Klara war in die Hocke gegangen und balancierte rückwärts in den Raum hinein.
Auf dem Boden folgte ihr ein Schneehörnchen und schnupperte sich langsam an ihre ausgestreckte Hand heran. Wenige Zentimeter davor hielt es an und begann, sich mit den kleinen Pfötchen die Schnauze zu putzen. Niedliches Tier. Hätte ich Nüsse dabei gehabt, wäre ich versucht gewesen, es zu füttern.
Als ob es meine Gedanken gelesen hätte, schaute es mich an. Es war nur ein kurzer Blick, den es mir zuwarf, dann sprang es mit einem Satz auf Klaras Arm und kletterte bis zu ihrer Schulter herauf, huschte unter dem schwarzen Zopf um den Hals herum und blieb schließlich auf der anderen Schulter sitzen. Sie kicherte, als das weiße Fell an ihrem Nacken vorbeistrich.
Dort verharrte es einen Moment, landete mit einem weiteren Satz wieder auf den Boden und steuerte geradewegs auf mich zu. Ich wich einen Schritt zurück und es stoppte. Mit großen Augen sah es mich an.
"Du riechst nach Nüssen", sagte Klara. "Gib ihm doch welche."
"Was für Nüsse?" Ich war verwirrt.
"Ja, du hast heute welche gegessen."
In meinem Kopf ratterte es. War nicht ganz so einfach, sich daran zu erinnern, was man gegessen hatte, wenn man gerade noch in den digitalen Innereien eines Raumschiffes gewühlt hatte. Wenn ich bei der Arbeit zu sehr in Fahrt war, konnte es sogar vorkommen, dass ich komplett vergaß, mittagzuessen. Das rächte sich dann am Abend, wenn ich mich halb verhungert nach Hause schleppen musste. Hatte ich heute schon gegessen? Vor meinem Aufenthalt im Tank?
Es dämmerte mir. Im Supermarkt. Eine Packung Cookies. Das war die Sorte mit den Haselnüssen gewesen. Von denen mussten noch welche in meinem Rucksack sein. Den ich draußen verloren hatte ... oder etwa nicht? Er lag unter dem Tisch mit den Apparaturen, wie mir gerade auffiel. Ich hatte ihn dort definitiv nicht hingelegt.
Ich machte eine beschwichtigende Geste in Richtung des Schneehörnchens, schlich auf Zehenspitzen zu meinem Rucksack hinüber und fischte ihn unter dem Tisch hervor. Ich wühlte darin und streckte schließlich triumphierend die geschlossene Packung in die Höhe. Dann riss ich die Packung auf und der herrliche Geruch von Cookies strömte mir entgegen. Wie das Schneehörnchen ihn an mir wahrgenommen haben konnte, nachdem ich im Tank gebadet hatte, war mir bei dieser Sinnesorgie kaum noch ein Rätsel. Von einem der Kekse brach ich ein Stück ab, legte es in meine Handfläche und streckte sie aus.
Ich konnte gar nicht so schnell schauen, da war meine Hand leer und das Schneehörnchen saß wieder auf Klaras Schulter, wo es emsig an seiner Beute knabberte. Klara strahlte. Schön, dass sie einen kleinen Freund gefunden hatte, der sie von dem ablenkte, was bereits geschehen war, und auch von dem, was noch vor uns lag.
Ich ließ die Packung liegen, falls der Krümel den Hunger noch nicht gestillt hatte, und wandte mich wieder meiner Arbeit zu.
Inzwischen hatte ich eine andere Idee, wie ich sie fortführen konnte. Ein paar kleinere Experimente, ohne gleich das Schiff zu vernichten. Es gab zwölf Tanks. Selbst wenn ich eine davon kaputtmachte, war das nicht wirklich schlimm, wenn wir dadurch das restliche Schiff reparieren konnten.
Also ging ich zu einem der Tanks und legte meine Hand auf das Bedienteil. Medizinische Informationen flackerten auf. Statuswerte der letzten Person, die sich darin befunden hatte. Ich war Informatiker, kein Mediziner, verstand also kaum etwas davon. Ich blätterte durch die Daten. Das war die oberste Informationsebene. Alles Dinge, die man als normaler Benutzer auch machen konnte. Informationen auslesen, die Tür öffnen, Heilungsprozesse starten.
