Mittlerweile war schon lange Zeit für das Mittagessen. Ich entdeckte ein schönes Restaurant – aber die Preise! Na ja gut, man muss sich mal was gönnen. Trotzdem finde ich es nicht in Ordnung, so viel zu verlangen. Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt da einfach nicht.
Ich stellte mich also vor die Tür und wartete, dass ein netter Mann mich einladen würde. Mit meinem Aussehen musste ich da ja nicht lange warten. Tatsächlich hielt beinahe sofort jemand an, der gerade vorbeilief.
„He, Baby, kann ich dir helfen?“
Welch niveauloser Mensch! Wieso nannte er mich Baby? Er sah doch, dass ich eine junge Frau war! Meine gut geformten Brüste, meine schlanke Taille und mein knackiger Hintern sprachen doch eine eindeutige Sprache. Ich schüttelte abweisend den Kopf.
„Keine Lust, mit mir eine rauchen zu gehen? Oder ein Bier zu trinken?“
„Nein, danke.“
Er ging weiter.
Ein vornehmer Herr kam gerade von der anderen Straßenseite. Er hatte einen Laptop dabei. Sicher ein Finanzbeamter oder ein Wirtschaftsprüfer. Ich spielte unauffällig mit meinem Haar, zog mein Handy hervor und tat so, als würde ich im Internet surfen. Schließlich sollte er nicht denken, dass ich extra auf ihn wartete. Das hatte ich ja auch nicht nötig, Chancen hatte ich wirklich genug. Er sollte nicht den Eindruck bekommen, ich wäre auf ihn angewiesen, denn trotz meiner Attraktivität bin ich eine sehr emanzipierte Frau.
Als er an mir vorbeiging, hielt ich kurz inne und lächelte ihm zu. Er runzelte einen Moment die Stirn und ging dann weiter. Mist. Der hatte mich bestimmt nicht richtig gesehen. Er schien in Gedanken ganz weit weg zu sein. Vielleicht hatte er mich auch für eine Erscheinung gehalten. Die Leute halten mich oft für eine Erscheinung. Schönheit verunsichert. Aber wo ich nun einmal schon so dastand, konnte ich mich auch schon mal um einen Anwalt bemühen. Ich suchte in meinem Smartphone nach Adressen für Anwälte und telefonierte ein paar ab. Aber sie waren alle zu billig. Ein Anwalt, der für wenig Geld arbeitete, konnte nicht seriös sein.
Ich seufzte. Überrascht sah ich, dass ich etwas auf der Anrufliste hatte. Ach ja, mein Vater. Mein lieber, guter Vater sorgte sich um mich und vermisste mich! Ich lächelte. Wie süß von ihm.
Ich rief ihn an. „Hi Daad!“, rief ich fröhlich. „Hast du dir Sorgen gemacht?“
„Belle!“, schrie er ins Telefon. Der arme Kerl war schon ganz aufgeregt. „Ich hab zigmal versucht, dich anzurufen. Wo zum Teufel steckst du?“
Diese Ausdrucksweise! Die würde ich ihm abgewöhnen müssen. Aber dafür hatte ich ja jetzt genug Zeit.
„Es ist alles in Ordnung, Daad. Ich gönne mir gleich ein gutes Mittagessen. Schule war klasse, den Stoff schaff ich mit links.“
„Weißt du, dass schon lauter Leute für dich angerufen haben? Deine Lehrerin hat mir gesagt, dass du die Schule schwänzt?“
Woher wusste die das?
„Verdammt, Belle, was soll das? Das ist dein erster Tag und du machst dich schon überall unbeliebt!“
Was? Ich unbeliebt? Dafür konnte ich ja nun aber wirklich nichts.
