Seit mittlerweile reichlich einem halben Sandglas lehnte der Anführer der Grünen Nebel in ein Gespräch vertieft an einer Fensteröffnung im Südflügel der Serçeburg. Sein Gegenüber, Freiherr Yorik Norwyn, war der Neffe eines guten Freundes seines Vaters und einer seiner zahlreichen Gönner. In Erwartung der bevorstehenden Zeremonie zur Ernennung des Obersten Generals war der junge Adelige bereits festlich gekleidet. Sein samtenes Gewand schimmerte in dunklem Nachtblau und war reich mit Ornamenten aus Goldfäden bestickt. Auf der rechten Brust prangte das Wappen derer von Norwyn, Skroi und Borgham in den traditionellen Farben dieses alten und weit verzweigten Geschlechtes. Um den Hals des Mannes lagen schwere Goldketten, in die Edelsteine nahezu aller Größe und Farbe eingefasst waren, und seine Hände trugen mehr Ringe als Finger, ein jeder von ihnen lichtgolden, breit und auf Hochglanz poliert.
Was war der Erste General froh, nicht in diesem Käfig zu stecken. Der Adelsspross musste etwa gleichaltrig sein, doch im Gegensatz zu ihm hatte er außer seinem hochwohlgeborenen Namen und dem geerbten Wohlstand nichts vorzuweisen. Seine Hände hatten ein Schwert noch nie im Kampf geführt, geschweige denn die Knochen eines Gegners gebrochen, seine Augen nie jenseits der Gebirgspässe im Norden oder gar in den Abgrund des Todes geblickt. Der junge Mann mit der typisch fisteligen Stimme des Hochadels kannte weder sein Potential noch seine Grenzen und hatte noch nie irgendetwas in seinem Leben geleistet, geschweige denn mit eigener Hände Arbeit erschaffen. Ein bedauernswerter Tropf gefangen in Belanglosigkeit und stolz zur Schau gestellten goldenen Ketten, der trotz seines Geburtsrechts in Wahrheit doch weit unter ihm stand. Kaum verwunderlich, dass einer wie der jemandem wie ihm Bewunderung zollte.
Wie alle seine Fürsprecher war auch dieser voll des Lobes über seine Heerführung und natürlich seinen glorreichen Sieg. Insbesondere die bei der Kapitulation ausgehandelten Zugeständnisse der Herrschaft Utlays, die der Erste General beinahe ebenso hart erkämpft hatte wie seinen militärischen Erfolg, beeindruckten den Adeligen und sicherten dem Heermeister weiterhin die Unterstützung dieser einflussreichen Familie.
„Ich danke Euch vielmals, Freiherr Norwyn“, nahm Cay Rojahn die huldigenden Worte des Mannes lächelnd an und neigte den Kopf.
Bei Menschen wie diesem blaublütigen Nichtsnutz widerstrebte ihm dies zwar von Zeit zu Zeit, doch da sein Gegenüber ihm eben seine Gefolgschaft zugesichert hatte, ließ er sich nichts anmerken. Immerhin war der junge Adelige die rechte Hand des Barons von Skroi und Borgham, welcher wiederum nicht nur der Onkel seines Gesprächspartners war, sondern zufällig auch eine beratende Position im engeren Kreis des Regenten innehatte. Stellte er sich mit dem Neffen gut, galt Selbiges für den Onkel. Beides sollte sein Schaden nicht sein. Ohnehin würde noch vor Sonnenuntergang der Adelsspross es sein, der sich vor ihm verbeugte. Und nicht nur der. Wenn er erst Oberster General war, würde ihm mit Ausnahme des Herrschers jeder ehrfurchtsvoll Respekt zollen. Jeder! Selbst der bleiche Silberschopf Yo Valkjas würde sich ihm beugen müssen. Ein Anblick, den er genießen würde wie nichts Anderes auf der Welt. Cay konnte es kaum mehr erwarten.
„Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet, verehrter Freiherr. Eine dringende Angelegenheit bedarf meiner Aufmerksamkeit. Meinen untertänigsten Dank an den Herrn Oheim und die besten Grüße an die liebreizende Frau Gemahlin.“ Mit diesen Worten und einer weiteren Verbeugung suchte der Erste General, die Unterredung zu beenden.
„Sehr wohl, General Rojahn“, antwortete der Adelige und deutete ebenfalls ein kurzes Nicken an. „Das Hause Norwyn wäre beglückt, wenn der neue Oberste General ihm die Ehre erweisen und beim abendlichen Festbankett das Glas mit ihm heben würde.“
„Die Ehre wäre ganz meinerseits“, antwortete der Anführer der Grünen Nebel und setzte sein gewinnendes Lächeln auf.
Der junge Adelsspross nahm seinen unterbrochenen Weg durch den Südflügel wieder auf und Cay wartete, bis er hinter der nächsten Biegung verschwunden war. Dann blickte er sich kurz um, ob sein Adjutant, den er vor etwa einem Sandglas ob dessen tadelnswerter Aufmachung stehenden Fußes zurückgeschickt hatte, inzwischen wieder anwesend war. Doch dieser war nirgends zu sehen, was ihm mehr als recht war. Dann konnte er die folgenden Momente voll auskosten. In freudiger Erwartung richtete der Erste General seine Aufmerksamkeit wieder auf den eigentlichen Grund seiner Anwesenheit und den Blick auf die großen Flügeltüren des Ratssaales, hinter denen die Stimmen im Laufe seiner Unterhaltung stetig lauter geworden waren. War es während einer Ratssitzung üblicherweise nur mit fest gegen das eisenbeschlagene Holz gepresstem Ohr möglich, ein leises Murmeln und Flüstern zu vernehmen, so war das zunehmend erregtere Stimmenwirrwarr heute mühelos auf dem Gang zu vernehmen. Zwar blieb ihm der Wortlaut der einzelnen Reden verborgen, doch allein die Lautstärke und der scharfe Tonfall der Wortduelle ließen erahnen, dass alles wie ehedem und zu seiner Zufriedenheit verlief. Hatte er noch den Hauch eines Zweifels an seiner Ernennung verspürt, nachdem er umfassende Kenntnis von den Ereignissen um die Zusammenkunft in Aikasara erlangt hatte, und Yo Valkja kurzzeitig als ernsthaften Konkurrenten um die angestrebte Position betrachtet, so war er sich seines Sieges nun mehr als gewiss.
Ein verstohlenes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, als der Tumult hinter verschlossenen Türen mit einem Schlag derart aufbrandende, dass die Wachen sich irritiert umdrehten. Wiederholt ertönte die mahnende Stimme des Ehrenwerten Aanh, der die Beteiligten offenbar zur Mäßigung aufrief, allem Anschein nach jedoch keinerlei Gehör fand. Cays Grinsen wurde breiter. Klang ganz so, als ob die alten Herren seinen Intimfeind jeden Moment lynchten. Oder noch besser, dieser die Selbstbeherrschung verlöre und einen der Weisen tätlich angriff. Ein Krachen und Splittern gefolgt von vielstimmigem erschrockenem Aufschrei ertönte. Zeit für seinen Auftritt.
Das Grinsen des Heermeisters verschwand und er setzte eine pikierte Miene auf, als die Wachen sich wieder zu ihm drehten. Mit einem Ruck zog er die Jacke seiner Ehrenkleidung zurecht und zupfte noch die Manschetten unter den Jackenärmeln hervor, dann schritt er auf die Saaltüren zu und bedeutete den Wachen mit fester Stimme, eintreten zu wollen.
„Ich werde erwartet.“
Gehorsam traten die beiden Männer zur Seite, drehten sich einander zu und neigten ehrfürchtig ihre Häupter. Ein letzter Kontrollgriff, dass sein grün schimmerndes Stirnband korrekt saß und der Hemdkragen aufgeschlagen war, dann legte der Erste General beide Hände an die Saaltüren. Mit einem Ruck stieß er sie auf, wobei die rechte lautstark gegen den dahinter befindlichen Steinpfeiler krachte. Augenblicklich riss der Tumult im Ratssaal ab und die Blicke aller Anwesenden flogen ihm zu.
