menschenmenge ins Straucheln geraten und mit einer kräftigen Magd, die eine am Spieß gebratene Wildsau anrichtete, zusammengestoßen waren. Nein, auch das nachfolgende Mädchen geriet durch die rote Lache ins Schlittern und es krachte erneut, als sie ihr Tablett verlor. Ein buntes Durcheinander verschiedener Vegetabilien rollte nun über den Boden, mehrstimmiges Lachen hallte durch den Saal und die besudelten Bediensteten hasteten mit gesenkten Köpfen aus dem Saal. Ein Schmunzeln schlich sich auf Crus Lippen und die Heiterkeit ließ ihn seine Schwäche für einen Moment vergessen.
Aus den Augenwinkeln erregte ein vornehm gekleideter Mann, dem in gebührendem Abstand zwei Leibgarden auf Schritt und Tritt folgten, seine Aufmerksamkeit. Schon von Weitem erkannte er den leuchtenden, rostbraunen Schopf Lŷsandro Vîbors, der zielstrebig auf die Tafel Kãn o‘ Kaams zuhielt. Und wie es der Zufall wollte, hatte der Viborianer auch den dritten Heermeister im Schlepptau. Wobei letzterer sich angesichts des ganzen Trubels gleich hinter einer Säule am Rand in Deckung brachte und von dort nach irgendetwas Ausschau hielt. Oder besser irgendwem. Ein vertrautes und, viel wichtiger noch geschätztes, Gesicht in der Menge höchstwahrscheinlich. Wovon es bekanntermaßen nicht allzu viele gab.
Der Sibulek lächelte, als die ersten mürrischen Gedanken seines Gefährten ihn erreichten, und bahnte sich langsam seinen Weg Richtung Yo. Dieser wurde offenbar gerade gewahr, dass ihm statt seiner Freunde nur ungeliebte Personen aus der bunten Masse ins Auge stachen. Überhaupt schien ihm dieses nutzlose Bankett einen fetten Strich durch irgendeine Rechnung zu machen und seinen wie auch immer gearteten Plan für den morgigen Tag über den Haufen zu werfen. Irritiert stoppte der Sibulek und versuchte, tiefer in die Gedanken seines Freundes einzudringen.
‚Wie ich dieses feierwütige Menschenpack kenne, dauert dieses bescheuerte Fest die ganze Nacht über. Mist, verdammter! Eine Flucht vor Mitternacht ist unmöglich, der alte Geyer und der fette Lindwurm lassen mich nicht aus den Augen. Was heißt, dass ich vier bis sechs Sandgläser in Verzug gerate und mein kleiner Ausflug nach Burg Liebstein morgen ins Wasser fällt. Verflucht noch eins! Krepieren sollen sie, greises Pack!‘
Cru zog eine Augenbraue hoch. Yo wollte zu Burg Liebstein? Was, um alles in der Welt, führte ihn ausgerechnet zur Heimburg des Barons zu Feuerborn und Liebstein? Das ergab doch keinen Sinn. Noch ehe er sich einen Reim darauf machen konnte, erreichte ihn ein weiterer zorniger Gedanke seines Schwertbruders.
‚Allein dafür brennt ein weiterer Nachkomme des fetten Lindwurms! Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.‘
Kurz atmete der Sibulek durch, dann setzte er seinen Weg durch die Menge fort. Er hatte also wieder einmal Recht behalten. Sein Partner war im Begriff, eine Dummheit zu begehen. Bloß gut, dass Yo nicht wusste, dass er schon anwesend war, und seine Gedanken so laut in die Welt hinaus posaunte. So fand er ihn wenigstens, obgleich der Dritte General seinen Platz verlassen und er ihn inmitten des Gedränges aus den Augen verloren hatte. Suchend sah Cru sich um. Rechts von ihm befand sich die zum Tanzen freigehaltene Fläche und die Lautstärke, die hier vorn herrschte, übertönte sogar die Gedanken seines Gefährten, die ihn nur noch in Fetzen erreichten.