Bevor ich mich wehren konnte, fuhr mein Vater fort: „Dein Biolehrer hat sich über dich beschwert und dann rufen auch noch ein Masseur und irgendein Friseurladen an und erzählen mir, dass du sie nach Strich und Faden verarscht hast und dich weigerst, sie zu bezahlen!“
„Ach ja, die. Darüber wollte ich sowieso noch mit dir sprechen. Daad, ich brauche einen guten Anwalt. Du weißt ja, dass ein guter Anwalt viel Geld kostest, also wenn du so lieb wärst, auf dein neues Bett zu verzichten, wäre echt toll. Du hast ja dann noch den Fußboden.“
„Wozu brauchst du einen Anwalt? Verdammt, du kommst jetzt sofort heim!“
„Reg dich nicht auf, Daad. Das ist alles ein Missverständnis. Stell dir vor, die Friseurin wollte von mir Geld, weil sie mein Haar bekommen hat!“
„Was soll denn das heißen? Du hast dir die Haare schneiden lassen und willst nicht bezahlen? Wenn du nicht sofort heimkommst –“
Ich würgte ihn ab. Es fällt mir in meiner sanften, mitfühlenden, verzeihenden Art schwer, so unfreundlich zu sein, aber manchmal muss man bei der Erziehung hart durchgreifen. Wenn Dad so drauf war, konnte man nicht vernünftig mit ihm reden. Er würde sich wieder beruhigen. Eltern sind schon anstrengend!
Mein Magen knurrte. Wie unfein von ihm! Ich strafte ihn mit einem bösen Blick. Normalerweise tat er das nie. Ich überlegte mir eine andere Taktik, da ich mit Ehrlichkeit anscheinend nichts erreichte. Ich würde behaupten, dass mein Freund mich in dieses Restaurant eingeladen und mich jetzt aber habe sitzenlassen.
Prompt kam die richtige Person. Ein gutaussehender junger Mann. Zu meiner großen Freude hielt er an und blickte einen Moment zu mir.
„Hi“, sagte ich. Ich weiß, wie umwerfend ich auf die Leute wirke.
„Hi?“, sagte er zögernd. Er war wohl unsicher, ob ich wirklich ihn gemeint hatte.
Ich zupfte verlegen an einer meiner Haarsträhnen – Mist, dass sie so kurz waren!
„Ähm, wenn du mir vielleicht helfen würdest …“ Ich wartete eine Weile ab, um ihn nicht zu überrumpeln. Er musste langsam darauf vorbereitet werden, dass er mit mir ausgehen durfte.
„Ja?“ Er lächelte.
„Mein Freund hat mich ins Restaurant eingeladen, aber jetzt warte ich hier schon eine ganze Stunde. Der Tisch ist schon reserviert und … hast du keine Lust, mitzukommen?“
„Was ehrlich?“, fragte er ungläubig.
„Na ja, wär ja schade, wenn alles umsonst reserviert ist.“
Er warf einen Blick auf die Speisekarte – oder eher auf die Preise. „Oh … na … nee, tut mir leid. Äh, vielleicht könnten wir woanders hingehen?“
„Oh. Tut mir leid, aber das geht ja nicht, weil der Tisch hier reserviert ist.“
„Ah … ach so. Na ja, dann.“ Er zuckte die Achseln und warf mir ein verzeihendes Lächeln zu. „Tut mir leid.“
Ich ärgerte mich. War es denn wirklich zu viel verlangt, mich zu einem einfachen Essen einzuladen? Wo lag das Problem, ich hatte ihn doch sehr freundlich gefragt und an meinem Aussehen konnte es nicht liegen. Ein bisschen Geld musste er da eben ausgeben. Oder war es die Angst, mir nicht gerecht zu werden? Meiner nicht wert zu sein? Ich konnte doch nichts dafür, dass ich so aussah! Ich war doch einfach nur ein armes Mädchen, das Hunger hatte!
Ich versuchte es noch bei einem anderen Mann, aber der wimmelte mich gleich ab.
Und dann stellten sie einfach ein Schild vor die Tür, auf dem „Geschlossen“ stand. Und das vor meine Nase! Vor meine zierliche, kleine, feinsinnige Nase!
Mir kam eine Idee. Sicher aßen jetzt in der Pause die Mitarbeiter, da würden doch bestimmt ein paar Ousoboucos, Pasta, Paellas usw. für mich abfallen.
Ich betrachtete mich unauffällig in der Glastür, strich mir die Haare zurecht und setzte mein bezauberndstes Lächeln auf, bevor ich sacht gegen die Scheibe klopfte.