Für einen Wimpernschlag zögerte Cay, dann straffte er seine Schultern und schritt hocherhobenen Hauptes zur Mitte des riesigen Raumes. Totenstille ließ seine Tritte deutlich erklingen und gab der ganzen Situation eine gespenstische Atmosphäre. Mit einem Blick erfasste er die Lage. Yo hatte tatsächlich die Hand gegen den Rat erhoben. Oder besser gesagt den Stock, der dem Freiherrn Kharus jetzt fehlte und dessen Überreste in einer Ecke hinter ihm lagen. Bestens.
In gebührendem Abstand hielt er kurz inne und verbeugte sich ehrfürchtig vor den verstummten Weisen, dann setzte er seinen Weg fort und näherte sich weiter der Versammlung. Seinen Blick hielt er dabei fest auf die Empore gerichtet und verzog keine Miene. Nicht ohne Genugtuung gewahrte er die teils hoch erregten Gesichter der Ratsmitglieder und die ausgebrochene Stelle in der Brüstung vor dem Grafen Pokinoi. Yos Schlag musste von ordentlicher Wucht und Wut gewesen sein.
„Ah, General Rojahn!“, stieß der Ratssprecher erfreut aus und begrüßte ihn wohl mit Absicht besonders laut. „Wie schön, Euch zu sehen! Ihr seid überaus pünktlich, Heermeister. Sehr löblich.“
Cay las dem Vorsitzenden an der Nasenspitze ab, wie erleichtert dieser über sein Erscheinen und die mehr als willkommene Unterbrechung war. Augenscheinlich war dem Ehrenwerten Aanh die Kontrolle über den Rat und die Sitzung aus den Händen geglitten. Das erste Mal, soweit der Anführer der Grünen Nebel sich erinnern konnte, doch eines Tages hatte es ja so kommen müssen. Sein Glück, dass dieser Tag genau heute war.
Lächelnd verneigte der erste Heerführer sich ein weiteres Mal pflichtgemäß. „Seid bedankt, verehrter Vorsitzender. Ich hoffe, ich bin nicht gar zu früh? Mir scheint, ich habe die ehrenwerten Weisen vermessenerweise in einem wichtigen Disput unterbrochen. Bitte verzeiht!“
„Nein, nein, General Rojahn, überhaupt nicht!“, winkte der Ehrenwerte Aanh sofort beschwichtigend ab und ihn noch näher heran. „Tretet doch bitte näher.“
Das ließ Cay sich nicht zweimal sagen und marschierte forschen Schrittes direkt zwischen die Fronten der Kontrahenten.
„Wir sind ohnehin gerade mit General Valkjas Berichterstattung fertig“, hob der Vorsitzende erneut an, „und woll…“
„Nein, das sind wir ganz und gar nicht, ehrenwerter Vorsitzender!“, fiel ihm Baron zu Feuerborn und Liebstein augenblicklich ins Wort.
Auch Graf Pokinoi und Freiherr Kharus erhoben energisch Einspruch und ein Disput um die Person des Dritten Generals entbrannte. Cay lachte in sich hinein. Der gute alte Pokinoi und sein Intimus waren doch immer wieder verlässliche Kampfhähne und liefen zur Hochform auf, wenn es darum ging, eine unliebsame Person zu verunglimpfen und Zwietracht zu säen. Mit Sicherheit hatten sie seinem ewigen Rivalen ordentlich zugesetzt und ihren Teil zu der Schramme in der Brüstung beigetragen. Wie man es allerdings schaffte, nach siegreicher Heimkehr und in dieser Kürze der Zeit nicht nur diese zwei Ältesten, sondern den gesamten Rat derart gegen sich und vor allem gegeneinander aufzubringen, war dem Ersten General ein Rätsel. Dieses unrühmliche Kunststück brachte wohl einzig Yo fertig.
