Als wir uns der Aufzugsgruppe näherten, wirkten wir wie die Gelassenheit in Person. Zu zwei Dritteln wenigstens.
Sergej hatte ein Talent entwickelt, den harten Kerl raushängen zu lassen, und da er kein Problem damit hatte, wenn das alles in einer blutigen Konfrontation endete, ganz im Gegenteil, nahm ich ihm seine Ruhe auch vollkommen ab. Moritz wirkte ein klein wenig aufgeregt, doch wenn man so ein Großereignis besuchte, war sicher jeder Junge ein wenig aufgeregt. Es war eine positive, unverdächtige Aufgeregtheit. Anders als bei mir. Ich konnte nur hoffen, dass man mir den Zustand, in dem sich mein Magen befand, nicht ansah.
Hinter zwei der fünf verglasten Türen warteten Aufzugskabinen darauf, von uns betreten zu werden. Wie einstudiert traten wir einfach auf eine der Türen zu, die sich genau im richtigen Moment in der richtigen Geschwindigkeit öffnete, dass wir nicht damit zusammenstießen. Wir mussten den Schein wahren, so aussehen, als gehörten wir dazu. Jeder in der Zitadelle verließ sich darauf, dass Scanner und Maschinen perfekt zusammenarbeiteten. War sicher ein lustiges Bild, wenn dann doch mal jemand gegen eine Tür lief.
Direkt nach uns betraten zwei grüngekleidete Techniker die Kabine, vertieft in ein Gespräch über ihre Arbeit. Ich blendete die Details aus, die meine Aufmerksamkeit an sich reißen wollten, und sah mich stattdessen im Inneren der Kabine um. Dieser Aufzug, eines der älteren Modelle der Unterwelt, besaß noch ein Schaltfeld, auf dem man per Hand sein Ziel auswählen musste. Sergej tippte lässig auf O1, dann trug uns der Aufzug sanft nach oben.
Ich hatte gehört, dass die Aufzüge in der Oberwelt per Gedankenübertragung bedient werden konnten. Jemand dachte an die Zieletage und irgendein Adapter verklickerte das dem Aufzug. Nun, wir mussten uns mit guten alten Knöpfen zufriedengeben und darüber war ich froh. Meine Gedanken sollten ruhig in meinem Kopf bleiben, unbehelligt von jedem, der sie mithören konnte.
Die Etagen sausten an uns vorbei, neue Passagiere gesellten sich zu uns, andere verließen den Aufzug. Als eine Gruppe Siks hinzustieg, stieß mein Magen ein hörbares Grummeln aus. Jetzt war ich also wirklich nervös.
"... den Minen. Verdammte ...", schimpfte einer von ihnen, wurde aber durch einen Ellenbogenstoß des Kollegen unterbrochen.
Natürlich war ihr Thema die Suche nach den Terroristen in den Minen. Wer hätte das gedacht.
Sergej schien das nicht zu stören. Er lehnte lässig an einer der Scheiben und betrachtete die Welt, die an uns vorbeizog. Moritz zockte ein Spiel auf einem von Numbakas mobilen Medienpanels, das dank seines Chips tatsächlich funktionierte. Er war so vertieft, dass er die Wachleute überhaupt nicht bemerkt hatte.
Die waren auf dem Weg in den Feierabend und bald hatten sie andere Themen gefunden, redeten über Freizeit und Familie. Ich atmete auf. Es waren eher ihre schlecht gelaunten und aufmerksamen Kollegen, wegen derer wir uns Sorgen machen mussten. Und die waren hoffentlich alle nach unten unterwegs.
Ich zupfte an meinen bunten Klamotten herum. Auffälligeres Zeug hatte Klara aber auch wirklich nicht finden können. Sie saßen für meinen Geschmack viel zu locker. Das kam davon, wenn man den ganzen Tag in enganliegenden Synthetikanzügen durch stickige Kanäle kroch. Plötzlich schnürte Freiheit einem die Kehle zu und brachte Mägen zum Rebellieren.
Das helle Licht, das von der Etage in die Kabine fiel, verschwand, als wir einen Etagenboden passierten. Die nächste Etage war nur in Dämmerlicht getaucht, erhellt von flackernden Laserschweißern, mit denen die Teks an Wänden und Säulen arbeiteten. Das musste eine der Etagen sein, die unserer Mission zum Opfer gefallen war. Kamen die Menschen hier trotzdem zurecht? Reichte der Notstrom aus? Bevor ich aber einen der Bewohner ausmachen konnte, waren die Etagen schon wieder verschwunden und wir passierten die Grenze zur Oberwelt, die unsere Bevölkerung in zwei Klassen spaltete.
