Rückkehr
Lara erwachte wieder in ihrem Bett, im Hause ihrer Grosseltern. Sie war zurück! In ihr war ein seltsamer Frieden und eine Ruhe, die sie schon lange nicht mehr verspürt hatte und in ihrem Herz leuchtete noch immer eine goldene Wärme. Diese stammte ganz bestimmt von dem Funken, der zu ihr zurückgekehrt war.
Noch einmal liess sie alles, was sie erlebt hatte, vor ihrem inneren Auge revuepassieren. Seltsamerweise jedoch bereitete ihr der Gedanke, dass sie ihre Eltern in Zukunft nicht mehr so oft sehen würde, nicht mehr dieselben Schmerzen, wie bisher. Hatte das Verpuppungsritual also tatsächlich funktioniert? Sie versuchte sich zu entsinnen, was genau mit ihr geschehen war, als sich das Gespinst, in das sie von ihrer Mutter und den Schmetterlingskindern eingewickelt worden war, verfestigt hatte. Es war wie ein Traum, an den man sich zwar nicht mehr erinnerte, der aber noch immer auf wundervolle Weise in einem nachklang. Lara glaubte tatsächlich, dass eine wichtige Verwandlung in ihr vonstattengegangen war.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Es war noch immer dunkel. Ein Blick auf ihre Uhr zeigte ihr, dass es drei Uhr morgens war. Es war eine sternenklare Nacht und der Mond stand leuchtend und silbern am nächtlichen Firmament. Das alles hatte etwas sehr Tröstliches an sich und führte dem Kind vor Augen, dass auch in der Dunkelheit, immer ein Licht für es scheinen würde. Lara stellte sich vor, dass irgendwo, da hinten, zwischen den Sternen, die Augen ihrer Eltern liebevoll über sie wachten. Sie würden immer für sie da sein, aber… es wurde wohl wirklich Zeit, dass Lara wieder mehr in die irdische Welt zurückkehrte. Schliesslich begann schon bald wieder die Schule und dann musste sie bei der Sache sein.
Auf einmal schweiften ihre Gedanken weit in die Zukunft und sie sah sich selbst, wie sie als erwachsene Frau, anderen Menschen half, welche, wie sie, einen geliebten Menschen verloren hatten. Da Lara nun aus eigener Erfahrung wusste, welch wundervollen, märchenhaften Welten, jenseits der Sterne, auf die Verstorbenen warteten, konnte sie den Hinterbliebenen auch auf wundervolle Weise Mut machen.
In ihrem Herzen vernahm sie auf einmal die Stimme des goldenen Funkens: „Auch wenn du deine Eltern nicht mehr so viel sehen wirst, so wirst du doch immer einen ganz besonderen Draht in die jenseitige Welt beibehalten und diese Fähigkeiten wirst du einst zum Wohle vieler anderer Menschen nutzen.“
Lara nickte vor sich hin. Ja, das würde sie wahrhaftig tun! Sie hatte nun ein ganz klares Ziel vor Augen und das half ihr ebenfalls sehr über den Verlust ihrer Eltern hinweg. So war alles gut, wie es war.
Selbst erstaunt über diese tiefe Einsicht, drehte sich Lara wieder um und kehrte zu ihrem Bett zurück. Dort kuschelte sie sich unter die weiche Decke, faltete ihre Hände und sprach dann ein leises Gebet. „Bitte, lieber Gott hilf mir, dass ich meine Schmerz immer mehr überwinden kann. Hilf mir stark zu werden und meine Aufgabe hier auf Erden gut zu erfüllen!“
Und dann sprach sie auch noch kurz im Geiste zu ihren Eltern: „Mama, Papa, ich habe euch so lieb und ich werde euch nie vergessen. Aber ich erkenne nun, dass ich mich auf mein Leben hier konzentrieren muss, auch wenn ihr mir noch immer schrecklich fehlt.“
Gleich darauf war ihr, als würden die Stimmen ihrer Eltern ihr antworten. „Wir haben dich auch sehr lieb. Du bist ein grosses, tapferes Mädchen und du wirst deinen Wege finden. Wir sind so stolz auf dich.“
Lara lächelte und schlief dann selig ein.