Binnen weniger Atemzüge brachen die Weisen in wortreiche Diskussionen über die angemessene Bestrafung für die ruchlosen Taten des dritten Heerführers aus, wobei die Vorschläge vom sofortigen Entzug des Kommandos über körperliche Züchtigung bis hin zu öffentlicher Auspeitschung reichten. Obgleich er Letzteres durchaus für überzogen hielt, kämen die ersten beiden Strafen Cay mehr als gelegen. Und wenn er Glück hatte, legte der Rat die Urteilsbemessung infolge der herrschenden Uneinigkeit vielleicht sogar in die Hände des zukünftigen Obersten Generals. Seine Hände. Wieder grinste Cay in sich hinein. Er wüsste schon um eine Strafe, die seinen Lieblingsfeind versehren würde, ohne diesen allzu öffentlich bloßzustellen.
Im Augenwinkel gewahrte er, dass der Anführer des Roten Mondes sich ungeachtet des für diesen durchaus heiklen Themas überraschenderweise nicht an der Debatte beteiligte. Stattdessen zog der bleiche Mann sich Stück für Stück zurück und beobachtete ihn mit finsterem Blick aus zu Schlitzen verengten Augen. Ein altbekanntes Bild, das Cay über die letzten drei Winter richtig vermisst hatte. Das Spitzohr schrie geradezu nach seiner Aufmerksamkeit, doch einen kleinen Moment würde es sich noch gedulden müssen.
„Ehrenwerter Aanh, wenn ich ungelegen komme … Soll ich …?“, wandte der Erste General das Wort an den sichtlich überforderten Vorsitzenden, kam aber nicht gegen das Durcheinander auf der Empore an.
Vorgeblich pikiert dreinschauend wandte er sich ab und ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Die Ältesten waren in ihrer Meinungsverschiedenheit gefangen und er frei ihrer Aufmerksamkeit. Gut. Zeit, sein eigentliches Ziel ins Visier zu nehmen. Wenn Yo sich nicht von Grund auf geändert hatte, was er schwer bezweifelte, sollte es ihm ein Leichtes sein, seinen Kontrahenten mit wenigen Worten und kleinen Gesten zielsicher zur Weißglut zu treiben. Das passende Thema hatte er bereits zur Hand. Nur um diesen lästigen Jüngling, der ihm immer wieder einen Strich durch die Rechnung machte und auf seinen streitbaren Meister achthatte wie eine Glucke auf ihr Küken, würde er sich kümmern müssen.
„Willkommen daheim“, begrüßte er Inor Kívíako freundlich und reichte diesem die Hand. „Schön, dich den Berichten um deine schlimme Verwundung zum Trotz in guter Verfassung vorzufinden, Junge.“
Skeptisch blickte der Braunhaarige ihn an und schlug nur zögerlich ein. „Danke“, nuschelte der junge Mann irritiert und maß ihn mit seinen Blicken. „Und Glückwunsch meinerseits zur unversehrten Heimkehr.“
„Tja, ich weiß halt, auf mich aufzupassen, Kleiner“, raunte Cay dem dritten Vizegeneral augenzwinkernd zu, dann bedeutete er ihm mit einem Nicken, sich zu entfernen.
Zögernd und nur widerwillig beugte der Jüngling sich den Gepflogenheiten und folgte seiner wortlosen Aufforderung, hütete sich jedoch, den Abstand zu seinem Anführer allzu groß werden zu lassen. Dem ersten Heermeister sollte das recht sein. Er gesellte sich neben den Dritten General, der an einer Marmorsäule lehnte, und verschränkte wie dieser die Arme vor der Brust. Zwei, drei Augenblicke vergingen und Cay wog verschiedene Strategien zur Eröffnung seines Schachzuges gegeneinander ab. Bei einem Gegner wie Yo konnte bereits der erste Schritt über Gelingen oder Missglücken einer List entscheiden.