‚Hübsches Andenken. … gleichermaßen mit Hochmut und Dummheit gesegnet … Blasierter Lackaffe!‘
Für einen Moment schloss der zweite Heerführer die Augen, um sich auf die telepathische Verbindung zu konzentrieren. Dass dies keine gute Idee war, merkte er nur einen Augenblick später, als er angerempelt wurde und einen Ellenbogen in die Rippen bekam. Keuchend krümmte er sich, während eine spöttisch säuselnde Stimme an sein Ohr drang.
„Wenn Ihr schon steif wie ein Besen in der Gegend herumsteht, Blauhaut, dann doch bitte wenigstens mit offenen Augen.“
Noch im gleichen Moment wusste Cru, wem die zornigen Gedanken seines Gefährten eben gegolten hatten. Yakup Ezza Rodgar von Liebstein: ein Sprössling des heimisches Hochadels, genauer gesagt der, wie sein Freund so trefflich gemeint hatte, gleichermaßen mit Standesdünkel und Dummheit gesegnete Neffe des Barons zu Feuerborn und Liebstein. Das Andenken, welches Yo dem Adeligen dereinst vor Kriegsausbruch verpasst hatte, prangte noch heute unübersehbar in dessen Gesicht, denn seither stand die Nase des Mannes nicht mehr gerade und die linke Wange zierte eine breite Narbe. Den Grund für die damalige Auseinandersetzung wusste der Sibulek nicht mehr, wohl aber, dass er keinen Finger gerührt hatte, um seinen Partner davon abzuhalten.
„Hat’s Euch die Sprache verschlagen oder haben Euch die Æhraner die Zunge abgeschnitten?“
Missfällig schnaufend wandte Cru sich ab und ließ den Angetrunkenen einfach stehen. Wer dachte, dass Adel und Privilegien einhergingen mit guter Erziehung und Anstand, der wurde in Yara des Öfteren eines Besseren belehrt.
Einmal durchatmend blickte der Anführer der Weißen Wölfe sich erneut um. Er verspürte das dringende Bedürfnis einer Stütze im Rücken. Eilig schritt er an einer kleinen Männergruppe vorbei auf den nächstgelegenen Pfeiler zu, lehnte sich an und stellte einen Fuß dagegen. So war es besser. Mit flinkem Griff erleichterte er noch einen vorbeieilenden Mundschenk um einen Tonbecher, von dem er hoffte, dass er keinen Wein oder Met enthielt, denn das würde ihn mit Sicherheit auf den Boden schicken. Doch er hatte Glück und so rann ein leckerer Beerensaft seine Kehle hinunter. So langsam bekam er auch Hunger und der anhaltende köstliche Duft der Speisen stellte allmählich seine Geduld auf die Probe. Es war an der Zeit, seinen Schwertbruder zu finden, auf dass sie ihr Mahl hielten.
An Yos statt erblickte er nur unweit von sich jedoch das religiöse Oberhaupt Lanois: einen hageren, hochgeschossenen Mann mit langem, gepflegtem Weißbart und schütterem Haupthaar in fahlem Aschblond, das vereinzelt unter seiner engen Gugel hervorlugte. Wie immer trug Pater Shtarys diese bodenlange, reich verzierte Robe in grellem Feuerrot, die einem bei Tag und bei Nacht schon von Weitem unangenehm ins Auge stach. Seit ihrer Ankunft in Yara, spätestens aber seit Yos Berufung zum General, hatte der Geistliche es sich zur Lebensaufgabe gemacht, seinen Gefährten zu einem frommen Anhänger des Hohen Vaters zu bekehren. Cru selbst war davon glücklicherweise verschont geblieben, was er vor allem der Tatsache zuschrieb, dass er sich weit weniger verhaltensauffällig gab als sein Freund. Anfangs hatte der Prediger noch versucht, Yo mit Schmeicheleien und Privilegien für sich und seinen Kult zu gewinnen, doch schnell waren seine Worte harscher und sein Ton schärfer geworden. Dass der Dritte General weder zu überzeugen noch zu beeindrucken und schon gar nicht zu bekehren war, hatte das Herz des strenggläubigen Mannes zutiefst erregt. Immer leidenschaftlichere Mahnungen und gar Drohungen waren die Antwort auf die angeblich offen zur Schau gestellte Ungläubigkeit und Verwerflichkeit seines Schwertbruders gewesen. Doch erwartungsgemäß waren auch jene Apelle ungehört an Yo abgeprallt. Cru hatte damals gar den Eindruck gewonnen, dass dieser es richtiggehend genossen hatte, mit welcher Erregung und mit welchem Eifer Pater Shtarys gegen ihn gewettert hatte.