Ich tauchte tiefer, zu der Stelle, an der die Eingaben des Benutzers über eine Schnittstelle an die Maschine gesendet wurden. Befehle, die sich nach einer Weile des Betrachtens in verständlichen Text umwandelten. Ich verfolgte diese Befehle weiter bis zur Hardware des Tanks selbst und sah, welche Schalter sie dort umlegten. Ich entdeckte, dass es viele Stellen gab, die nicht mit der Schnittstelle verbunden waren, oder nicht mit Befehlen, die die Person am Bedienteil benutzen durfte.
Auf dieser Ebene gab es nur noch Zahlen. Und ohne die Zahlen selbst zu verändern, würde ich nicht herausfinden, was sie bedeuteten.
Also änderte ich sie. Erst etwas Bekanntes, die Position der Tür. Sie öffnete sich und schloss sich wieder. Ich grinste zufrieden. Das war einfach, es gab keine Einschränkungen. Entweder verschaffte mir der Handschuh Zugang zu dieser Ebene, oder die KI selbst hatte mir Zugriffsrechte auf die Systeme des Schiffes gegeben.
Ich füllte den Tank mit der blauen Flüssigkeit. Auch eine bekannte Funktion. Dann änderte ich eine Zahl, von der ich nicht wusste, wofür sie stand. Die Flüssigkeit färbte sich grün und begann zu blubbern. Das Glas beschlug, es entstand Dampf und schwarze Streifen brannten sich dort hinein, wo die Dämpfe am Glas nach oben stiegen.
Schnell änderte ich den Wert in seinen Ursprungszustand zurück, leerte den Tank und wischte mir den Angstschweiß von der Stirn.
Das war gerade nochmal gut gegangen. Doch jetzt hatte ich ein gewisses Gefühl dafür, was ich tat und der nächste Schritt konnte kommen.
. * .
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich in den Bereichen zurechtfand, die für die Kraftfelder zuständig waren. Ich fand heraus, wie man sie ein- und ausschaltete, ihre Position änderte und ihre Stärke regulierte. Glücklicherweise waren nur wenige Kraftfeldgeneratoren wirklich defekt. Die meisten, die sich in den beschädigten Ebenen befanden, wurden präventiv deaktiviert, als die Hülle beschädigt wurde. Eigentlich kam es nur darauf an, welche Tiere zuerst zurückgebracht wurden, damit ich das Puzzle aus Kraftfeldern und Tieren wieder zusammensetzen konnte.
Nachdem ich meinen Wissensdurst über die Kraftfelder gestillt hatte, studierte ich die Beschaffenheit der Hülle. Ich fand Informationen über ihre molekulare Zusammensetzung, Chemie war aber keine meiner Stärken. Hier würden wir Hilfe benötigen. Von außerhalb oder vom Schiff selber. Wenn ich doch nur ein weiteres Mal direkt mit der KI des Schiffes reden konnte, wäre das Problem wahrscheinlich sofort gelöst. Die blieb aber weiterhin stumm.
Ich kappte meine Verbindung zu den Schiffssystemen und brauchte wieder einen Moment, bis sich meine Sicht und mein Verstand an die Realität um mich herum gewöhnten. Ich war erschöpft, die Augen trocken und schwer. Ob ich auf Dauer mit dieser Art zu arbeiten klarkam?
Der Handschuh war eigentlich nur ein Übungswerkzeug, um den Übergang zwischen manueller Handsteuerung und einer Steuerung allein mit den Gedanken zu erleichtern. Ein Teil des Personals, das solche Schiffe sonst steuerte, besaß Implantate, die eine Kommunikation mit dem Schiff ermöglichten, ohne es berühren zu müssen.
Die KI hatte mir angeboten, mir ebensolches Implantat einzuoperieren. Das hatte ich entschieden abgelehnt. Ich war noch nie ein Freund von Veränderungen an meinem Körper gewesen. Keine Piercings, keine Tätowierungen und erst recht keine Cyberimplantate.
Klara spielte immer noch mit dem Schneehörnchen. Moritz war inzwischen aufgestanden und hielt eine der Apparaturen, die vorher auf dem Tisch gelegen hatten, in der Hand. Er bearbeitete es mit einem außerirdischen Werkzeug.