„Na, Blässling, was hast du dieses Mal ausgefressen, dass die alten Herren derart aus dem Häuschen sind und ihre gute Kinderstube vergessen?“, fragte er in spöttischem Tonfall, ohne den Angesprochenen direkt anzusehen, nachdem er beschlossen hatte, seinen Lieblingsfeind erst einmal ein wenig zu drangsalieren. Ein bisschen Spaß musste schließlich sein.
Unwillkürlich zog der andere Heerführer scharf die Luft ein und ein feindseliges Knurren entstand in dessen Kehle. Cay wusste nur zu gut warum. Yo hasste es, wenn er ihn so nannte. Was wiederum der Grund war, weshalb er es so gern tat. Der Anführer des Roten Mondes reagierte seit jeher äußerst gereizt, wenn er ihn Blässling oder wahlweise auch Bleichling nannte. Ganz abgesehen davon, dass er mit diesen Bezeichnungen gezielt auf das leicht zu übersehende nichtmenschliche Wesen seines Rivalen anspielte, lag das wohl nicht zuletzt daran, dass sie einen nahezu identischen Klang wie Schwächling und Weichling hatten.
„Was weiß ich, die regen sich doch über alles auf“, antwortete sein Kontrahent schulterzuckend.
Ohne den Kopf sichtbar zu wenden, schielte Cay zu dem bleichen Mann und ein weiteres süffisantes Lächeln huschte über seine Lippen. Kein Zweifel, sein Eröffnungszug war geglückt. Er würde den Sieg davontragen. Yo mochte Gelassenheit vorschützen, doch es war offensichtlich, dass er seinen Groll nur mit Mühe hinunterschlucken konnte. Zudem hatte der Stolz des bleichen Spitzohrs Kränkungen wie diese noch nie auf sich sitzen lassen können.
„Und, wieder einmal gegen die Etikette verstoßen und eine Rüge ob deiner Kleiderordnung bekommen?“, stichelte Cay daher gezielt weiter.
Genervt rollte Yo mit den Augen und knirschte laut mit den Zähnen. Dann wischte er sich getrocknetes Blut aus dem Augenwinkel und wandte ihm das Gesicht zu.
„Was willst du, Cay? Schon wieder auf der Suche nach Ärger?“
„Na ja, bei deinem Aufzug auch kein Wunder“, ignorierte der Erste General die unterschwellige Drohung und musterte seinen Rivalen von oben bis unten.
Yo sah wirklich abgerissen aus. Absolut kein Vergleich zu seiner makellosen Erscheinung. Während er gewaschen, rasiert und ordentlich frisiert war, vorschriftsmäßig seine gesäuberte und geplättete Ehrenkleidung trug und insgesamt einen äußerst gepflegten Eindruck machte, war bei dem anderen Heermeister genau das Gegenteil der Fall. Gesicht und Hemd des Bleichlings waren blutbesudelt, seine Aufmachung liederlich, von seiner Ehrenkleidung keine Spur, die silbernen Haare unfrisiert und ob er in den letzten Tagen in Kontakt mit Wasser gekommen war, stand ebenfalls ernsthaft zu bezweifeln. Pikiert rümpfte Cay die Nase, bevor er in bestem Plauderton die nächste, scheinbar belanglose Frage stellte.
„Du hast heute Morgen nicht viel Zeit zum Anziehen gehabt, was?“
Irritiert sah sein Gegner ihn an und zog die gespaltenen Augenbrauen tief zur Nasenwurzel. „Ja und? Ich springe eben nicht wie du Schönling beim ersten Schrei des Gragals auf und verbringe den ganzen Morgen vor dem Spiegel!“
Die erfreulich gereizte Antwort des Dritten Generals verriet, dass dieser noch immer so geladen von dem vorangegangenen Wortgefecht mit dem Rat war, dass er Cays Anspielung keineswegs verstanden hatte. Prima. Der Adjutant des Spitzohrs schien dafür leider umso besser zu verstehen. Warnend warf er ihm böse Blicke zu und gebot ihm mit eindeutigen Handzeichen Einhalt. Hätten die Umstände es erlaubt, wäre Inor wohl liebend gern eingeschritten. Doch da dem Jüngling zweifelsohne bewusst war, dass er ihm damit einerseits in die Hände spielte und er sich andererseits als Rangniederer aus den Streitigkeiten zwischen Heermeistern rauszuhalten hatte, solange kein Blut floss oder die Schlagkraft des Landes gefährdet war, blieb diesem nichts Anderes übrig, als sie weiter aus gebührender Entfernung zu beobachten. Prompt zuckte erneut ein schelmisches Grinsen um Cays Mundwinkel und er schlug des Jungen Aufforderung ebenso deutlich aus. Die Sache ließ sich gut an. Zeit, nachzusetzen.
