Lara lief, laut vor sich hin weinend, immer weiter und hörte nicht mehr auf die Rufe ihrer Grosseltern. Sie konnte einfach nicht begreifen, wie die beiden solch schreckliche Dinge sagen konnten und wie wenig sie doch verstanden. Besonders ihre Oma war doch schon selbst mit ihr in der anderen Welt gewesen. Sie hatte Mama und Papa mit eigenen Augen gesehen und nun behauptete sie, dass es vielleicht nur ein Traum gewesen sei. Dabei wusste Lara ganz sicher, dass es nicht so war. Ihre Eltern waren noch immer bei ihr. Es waren nicht nur Träume, die sie da erlebte. Wie hatte ihre Mama einst gesagt: „Träume sind nicht weit weg vom Wachen, doch sie ermöglichen uns einen Zugang in andere Dimensionen.“
Lara war nun schon mehrmals in dieser anderen Dimension gewesen. Auch wenn sie es nicht wirklich erklären, manchmal selbst nicht wirklich verstehen konnte. Sie wusste einfach, dass diese Erlebnisse real waren und dass sie, wenn sie schlief, dorthin reisen konnte. Warum hätte sie auf all das verzichten sollen? Warum hätte sie auf die einzige Möglichkeit verzichten sollen, ihren Eltern, bis über den Tod hinaus, so nahe zu sein?
Schliesslich hatte sie den Bauernhof ihrer Grosseltern erreicht. Sie musste unbedingt an die Wärme, denn sie war schon ziemlich unterkühlt. Aber sie würde heute kein Wort mehr mit Oma und Opa sprechen, das schwor sie sich. Sie lief in ihr Zimmer. Dort zog sie schnell ihren Pyjama über, putzte die Zähne und wusch ihre Hände, dann schloss sie die Schlafzimmertüre hinter sich ab.
Kurz darauf, hörte sie ihre Grosseltern nach ihr rufen: „Lara, Lara! Bist du da?“
Sie antwortete nicht und vergrub sich ganz tief unter ihrer Bettdecke. Als es an ihre Tür klopfte, rief sie nur: „Geht weg! Ich will nicht mit euch reden.“
„Ach mein Schatz!“ vernahm sie die flehende Stimme ihrer Oma. „Sei doch nicht so! Wir… haben es doch nicht so gemeint! Bitte, lass uns doch nochmals darüber reden!“
„Nein!“ rief das Mädchen mit wütendem Trotz. „Ich will heute nicht mehr mit euch reden! Lasst mich in Ruhe!“
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann hörte Lara ihre Oma seufzen: „Aber dann reden wir wenigstens Morgen, okay?“
„Okay, wenn es unbedingt sein muss,“ gab das Kind resigniert zurück.
„Okay… dann schlaf gut und… bitte sei nicht mehr böse auf uns…“
Nun hatte Lara schon fast wieder eine schlechtes Gewissen. Dennoch fühlte sie sich gerade ausserstande sich mit ihren Grosseltern zu unterhalten. Denn diese hatten sie zutiefst enttäuscht, besonders ihre Oma. So drehte sie sich noch einige Male unruhig in ihrem Bett hin und her und schliesslich schlief sie wieder ein.
„Lara, Lara!“ vernahm sie gleich darauf die Stimme ihrer Mutter. „Wie geht es dir?“
„Eigentlich ganz gut. Ich hatte anfangs noch etwas Kopf- und Rückenschmerzen, von meinem Sturz. Doch es ist schon viel besser. Aber ich habe mit Oma und Opa gestritten.“
„Ihr habt gestritten?“ Mina stand nun auf einmal vor ihr und setzte sich an ihren Bettrand.
Nein! Das war kein Traum! Ganz bestimmt war das kein Traum!
Traurig schmiegte sich Lara in die Arme ihrer Mama und nun musste sie auf einmal wieder weinen. Schluchzend berichtete sie alles, was sich zugetragen hatte.
Mina wiegte sie mitfühlend hin und her und streichelte dabei sanft das Haar ihrer Tochter, wie sie es früher schon immer getan hatte.
„Du darfst Oma und Opa deswegen nicht so böse sein, mein Schatz,“ sprach sie. „Erwachsene haben oft eine andere Art, mit ihrer Schmerz und ihrer Trauer umzugehen. Du musst wissen, je älter man wird, desto schwieriger wird es manchmal, noch an Wunder zu glauben.
In einigen Bereichen haben sie ja auch nicht unrecht. Irgendwann wirst du Papa und mich tatsächlich mehr loslassen müssen. Denn auch wenn wir stets bei dir sein werden, werden wir es nicht immer auf dieselbe intensive Weise sein, wie bisher. Wir möchten, dass du deinen Schmerz nach und nach überwinden lernst. Dass du nicht stets all diese Wunder brauchst, um glücklich zu sein. Irgendwann wirst auch du älter werden und dein eigenes Leben aufbauen. Das kannst du nur, wenn du nicht immer in der Vergangenheit feststeckst. Verstehst du das?“
Lara spürte, wie erneut Tränen in ihren Augen brannten und es war ihr, als läge eine zentnerschwere Last auf ihrem Herzen. „Heisst das, dass ihr mich schon bald nicht mehr besuchen werdet?“
„Vielleicht nicht mehr so oft,“ erwiderte Mina ernst.
Lara senkte ihren Kopf und dicke Krokodilstränen, rannen nun über ihre Wangen und tropften auf das Bettlaken herab. „Aber… ich… weiss nicht, was ich ohne euch machen soll,“ schluchzte sie. „Ich brauche euch. Wenn ihr fortgeht, dann will ich mit euch gehen.“
„Ach was!“ sprach Mina erschüttert. „Du hast noch das ganze Leben vor dir und es gibt andere Menschen, die für dich da sein werden. Darunter auch deine Grosseltern. Sie meinen es so gut mit dir und haben dich sehr lieb. Auch sonst werden noch viel mehr Menschen in dein Leben kommen, mit denen du glückliche Stunden verbringen wirst. Und wenn es dann Zeit für dich wird, dann werden wir dort drüben auf dich warten.“
Lara nickte, obwohl sie sich im Augenblick kaum getröstet fühlte. Ihre Eltern würden sie irgendwann verlassen, das hatte ihre Mama gesagt und sie konnte nichts dagegen tun.
„Aber, jetzt sei nicht so traurig!“ sprach Mina schliesslich. „Eigentlich wollte ich dich ja nochmals mit ins Reich der Schmetterlingskinder nehmen. Hast du Lust!“
Laras Kummer war auf einmal, wie weggewischt und sie rief: „Ja natürlich, habe ich Lust!“
„Dann also los! Schliess deine Augen!“…