Am darauffolgenden Morgen, liessen Hannah und George ihre Enkeltochter so lange schlafen, wie sie wollte. Immerhin war Wochenende und am Montag, begann bereits wieder die Schule.
Lara dachte gar nicht mehr an das Zerwürfnis, dass sie gestern mit ihren Grosseltern gehabt hatte. Fröhlich wachte sie deshalb gegen Mittag auf und fühlte sich wunderbar erholt und gestärkt.
Sie lief die Treppe hinunter und traf, im Esszimmer, Oma und Opa mit ernster, bekümmerter Miene an. Erst jetzt kam ihr der Streit wieder in den Sinn. Doch dieser hatte irgendwie an Bedeutung verloren.
„Guten Morgen!“ rief sie heiter, was ihr erstaunte Blicke, seitens der älteren Leute, einbrachten. Gleich darauf merkte man, wie sich letztere zusehends entspannten.
„Setz dich doch!“ sprach Hannah. „Ich habe frisches Brot gebacken!“
„Oh lecker!“ freute sich Lara und nahm, die noch warme Brotscheibe, die ihr die Grossmutter reichte, dankbar entgegen.
Opa George, legte die Zeitung, die er vorhin noch in der Hand gehalten hatte, beiseite und fragte: „Und, hast du gut geschlafen Kleines?“
„Ja, sehr gut! Aber ich habe auch wieder viel erlebt in der Nacht.“
„Du kannst uns gleich davon erzählen,“ mischte sich nun Hannah ins Gespräch. „Aber zuerst wollten wir doch nochmals über unser Zerwürfnis von gestern sprechen.“
„Ach, das ist schon wieder vergessen,“ meinte Lara fröhlich. „Eigentlich hattet ihr ja nicht unrecht. Mama hat mir das auch nochmals gesagt und… dann konnte ich mich im Reich der Schmetterlingskinder verpuppen und alles ist jetzt wieder viel leichter!“
Die Grosseltern schauten ihre Enkelin mit einer Mischung aus Erleichterung und Verwirrung an.
„Was… meinst du denn mit… verpuppen?“ fragte schliesslich George. So erzählte das Mädchen alles, was sich in den letzten Stunden zugetragen hatte. Als sie ihre Geschichte beendet hatte, war es einen Augenblick lang totenstill. Oma und Opa wussten wohl noch nicht so genau, was sie von all diesen Geschichten halten sollten.
„Das mit dem Verpuppen hat mir wirklich geholfen,“ sprach Lara deshalb nochmals. „Es geht mir jetzt viel besser und ich glaube… ich kann Mama und Papa nun leichter loslassen. Auch Mama fällt das Loslassen, glaube ich, nicht so leicht.“
Hannah und George waren irgendwie sehr bewegt, von den weisen Worten, die dieses 10- jährige Mädchen zu ihnen sprach und auch wenn sie nicht alles verstanden, spürten sie dennoch deutlich, wie sehr ihm diese „Verpuppung“ geholfen hatte.
Darum sprach Hannah schliesslich: „Es ist schön, dass es dir wieder so viel besser geht. Auch wenn wir noch nicht alles verstehen, was du uns da gerade erzählt hast. Doch Hauptsache ist, es hat dich weitergebracht. Dann bist du also nicht mehr böse auf uns?“
„Nein. Ich weiss, dass ihr es stets gut mit mir meint. Das sagte mir auch Mama.“
„Ach mein Schatz!“ Hannah konnte nicht mehr anders, sie musste ihre Enkelin einfach umarmen. „Ich bin so froh, dass wir diesen Streit wieder beilegen konnten. Wir haben dich wirklich sehr lieb und wir möchten einfach, dass du glücklich bist.“
„Ja, ich weiss. Es wird auch wirklich Zeit, dass ich mich wieder mehr dem Leben hier zuwende. Schliesslich will ich gut in der Schule sein, damit ich später anderen Menschen helfen kann.“
„Das ist die richtige Einstellung!“ sprach George erfreut. „Du wirst deine Sache bestimmt wunderbar machen. Wir glauben an dich. Du bist ein ganz tolles Mädchen!“ Mit diesen Worten legte er Lara väterlich die Hand auf die Schulter. Lara nickte freudig und dann machte sie sich über das leckere Frühstück her.