„Sag mal, ist das überhaupt dein Hemd?“
Schnaufend blickte Yo an sich herunter und schlagartig änderte sich der Gesichtsausdruck seines Intimfeindes. Für einen Wimpernschlag meinte Cay, einen höllischen Schrecken in den Augen des anderen Heermeisters zu sehen. Die Hautfarbe schien noch einen Tick blasser zu werden und die Wangen überhauchte ein bläulicher Schimmer. Yos Nackenhärchen stellten sich sichtbar auf und unbeholfen zupfte er das schief hängende Oberteil zurecht. Wie ein verlegener Frischling nestelte der Anführer des Roten Mondes an den offenen Manschetten herum.
„Nein! Sieht man doch wohl“, gab sein Kontrahent patzig zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, wobei er nicht halb so souverän wirkte wie sonst. „Ich habe es mir geborgt.“
„Ach so“, antwortete Cay vorgeblich verstehend, doch mit zweifelndem Unterton, und nickte nachsichtig. Geborgt. Ja, klar. Wer es glaubte.
„Sonst noch Fragen?“, entfuhr es dem Dritten General nur einen Wimpernschlag später unbedacht.
Ohne dass er es verhindern konnte, stahl sich erneut ein spöttisches Lächeln auf Cays Lippen und er zog amüsiert die Augenbrauen hoch. Eine bessere Einladung hatte Yo ihm nicht bieten können! Und obgleich das Spitzohr sich dessen mit Sicherheit noch nicht einmal gewahr wurde, so nahm er sie ohne Frage selbstverständlich an. Umso mehr, da der unvermindert lautstarke Streit der Neun Weisen seinen Lieblingsfeind immer wieder ablenkte und dessen Adjutant zwischenzeitlich zum Fuße der Empore geeilt und nun damit beschäftigt war, gemeinsam mit dem Ehrenwerten Aanh die übrigen Ratsbrüder zu besänftigen.
„Nun, wenn du mich so fragst, Bleichling“, zog Cay die Aufmerksamkeit des anderen Heerführers mit einer Kunstpause wieder auf sich und fuhr dann neugierig fort. „Von wem hast du es denn?“
„Was geht dich das an?“
Bedrohlich funkelten Yos Augen ihn an und sein Gegenüber schnaubte verächtlich. Dann wandte er sich völlig unerwartet und sehr zu seinem Missfallen von ihm ab und hielt die Sache wohl für erledigt. Doch nicht mit ihm! So einfach kam der Blässling ihm nicht davon.
Gerade, da Yo sich von der Säule löste und einen Fuß nach vorn setzte, hakte Cay mit betont anzüglichem Tonfall nach. „Warst du die ganze Nacht bei ihm?“
Augenblicklich erstarrte sein Erzfeind in der Bewegung und die bleichen Gesichtszüge entglitten. „Was?“
‚Erwischt!‘, dachte Cay und grinste triumphierend. ‚Sieh einer an.‘ Er musste gestehen, damit hatte er nicht gerechnet. Das eröffnete völlig neue Möglichkeiten.
Noch im selben Moment schien Yo zu begreifen, dass er sich verraten hatte, und das Blut schoss ihm sichtbar in die Wangen. Bevor sein Rivale reagieren und die Situation womöglich noch retten konnte, setzte der Erste General erneut nach.