Bis zu ihrem denkwürdigen Zusammentreffen nur wenige Monde vor dem Aufbruch der drei Heere. An jenem Abend war Yo das Lachen in der Kehle stecken geblieben, als der fanatische Religionsvater ihn als sündhafte, frevlerische Kreatur gebrandmarkt und ihm jede Geißel und alle Plagen, die sein Glaube nur bot, an den Hals gewünscht hatte, sollte er sein Antlitz weiter vom Licht des Hohen Vaters ab- und der unheiligen Dunkelheit zuwenden. Es hatte Cru mehr als Besänftigung und Überzeugungsarbeit gekostet, das Leben des Predigers zu retten, und bis zum Auszug in die Schlacht hatte sein Partner ihm nie ganz verziehen, dass er ihn schlussendlich gar mit Waffengewalt davon abgehalten hatte, den Pater vor den Hohen Vater treten zu lassen.
All das hatte der Zweite General über die letzten Winter in der Schlacht völlig vergessen und wurde nun nur sehr ungern daran erinnert. Hier in Yara allerdings musste der Spießrutenlauf für Yo und damit auch für ihn unweigerlich von vorn beginnen. Ein Vergnügen, auf das er beinahe ebenso erpicht war, wie auf die ständigen Unterredungen mit dem Rat.
Bevor er diesen Gedanken weiter vertiefen konnte, wurde Cru gewahr, mit wem der Geistliche in ein angeregtes Gespräch verstrickt war und schloss die Augen. Die drei Magistraten, na klar. Wie lautete dieser Bauernspruch gleich noch? Ein Unglück kommt selten allein. Der Sibulek schüttelte den Kopf, als er bemerkte, wie Yos Gedanken sich in die seinen mischten und diese in der Stimmung seines Gefährten färbten. Was hieß, dass der Anführer des Roten Mondes nicht weit entfernt sein konnte.
Ebenfalls in unmittelbarer Nähe war scheinbar auch der Erste General. Die wohlklingend samtweiche, aber eitle Schmeichelstimme Cays erkannte er unter tausend anderen. Cru rieb sich die schmerzende rechte Schläfe. Irgendwo hier musste sein Partner stecken. Irgendwo hier musste er … Da! Rechts neben der Fahne Coohs, im Schatten der Fackeln befand sich eine Wandnische. Und dort stand er. Missgestimmt, knurrend, die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem Rücken zu allen und angestrengt das Banner seines Unterlegenen anstarrend. Der Sibulek schmunzelte. Yos Schicksal meinte es heute Abend augenscheinlich nicht gut mit ihm: seine Erzfeinde auf engstem Raum im Halbkreis um ihn herum versammelt und er ohne Fluchtmöglichkeit. Yos alleiniges Glück war, dass all seine Widersacher so beschäftigt waren, dass sie seine Anwesenheit noch nicht bemerkt hatten. Dennoch war es an der Zeit, seinem Schwertbruder da herauszuhelfen.