Ein muffiger Mensch sah hinaus. „Sie sehen doch, dass wir geschlossen haben.“
Ich lächelte gewinnend. „Oh, ich habe es gelesen, ich kann gut lesen, ich habe eine Zwei in Deutsch. Aber es ist doch sicher nicht für alle geschlossen, oder?“
Er blinzelte irritiert. „Doch. Wir machen Pause.“
„Eben!“, rief ich triumphierend. „Die Mitarbeiter sind doch sicher noch da.“
„Ja, haben Sie nicht verstanden? Wir machen jetzt Pause.“
„Genau“, strahlte ich. „Sie ziehen sich jetzt sicher bequem zurück und essen etwas Gutes, nicht wahr?“
„Genau“, sagte er genervt. Er wollte die Tür zuzumachen.
„Halt!“, rief ich. Ich lächelte verlegen. „Ich weiß, es ist viel verlangt. Aber sehen Sie … ach, ich weiß, nicht, ob ich Sie wirklich danach fragen darf.“
„WAS wollen Sie?“
„Es ist mir wirklich peinlich. Sehen Sie, mein Freund wollte eigentlich mit mir hierherkommen, aber er hat mich sitzenlassen und ich habe keinen Pfennig Geld bei mir und ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen …“
„Wirklich rührend.“ Er schob die Tür zu.
„He! Ich kann doch nichts dafür, dass ich … Sie haben doch bestimmt viel zu viel Essen …“ Ich quetschte mir eilig ein paar Tränen aus den Augen. Das war zwar geschummelt, aber es war ja wirklich zum Heulen, und wenn ich nicht so eine unglaubliche Selbstbeherrschung und solch eine Würde gehabt hätte, hätte ich ja auch geheult, also war der Trick in Ordnung.
Ich zog ein Taschentuch hervor und wischte mir verstohlen die Augen. Die, die im Überfluss leben, kümmern sich nicht um die armen Leute. Die Welt ist so verdorben. Jemand wie ich hat wirklich Probleme, in dieser Welt klarzukommen. Das geht mir schon so, wenn ich den Fernseher anschalte und die Nachrichten sehe. Wenn ich all das Elend auf der Welt sehe. Wie gerne würde ich der Welt helfen, aber wie soll ich das tun, wenn man mir nicht ein bisschen entgegenkommt?
Während ich also noch eine Stunde oder so dastand, kam auf einmal ein Mensch direkt auf mich zu. Er trug eine Polizeiuniform. Na so ein Glück! Ich vergaß alles, was ich gerade gedacht hatte. Das Schicksal meinte es doch gut mit mir. Der Polizist würde mir helfen.
„Sind Sie Belle de Cygne?“, fragte der Mann.
Ich lächelte. Ich wunderte mich nicht, dass er mich kannte. Sicher hatte sich meine Schönheit schon überall herumgesprochen. „Ja. Gut, dass Sie kommen. Ich habe so furchtbare Sachen erlebt. Niemand will mir helfen, ich habe noch nicht einmal etwas zu essen bekommen …“
„Ihr Vater sucht Sie“, gab der Polizist bekannt. „Und Ihre Schule sucht Sie. Und ein Masseur hat sich über Sie beschwert.“
„Hören Sie, das ist alles ein furchtbares Missverständnis. Dieser Masseur hat mich gefoltert und jetzt ärgert er sich, weil ich ihn nicht bezahlt habe. Gut, dass Sie schon mal da sind, dann kann ich ihn gleich anzeigen. Aber erst muss ich was essen. Sie können mir doch sicher etwas geben?“
Er musterte mich mit ernstem Gesichtsausdruck und gab seinem Mitgefühl mit einem verzweifelten Kopfschütteln Ausdruck. „Kommen Sie erst mal mit auf die Wache.“
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Anmerkung: "Daad" ist absichtlich mit zwei a geschrieben, wenn Belle das sagt, weil sie das so lang zieht. Und übrigens spielt es nicht in Amerika, auch wenn Belle Mrs und Mr zu den Lehrern sagt. Sie findet das halt cooler.