Die äußeren Aufzugtüren von E0 bestanden aus weißlich glänzendem Metall. Dahinter befanden sich Rat und Sicherheitskorps. Mit der ID des Ratssekretärs konnte ich dort hineinkommen. Bei dem Gedanken gluckerte mein Magen, zurecht. Das würde ich sicher nicht alleine wagen.
Sergej hatte die ID des Majors bekommen und Moritz die des Cheftechnikers. Ich hatte in meinem rechten Handschuh die Chips des Sekretärs und die des Finanzanalytikers eingesetzt. Im Moment reiste ich als Josh Hardington durch die Zitadelle. Der Finanzanalytiker war einfach unauffälliger.
Wir konnten nur hoffen, dass diese IDs auch einer genauen Überprüfung durch die Siks standhalten würden. Sergej und Moritz waren optisch beide noch zu jung, um diese Positionen erreicht haben zu können, selbst wenn man die medizinischen Möglichkeiten einrechnete. Dass Moritz nicht eine Spur asiatisch aussah, war die andere Sache. Es würde wohl noch ein paar Generationen dauern, bis man den Bewohnern der Zitadelle nicht mehr ansah, aus welcher Ecke der Welt sie einst wohl gekommen sein mochten.
Das Stoppen des Aufzugs auf O1 drückte mich leicht gegen den Boden unserer Kabine und erst jetzt fiel mir auch der Druck auf meinen Ohren auf, der die Geräusche um mich herum dämpfte. Mit einem künstlichen Gähnen versuchte ich, ihn loszuwerden. Vergeblich. Mein Körper durchschaute mich und so drang die Geräuschkulisse, die uns mit dem Öffnen der Tür empfing, nur als sanftes Hintergrundgeblubber zu mir durch.
Wir schritten aus der Kabine auf den Platz davor. Sergej gähnte jetzt auch und streckte sich dabei so schwungvoll, dass ein vorbeieilender Mann spontan ausweichen musste. Der stieß eine kurze Verwünschung aus, sah den Kerl genauer an, den er da anschnauzte und machte sich aus dem Staub.
"Sergej …" Ich schüttelte den Kopf und atmete durch. Dann flüsterte ich mir selber zu: "Es wird nichts schiefgehen."
Obwohl es noch gut zwei Stunden bis zum Beginn der Rede dauerte, hatte sich bereits eine große Menschenmenge auf dem Platz eingefunden.
"Warum tun sich Menschen so etwas an?", fragte ich in die Runde.
"Vielleicht wegen der Festplatzstimmung? Und ...", Sergej atmete tief ein, "...riechst du das?"
Der Geruch von gegrillter Wurst kitzelte meine Nase. Das war nur ein netter Trick, das war mir klar. Natürlich gab es etwas Viehhaltung in der Unterwelt, aber nicht genug, um Fleisch für solche Veranstaltungen zu liefern. Das war Nahrung aus dem Synth, mit Aussehen, Geschmack und Geruch, die dem Original nachgestellt waren. Aber selbst wenn mein Gehirn das wusste, dem Rest meines Körpers war es egal. Vielleicht war das Gefühl in meinem Magen gar keine Nervosität, sondern...
"Ich bekomme plötzlich Hunger", sprach Sergej meine Gedanken aus.
"Wir haben doch noch Zeit, oder?", fragte Moritz. "Sollen wir uns was holen?"
Ich nickte. "Warum nicht? Kein Grund, uns zurückzuhalten."
Die Konten der uns vermittelten IDs waren randvoll. Ein weiteres Geschenk der Reformer?
Das Licht der Sonne blendete mich, als wir zwischen den Säulen des Aufzugsgebäudes heraustraten. Das wäre nicht so sonderbar gewesen, hätten wir uns nicht im Inneren eines riesigen Turms befunden. In der Unterwelt gab es keine Sonne, nicht mal eine künstliche. Nur diffuse Lichtquellen, die Decke und Boden der Etagen und die Wände ihrer Wohnkomplexe mit Tageslichtlampen beleuchteten. Ob sich in der Oberwelt wohl alle Etagen über den Luxus solch einer Sinnestäuschung erfreuten?
