Die Reise beginnt
Lautes Rufen riss die 10-jährige Lara aus ihrem Schlaf. „Aufstehen Kleines, es gibt Frühstück!“ Einen Moment lang, glaubte das Mädchen die Stimme ihrer Mutter gehört zu haben. Gerade hatte sie von ihr geträumt und ihre Mutter hatte in diesem Traum nach ihr gerufen. Als das Kind nun jedoch erwachte, erkannte es, dass die Stimme jene ihrer Grossmutter Hannah war. Seine Mutter lebte gar nicht mehr, das wurde ihm mit plötzlicher Deutlichkeit bewusst und Lara musste sich beherrschen, nicht sogleich in Tränen auszubrechen. Sie weinte oft in letzter Zeit. Es lag noch nicht lange zurück, dass ihre Eltern bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen waren. Nun lebte Lara auf dem Bauernhof ihrer Grosseltern. Es war zwar sehr schön hier und früher hatte Lara sich nichts Wunderbareres vorstellen können, als zu ihren Grosseltern in die Ferien zu fahren. Der Hof war umgeben mit Wäldern und weiten Feldern und es gab so viel zu erkunden.
Seit ihre Eltern jedoch nicht mehr da waren, fiel es Lara sehr schwer noch glücklich zu sein. Manchmal da gelang es ihr ganz kurz, wenn sie draussen in der Natur war, oder wenn sie die vielen Tiere des Hofes besuchte. Doch vergessen konnte sie es nie so wirklich. Sie dachte beinahe Tag und Nacht an ihre Eltern. Grossmutter und Grossvater taten zwar alles, um sie glücklich zu machen und sie ein wenig abzulenken. Doch es funktionierte nur selten.
Die Grossmutter rief erneut nach ihr und Lara kleidete sich an, während sie tapfer gegen ihre Tränen ankämpfte. Sie kämmte sich ihr langes, leicht gelocktes und goldblond schimmerndes Haar und ging dann hinunter ins Esszimmer.
Dort befand sich ein grüner Kachelofen und ein massiver Ess-Tisch, gefertigt aus Schiefer und Holz. Die Wände bestanden aus Holztäfer. Es roch nach Brot, welches ihre Grossmutter jeweils ganz frisch im Ofen zubereitete. Lara liebte diesen Geruch und freute sich jedes Mal sehr darauf.
Ihre Grossmutter und ihr Grossvater gingen bereits auf die 75 zu und waren schon viele Jahre verheiratet. Ihre Gesichter waren durch die viele Sonne und die frische Luft, leicht ledrig geworden, ihre Hände schwielig von der Arbeit auf Feld und Hof. Sie glichen sich in ihrem Aussehen sehr. Scheinbar war das bei Leuten, die so lange zusammenlebten, oft so. Beide hatten dunkelbraunes, ziemlich lockiges, kurzes Haar, welches nun aber schon ziemlich grau geworden war. Sie waren nicht sehr gross, aber wie bei Bauersleuten üblich, von kräftiger Statur.
Lara schmierte sich genüsslich ein Erdbeerkonfitüren Brot und trank dazu eine warme Schokolade. „Hast du gut geschlafen?“ fragte Hannah. „Ja, ich habe etwas Schönes geträumt, von… Mama.“ Lara hielt inne und versuchte krampfhaf, die erneut aufsteigenden Tränen, zurück zu halten. Die Grossmutter legte den Arm tröstend um das Kind. „Wir sind immer für dich da, du kannst uns alles erzählen, das weisst du, oder?“ „Ja, ich weiss,“ sprach Lara leise. Doch gerade war ihr nicht nach Reden zu Mute.
Nach dem Frühstück ging das Mädchen, wie jeden Morgen, die Tiere besuchen und dann in den Wald, um auf Entdeckungstour zu gehen. Wenn sie allein unterwegs war, dann stellte sie sich jeweils vor, sie tauche in eine andere Welt ein. Der Baum, auf den sie am liebsten kletterte, wurde dann richtig lebendig. Sie legte ihr Ohr an den Stamm und glaubte seinen Herzschlag zu hören, der Wald wurde zu einem Märchenwald, der viele eigenartige Kreaturen beherbergte und der kleine Bach, welcher über die Steine sprang, war ebenfalls die Heimat vieler fantastischer Lebensformen. Sie stellte sich vor, das Zwitschern der vielen Vögel gelte ihr, dass die Vögel so mit ihr redeten und manchmal redete, oder vielmehr, pfiff sie mit ihnen mit. Sie stellte sich vor, dass sich im dunklen Unterholz Zwerge, Elfen und Gnome tummelten und dass die Lichtstrahlen, die durch die Baumkronen brachen, ihre Nase kitzelten. Wenn sie dann das Kitzeln wirklich zu fühlen glaubte, lachte sie vergnügt und freute sich daran. In solchen Momenten war sie glücklich, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Aber immer wieder holte sie die Trauer von neuem ein und besonders wenn sie am Abend allein in ihrem Bett lag, fiel diese wie ein dunkler Schatten über sie. Dieser Schmerz würde wohl nie ganz vergehen. Vielleicht würde er eines Tages etwas erträglicher werden, doch noch war dieser Zeitpunkt nicht gekommen. Ab und zu redete sie leise mit ihren Eltern, in der Hoffnung, dass diese noch immer auf sie aufpassten und ihre Worte vielleicht hörten. Wie erwartet, kam jedoch kein Antwort und so weinte sich Lara auch diesen Abend, einmal mehr in den Schlaf hinein.
Auf einmal jedoch erwachte sie, denn sie glaubte diesmal ganz deutlich die Stimme ihrer Mutter gehört zu haben. „Lara, Lara! Komm zu mir ich warte an unserem Lieblingsplatz auf dich! Das Mädchen schreckte auf und glaubte zuerst, dass ihr ihre Fantasie einen Streich spielte. Doch da war sie wieder, die Stimme ihrer Mutter! „Lara, Lara komm zu mir!“ Lara sprang aus dem Bett und warf sich eine Jacke über ihr Pyjama. Der einstige Lieblingsplatz von ihr und ihrer Mutter lag nicht sehr weit vom Haus entfernt. Es war eine alte Pergola aus Schmiedeeisen, überschattet von einigen Bäumen und umrahmt von Kletterrosen und vielen anderen Blumen. Eine Hollywoodschaukel befand sich dort, auf der Lara und ihre Mutter Mina sich immer besonders gerne aufgehalten hatten. Der Mond leuchtete voll und silbern hinter dem angrenzenden Wald und tauchte alles in magisches Licht. Alles wirkte sowieso besonders magisch, fand das Mädchen und seltsamerweise empfand es keinerlei Angst, als es durch die stille Nacht zur Pergola ging. Nach ein paar Schritten lag diese vor ihr, umhüllt vom samt-silbernem Schein und dort erblickte sie tatsächlich, eine ihr nur allzu vertraute Gestalt! „Mama!“ hauchte sie „Mama!“