"Was ist das?", fragte ich ihn.
"Keine Ahnung, aber was ich tu, kommt mir richtig vor."
Klasse, hoffentlich würde uns das Schiff nicht gleich um die Ohren fliegen.
"Okay?", quittierte ich seine Aussage in zweifelndem Tonfall.
Es flog uns nicht um die Ohren. Stattdessen veränderte sich die Anzeige an der Wand des Raums. Sie zeigte jetzt einen anderen der Außenbereiche des Schiffes. Die Apparatur war wohl eine Fernbedienung.
"Sieht langweilig aus. Kannst du das Programm nochmal wechseln?", scherzte ich.
Moritz drückte ein paar Knöpfe und die Wand füllte sich mit Anzeigen. Ha! Ich durfte sogar alle Programme auf einmal sehen. Es gab Bewegung auf mehreren Anzeigen. Tiere verschiedener Art und Menschen, die sich wieder auf die Straße trauten.
"Hoffentlich geht da nichts schief." Ich machte mir Sorgen wegen all der gefährlichen Kreaturen.
Auf einem der Bildschirme entdeckte ich Sergej und Dr. Pfaff, umgeben von den reglosen Körpern der Wölfe. Ihnen gegenüber stand nur noch eine Handvoll der Tiere. Sergej hatte sein Betäubungsgewehr weggeworfen und stellte sich ihnen mit bloßen Fäusten. Die Ärztin schien etwas zu schreien, wahrscheinlich dasselbe, das auch ich dachte: 'Was soll das?'
Einer der Wölfe setzte zum Sprung an und Sergej versenkte ihn noch im Flug mit einem Schlag seines neuen Arms tief im Schnee. Wie sehr sich das Blatt doch gewendet hatte. Wenn man diese Szene sah, konnte man sich kaum vorstellen, dass wir vor Kurzem noch vor den Wölfen geflohen waren.
Die restlichen Wölfe wollten sich nicht mehr mit Sergej anlegen und traten nun ihrerseits die Flucht an. Zielsicher beförderte die Ärztin einen nach dem anderen mit dem Betäubungsgewehr ins Reich der Träume.
Sie packten sich einen der Wölfe, um ihn zurück zum Schiff zu ziehen. Es sah mühsam aus und ich war froh, dass ich das nicht machen musste. Hoffentlich fragte keiner nach, ob ich half. Sergej war ja kräftig genug, und dass Dr. Pfaff selbst Hand anlegen musste, erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung.
Ich beobachtete die anderen Bildschirme. Die restlichen freilaufenden Tiere schienen friedlich zu sein. Eine Herde von Rehen - oder ihre außerirdischen Verwandten mit weißem Fell - wurde aufgeschreckt, als sich ihnen neugierig einige Menschen näherten.
Moritz drückte weiter auf dem Apparat herum und zwei Bildschirme wurden aus der Masse hervorgehoben.
"Oh!", stieß ich hervor. "Mist!"
Die Kameras folgten zwei Zielen, das eine schnell und das andere langsamer. Das schnellere Ziel war ein Konvoi von Fahrzeugen mit Tarnmuster.
"Die haben ja schnell etwas geschickt, das nicht abstürzen kann."
Der Anblick auf dem zweiten Bildschirm war sonderbarer. Moritz hatte einen Ausschnitt näher herangezoomt, so konnten wir Details erkennen. Es war ein Bär, auf dessen Rücken ein stämmiger, bärtiger Mann saß. Er war in weißes Fell gekleidet und bewaffnet mit einem langen Speer. War das derselbe Mann, den ich im Schiff gesehen hatte, bevor ich das Bewusstsein verlor?
Wenn wir beim Militär wussten, dass es unsere Mission im besten Fall nur behindern würde, war der Mann ein komplett unbeschriebenes Blatt. Klar, er hatte uns möglicherweise in die Tanks gebracht, aber aus welchem Grund? War er ein Verbündeter? Die KI hatte sich darüber ausgeschwiegen.
Sowohl Konvoi, als auch der Mann auf dem Bären bewegten sich auf das Schiff und damit auch auf Sergej und Dr. Pfaff zu.