"Ich hätte eine Sonnenbrille mitbringen sollen, ich seh kaum was", beschwerte sich Sergej.
"Wohl zu lange in der Unterwelt gewesen?", kommentierte eine Frau, an der wir vorbeikamen.
"Ja, das ist jedes Mal eine Tortur, wenn man zurückkommt", improvisierte ich und wir schoben uns zwischen den Leuten durch, auf einen Verkaufsstand zu. "Stell dich nicht so an, sonst fallen wir noch auf", raunte ich Sergej zu.
Der Verkaufswagen entpuppte sich als aufgemotzter Nahrungssynth. Ein großes Medienpanel zeigte das Bild eines freundlichen Verkäufers, der auf die Bestellung wartete, sowie die Menükarte. Sergej bestellte für sich und für mich. Currywurst und Pommes. Unter zwei Öffnungen fielen, wie bei einem Kaffeeautomaten, erst klappernd zwei Schälchen herunter und kurz darauf folgte der dampfende Inhalt.
Als sich Moritz vor die Maschine stellte, änderte sich die Menükarte. Asiatisches Fastfood erschien darauf. Vermutete ich, denn ich konnte die Schriftzeichen nicht entschlüsseln.
"Was ist das denn?", rief er erstaunt aus. "Davon kenn ich gar nichts. Ich nehme auch Currywurst und Pommes."
"Tut mir leid, Herr Pak, auf Anweisung ihres Arztes kann ich ihnen diese Speise nicht herstellen. Bitte wählen sie aus der Liste", belehrte ihn die freundliche Stimme des Verkaufsprogramms.
"Das ist doch nicht wahr, oder?", stöhnte Moritz.
Ich musste grinsen. "Ja, du musst echt auf deine Figur achten, das viele Rumsitzen in der Werkstatt macht dich noch dick."
"Du blöder Blecheimer, gib mir was Anständiges zu essen, sonst schraub ich dich auseinander!"
Der Verkaufsstand ließ sich davon nicht beeindrucken und schließlich hatte Sergej Mitleid mit Moritz - vielleicht aber auch mit dem Verkaufsstand - und bestellte auch ihm etwas Ungesundes.
Der Bereich rund um den Platz war von Bänken gesäumt. Wir fanden trotz der Menschenmasse eine für uns und genossen unser Essen. Es schmeckte überraschend gut. Das Essen in der Unterwelt hatte diesen, nicht genau bestimmbaren und künstlichen Beigeschmack, da war das hier im Vergleich ein kulinarisches Meisterwerk.
"Wie genau kommen wir eigentlich an Thulius ran?", fragte Sergej. "Gewalt darf ich ja keine einsetzen."
"Wir platzieren uns so weit vorne am Rednerpult wie möglich, damit er Moritz sieht. Vielleicht erinnert er sich an ihn, falls er wirklich sein Bruder ist. Wenn er seine Rede beendet, fangen wir ihn ab", erklärte ich.
"Wie das? Der Zugang zum Pult führt doch durch einen geschlossenen Gang, links davon."
"Ah, du hast dir die Aufzeichnungen der letzten Reden wirklich angesehen?", fragte Moritz mit einem ungläubigen Unterton.
"Hey, du weißt doch, dass ich den fiesen Schläger nur spiele. Etwas vorbereiten wollte ich mich auch."
"Okay, dann schau dir das an." Moritz hielt ihm das tragbare Medienpanel vor die Nase und spielte einen Ausschnitt ab. Darauf war zu sehen, wie ein Sik den Gang an einer Stelle betrat. Ohne ihn gesehen zu haben, hätte man nicht vermutet, dass es an dieser Stelle überhaupt einen Zugang gab.
"Darauf habe ich gar nicht geachtet."
"Ja, ich musste viele Aufnahmen durchsehen, bis ich das entdeckt habe."
"Hast du überhaupt geschlafen, bevor wir los sind?", fragte ich.
"Nicht viel. Aber unvorbereitet hätte ich auch keinen Schlaf bekommen. Mit Sergejs ID kommen wir in den Gang rein. Wir beide müssen unsere Chips dann abschirmen, damit wir keinen Alarm auslösen."
"Und der hat keine Siks mit dabei?", fragte Sergej ungläubig.