Mit einem freundlichen Lächeln und dem obligatorischen, respektvollen Nicken schritt er an Pater Shtarys und den Magistraten, die bis auf einen seine Geste respektvoll erwiderten, vorbei, ignorierte Cays prüfenden Seitenblick und blieb hinter dem Dritten General stehen. Er konnte nur hoffen, dass seine Statur Yo noch eine Weile vor den Blicken der Anderen verbarg. Sein Partner schien ihn nicht zu bemerken. Kein Wunder, wenn man derart konzentriert darauf war, bloß nicht wahrgenommen zu werden. Ein Grinsen verzog Crus Mundwinkel, als er sich langsam vorbeugte und den Anführer des Roten Mondes dann mit dunkler Stimme ansprach. „Du bist ja schon hier. Wie ist das denn passiert?“
Wie vom Blitz getroffen fuhr sein Gefährte zusammen. „Verdammt noch eins! Schleich dich nicht immer so an!“, fauchte er sichtbar erschrocken und knurrte mit zusammengepressten Zähnen. „Ich hasse das!“
Des Sibulek Herz hüpfte kurz vor kindischer Freude und einen Wimpernschlag lang genoss er Yos schreckhafte Reaktion, die so gar nicht zu diesem passte. Dann fragte er mit durch die Menge schweifendem Blick: „Hast du die Jungs gesehen? Als ich sie abholen wollte, war keiner mehr da.“
„Könnte daran liegen, dass du heute nicht der Schnellste bist.“
Mit zusammengekniffenen Augen sah Cru sein Gegenüber an und zog einen beleidigten Schmollmund. Das war selbst für Yos Verhältnisse unsportlich. Und so, wie sein Freund griente, wusste der das auch ganz genau. Dann aber erbläuten die bleichen Wangen doch noch.
„Nein, keine Ahnung“, sagte der Dritte General und sein Blick glitt zur Seite, „ich habe sie nicht geseh…“
„Hier seid ihr!“ Unverhofft platzten die Gesuchten lautstark dazwischen. „Verstecken sich in der dunkelsten Ecke, die sie finden konnten. Na, da können wir ja ewig suchen.“ Tadelnd schüttelte Inor den Kopf und musterte seinen Meister eingehend vom Schopf bis zur Sohle.
Forso indes zog bereits forsch an Crus Ärmel. „Los mitkommen! Man verlangt nach euch!“, befehligte der Blondschopf in ungewohnt strengem Ton und zog ihn zurück ins Gewimmel.
Dabei bemerkte der Sibulek, dass sowohl Cay als auch die Magistraten verschwunden waren. Zielstrebig hielt sein Adjutant geradewegs auf den hinteren Teil des Saales zu und je näher dieser rückte, desto mehr wünschte der Sibulek sich in sein Bett. Ein Zeremoniell war das Letzte, was er in seinem Zustand brauchte.
‚Hoffentlich schlägt Yo jetzt nicht quer.‘
Skeptisch warf der zweite Heermeister einen Blick zurück, doch zu seiner Erleichterung schien sein Schwertbruder Inor mehr oder weniger freiwillig zu folgen und ließ sich aus dem schützenden Dunkel seiner Ecke ins helle Kerzenlicht geleiten. Als Cru den Blick wieder nach vorn wandte, erkannte er zudem, wohin der Erste General und die Magistraten verschwunden waren. Nebst einer kleinen Gruppe hochrangiger Adeliger hatten sie sich nahe ihrem Regenten sowie dem viborianischen Gast Aufstellung genommen.
„Bitte nicht“, ertönte Yos unterdrücktes Stöhnen direkt hinter dem Anführer der Weißen Wölfe.
Seinem Freund war wohl eben bewusst geworden, dass nun ein hochoffizieller Akt folgte und er den getreuen, hoffähigen Heerführer, der er nicht war, mimen musste. Unwillkürlich verlangsamte der Sibulek seinen Schritt und seufzte ebenfalls. Wenn das mal nicht schief ging.
„Kopf hoch, Meister. Du packst das schon“, flüsterte Inor Yo aufmunternd zu.
Cru nickte zustimmend. Er konnte nur hoffen, dass sein Partner mitspielte, denn es war sonnenklar, dass er im Zweifelsfall kaum in der Lage war, diesen in die Schranken zu weisen.
Im nächsten Moment waren sie bei der Gruppe angelangt und Inor, der ein wesentlich besserer Schauspieler war als Yo, setzte sein wärmstes Lächeln auf. „Wir sind dann soweit, Hoheit.“
Auch der Zweite General rang sich ein hoffentlich überzeugendes Lächeln ab und reihte sich wortlos in die Aufstellung ein.
Hoheitsvoll nickte Kãn o‘ Kaam und erhob die zwar jugendliche, doch feste Stimme. „Fürst Vîbor: Wenn ich Euch nun mit meinen wichtigsten und loyalsten Untergebenen bekannt machen dürfte?“