„Du hattest es heute Morgen ziemlich eilig, seine Kammer zu verlassen“, konstatierte er in einem Ton, der nicht annähernd so belanglos war, wie er klang.
Langsam schritt er dabei ganz dicht um den wie vom Donner gerührten Anführer des Roten Mondes herum, musterte ihn mit prüfendem Blick von oben bis unten und wartete gespannt auf Yos Reaktion. Doch dieser griff ihn weder an, noch verteidigte er sich. Mit gesenktem Blick stand der andere Heermeister einfach nur da und erwiderte nichts. Cay konnte den Kloß im Hals seines Gegenübers förmlich sehen und die Anspannung in dem knabenhaften Körper spüren. Hinter den geweiteten Augen des Spitzohrs meinte er gar, dessen Gedanken sich heillos überstürzen zu sehen, und sein Grinsen wurde feister. Allem Anschein nach hatten seine Worte Yo vom Thron der Selbstsicherheit gestoßen. Der Bleichling schien in einer Art Schockzustand gefangen zu sein. Wenn das kein Volltreffer war, dann wusste Cay auch nicht.
Gerade da er sein Gegenüber halb umrundet hatte, berührte er ihn mit dem Zeigefinger an der Schulter und strich nach vorn zu dessen Schlüsselbein. Instinktiv wich Yo zurück und ballte die Fäuste. Seinen Blick zu erwidern, wagte der Blässling nicht. Ungewohnt, doch Cay könnte sich daran gewöhnen.
„Du hättest mich beinahe über den Haufen gerannt, so kopflos warst du“, flüsterte er seinem Intimfeind verschwörerisch ins Ohr und Yos Augen weiteten sich noch ein kleines Stück mehr. „Ja, ich habe dich gesehen, Spitzohr“, beantwortete er die unausgesprochene Frage des Dritten Generals zischend und genoss den Anblick aufbrechender Panik in den Gesichtszügen seines Rivalen.
Wie ein Sterbensbanger auf der Flucht vor einer Horde blutrünstiger Mônios war Yo Valkja vor mehr als drei Sandgläsern aus der Kammer des Zweiten Generals gestürmt. Wäre Cay nicht ausgewichen und geistesgegenwärtig zur Seite gesprungen, hätte sein Kontrahent ihn nicht nur an der Schulter touchiert, sondern garantiert an die Brüstung oder vielleicht sogar darüber hinweg gestoßen. Seinem erbosten Rufen war keine Reaktion gefolgt, ganz so als hatte der andere Heerführer ihren Zusammenprall nicht bemerkt. Folgerichtig war er dem Anführer des Roten Mondes gefolgt. Oder besser gesagt der Spur der Empörung, die seine wilde Hatz allerorten verursacht hatte. Wie war er erstaunt und gleichsam schadenfroh gewesen, dass Yo ausgerechnet dem Rat der Neun Weisen in die Arme gelaufen und von diesem umgehend in den großen Saal zitiert worden war. Das nannte man dann wohl Ironie des Schicksals. Oder eben Gerechtigkeit.
Die ganze Nacht hatte das Spitzohr die Burgwachen und Kammerdienerinnen auf Trab gehalten. Alles, von der Zinne bis zum Kerker, hatten sie auf der Suche nach ihm durchkämmt und nicht Wenige in ihrer wohlverdienten Nachtruhe gestört. Cay eingeschlossen, was ihm ein süßes Schäferstündchen mit einer seiner glühendsten Verehrerinnen verleidet hatte. Doch nirgends war der Bleichling aufzutreiben gewesen. Kein Zweifel, der Anführer der Weißen Wölfe musste ihn gedeckt haben. Schließlich waren die beiden so etwas wie beste Freunde und Vertraute. Dabei hatte Cru Kanîja mit Sicherheit ebenso wie er selbst vom Ältestenrat die Order erhalten, den Dritten General umgehend zu den Weisen zu geleiten, sollte er auf ihn treffen. Dass das blauhäutige Langohr den Gesuchten stattdessen die ganze Nacht empfangen hatte, kam einer direkten Befehlsverweigerung gleich. Gut zu wissen. Diese Information würde ihm sicher noch nützlich sein.