"Könnte sein. Auf den Aufnahmen haben die Redner die Bühne alleine betreten und verlassen. Die Wachen wurden schon vorher positioniert und sind dort die ganze Zeit geblieben. In den Gang konnte ich auf den Aufnahmen nicht hineinsehen. Falls er eskortiert wird, habe ich eine EMP-Granate dabei, um sie zu entwaffnen. Falls alles schief läuft, haben wir ja noch dich, Sergej. Du freust dich sicher, wenn du ein paar Siks verhauen darfst."
Sergej lachte zustimmend.
"Das wäre zu riskant. Nach dieser Aktion sind unsere Gesichter wahrscheinlich in der Datenbank registriert, vor allem, wenn wir uns nicht benehmen." Ich rieb mir mit der freien Hand die Stirn, auf der sich ein dünner Schweißfilm gebildet hatte. "Andererseits würden wir getarnt gar nicht so weit kommen. Thulius kennt hoffentlich nicht jeden Mitarbeiter mit Zugangsrechten zu diesem Bereich. Wenn er Zeit hat und sich in etwas Smalltalk mit einem Sik verwickeln lässt, müssen wir nicht zu gefährlicheren Maßnahmen greifen. Beherrscht euch bitte. Dann auf nach vorne."
Ich ignorierte ihr Grinsen und gab die Richtung vor, versuchte es zumindest. Die Menschen standen inzwischen dichter beisammen und es wurde immer schwieriger, voranzukommen. Zögerlich beschloss ich, unseren Plan C doch jetzt schon einzusetzen.
"Sergej, möchtest du nach vorne?"
Er hatte ein größeres Talent dazu, sie mehr oder weniger sanft aus dem Weg zu schubsen. Ein paar der Leute sahen sich ärgerlich um, einer murmelten etwas darüber, dass die Siks nie da waren, wenn man sie mal brauchte. Tatsächlich, von deren Präsenz war fast nichts zu bemerken. Eine Hand voll hatte an den Aufzügen Stellung bezogen und ein paar auf der Bühne. Ich wusste nicht, ob mich das beruhigen oder mir Sorgen bereiten sollte.
Schließlich verhinderte eine Absperrung unser Weiterkommen. Nun, Sergej würde sie nicht wirklich Widerstand leisten, wenn er es wollte, aber nun standen wir so weit vorne, wie das für Zuschauer möglich war.
Die Bühne bestand aus schlichtem Beton und in der Mitte stand ein ungeschütztes Rednerpult. Die weite Fläche und der Gedanke, dort vor all diesen Menschen stehen und reden zu müssen, bereitete mir Unbehagen.
Doch das Lampenfieber war sicher das Gefährlichste, das einem Redner hier drohte, denn die Besucher der Etage wurden bereits im Aufzug gescannt. Das hatte uns Numbaka erklärt. Wer versuchte, bewaffnet in den oberen Etagen auszusteigen, musste damit rechnen, beim Öffnen der Tür von zwei netten Siks in Empfang genommen zu werden. Falls er nicht eine Lizenz dazu hatte, weil er selbst ein Sik war.
Oder er tarnte sein Spielzeug gut genug, so wie Moritz seine Granate.
Ein angenehm kühler Wind strich über mein Gesicht, als wir dort standen und warteten. Wenn ich nicht gewusst hätte, wo wir uns tatsächlich befanden, hätte ich mich vielleicht täuschen lassen. Vermeintlich echtes Sonnenlicht, Wind und Pflanzen. Unter dieser Illusion konnte ich mir viel besser vorstellen, wie es die Oberweltler in der Zitadelle aushielten.
Dann kam der erste Redner auf die Bühne und ich versuchte, einen Blick in den Gang hinter ihm zu werfen. Ich konnte keine anderen Siks entdecken. Nur ein weiterer Ratsbediensteter, vielleicht sein Berater, bezog etwas abseits hinter ihm Stellung. Das war ein gutes Zeichen. Allerdings war es nur ein Neuanwärter auf einen Sitz im Rat. Ihm folgte eine Schar weiterer Anwärter und alle faselten sie belangloses Zeug, warum die Bürger ausgerechnet sie in den Rat wählen sollten. Die wichtigen Leute, mit den hoffentlich guten Themen, die Anwärter oder Verteidiger der oberen Ratsplätze, würden am Ende kommen. An die sollte man sich erinnern und sie wählen.
Ich wünschte mir von Herzen einen Stuhl, als endlich Thulius selbst die Bühne betrat, flankiert von einem ganzen Stab an Beratern und Sicherheitsleuten.