Mit einem Mal zog der Anführer der Grünen Nebel die Stirn kraus und verengte die Augen zu Schlitzen. Irgendetwas passte nicht in das Bild, das sich ihm gerade zeichnete. Wenn Yo wirklich die ganze Nacht mit dessen Schwertbruder verbracht und ein zünftiges Wiedersehen der Berichterstattung vor dem Rat vorgezogen hatte, was Cay durchaus verstehen konnte, warum sah sein Intimfeind dann so erbärmlich und mitgenommen aus? Fast so, als hätten er und Cru Kanîja sich nicht mit Handschlag, sondern mit Fausthieben begrüßt. Cays Blick streifte die Bauchwunde seines Gegenübers, dann erneut die Schadstelle in der Brüstung der Empore und ein Gedanke erhellte seine Gesichtszüge.
Sie mussten miteinander gekämpft haben, diese so genannten Freunde. Belustigt schnaufte der erste Heermeister und schüttelte unmerklich den Kopf. Anstatt sein Wiedersehen mit dem Sibulek wie ein ordentlicher Krieger bei einem zünftigen Zechgelage oder beim Schmaus am Lagerfeuer zu begießen, hatte Yo wohl lieber eine handfeste Prügelei mit eben diesem angezettelt. Und dabei allem Anschein nach gewaltig den Kürzeren gezogen. Kaum zu fassen, aber offensichtlich wahr. Hah, der Tag wurde immer besser! Und er hatte die ganze Zeit angenommen, dass der Blässling sich heute Morgen auf der Flucht vor den Ältesten befunden hatte …
„So fluchtartig, wie du aus der Kammer gestürmt bist, könnte man fast glauben, du bist vor irgendetwas davongelaufen“, bohrte der Anführer der Grünen Nebel seine Erkenntnis nutzend weiter nach. „Oder … irgendjemandem …“
Augenblicklich spannten die Muskeln von Yos Unterarmen sich an und dieser presste die Kiefer fest aufeinander. Cay konnte sich sein Lachen nur mit Mühe verkneifen und zog spöttisch die Augenbrauen hoch. Er wäre zu gerne dabei gewesen, als nicht nur der Körper, sondern ohne Zweifel auch der Stolz seines Rivalen eine ordentliche Schramme von der Hand des Sibulek bekommen hatte. Cru musste ihn ziemlich hart rangenommen haben, so durch den Wind wie Yo selbst jetzt noch war.
„Noch dazu hattest du fast nichts an.“ Seine Stimme war jetzt nur noch ein anzügliches Flüstern.
Beschämt senkte Yo das Haupt, biss sich auf die Lippen und die bläuliche Färbung der bleichen Wangen nahm zu. Cay wusste, dass er gewonnen hatte. Er hatte den Finger augenscheinlich mitten in die Wunde gelegt, wenngleich er im Grunde völlig unwissend war, was genau zwischen den beiden Männern vorgefallen war. Eine Situation, die absolut unbefriedigend für ihn war. Ebenso wie die Tatsache, dass sein erklärter Lieblingsfeind heute so befremdlich beherrscht und nicht so einfach aus der Reserve zu locken war. Dabei traten die Adern auf den wie blutleer wirkenden Handrücken seines Gegenübers so deutlich hervor, dass sie womöglich aufplatzten, sollte dieser die Fäuste noch ein wenig stärker ballen. Der Erste General wusste, dass es sicherlich klüger war, die nächste Frage, die ihm auf der Zunge lag, nicht zu stellen. Doch der boshafte Schalk in seinem Nacken war stärker.
„Was war denn?“
Blitzartig riss der Anführer des Roten Mondes sich aus der Schockstarre und noch ehe Cay sich besann, flog Yos geballte Schlaghand auf ihn zu.