Da wir Klara nach einer Stunde Planung nicht mehr wach bekamen, blieb uns noch etwas Zeit, bis wir in Aktion treten würden. Also beschloss ich, noch einen Schluck im Hort zu mir zu nehmen.
Der Hort war der Name, den Numbaka seiner Bar gegeben hatte. Wie ein Drache hatte er in seiner Zeit als Schrotti einen kleinen Schatz an Beutestücken zusammengesammelt. Interessant aussehende Hardware, die Hörner eines Mammuts, das sie selbst erlegt hatten, oder Relikte der alten Zivilisation. Die hingen im Eingangsbereich an den Wänden, zwischen düster flackernden, roten Lichtern. Sie bildeten einen starken Kontrast zum Raum, den ich jetzt durchquerte. Der Raum mit dem Medienpanel, auf dem ununterbrochen Unterhaltung lief, untermalt von den Stimmen grölender Kerle. Er diente als Brücke zwischen Verkaufsräumen und der eigentlichen Bar, in der die Atmosphäre wieder ruhiger wurde.
Darauf legte unser Boss Wert. Wer sich in diesem Bereich daneben benahm, flog hochkant raus und hatte schlechte Chancen, je wieder reingelassen zu werden. Kaum einer legte es auf ein Hausverbot an, aber hin und wieder kam es doch vor. Wenn Sergej oder Bull, der andere Rausschmeißer, mit den Unruhestifter fertig waren, mussten sie sich in der Regel ein paar Tage im MedCenter auskurieren und waren sowieso nicht mehr in der Lage, die Bar zu betreten.
Ich steuerte die Theke an, setzte mich auf einen freien Hocker und bestellte, nachdem ich die Aufmerksamkeit des Barkeepers gewonnen hatte, einen Zombie on Ice.
Das war ein Erdbeer-Cocktail, in dessen Mitte eine Walnuss schwamm, von der aus Miniatureiswürfel zum Rand des Glases und dann in einem Halbkreis daran entlang platziert waren. Das sollte ein Gehirn mit Wirbelsäule darstellen, wobei sich der Effekt beim ersten Schluck natürlich verlor. Numbaka hatte das Getränk als Scherz eingeführt, nachdem wir ihm von unseren Erlebnissen auf dem Raumschiff erzählt hatten, mochten sie nun tatsächlich geschehen sein oder nicht.
Der Erdbeeranteil im Getränk bestand leider nur aus Geschmacks- und Farbstoffen, die Walnuss war aber echt. Diese wurden auf einer der Agraretagen angebaut, und da die Bäume einen unglaublichen Ertrag abwarfen, waren sie, obwohl nicht synthetisch, sogar hier in der Unterwelt erschwinglich.
Das Getränk fand bei den Gästen Anklang und so blieb es im Sortiment. Ich trank jedes Mal ein Glas, wenn ich neben unseren Aufträgen die Zeit dazu fand, hier einzukehren. Aber nicht mehr als eines, damit der Kopf für später noch klar blieb.
Ich hatte den Cocktail zur Hälfte geleert, da setzte sich ein Kerl in einer staubigen Ganzkörperrüstung neben mich. Ein Minenarbeiter. Und seine Rüstung war nicht nur etwas staubig, nein, der Staub war so dick, dass er wie eine graue Statue aussah. Eine Wolke breitete sich aus, als er sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Hocker fallen ließ. Ich schaffte es nicht, rechtzeitig zu flüchten oder die Luft anzuhalten, und mir wehte eine Staubwolke direkt ins Gesicht. Ich hustete und drehte mich zum Barkeeper.
Der sah den Minenarbeiter finster an und zeigte auf den Ausgang. Neben der Eingangstür zum Hort wurden mehrere Clips auf Medienpanels abgespielt, die Personen bestimmter Berufe demonstrierten, was sie zu tun hatten, bevor sie die Bar betraten. Er hatte offensichtlich nicht darauf geachtet, sonst hätte er sich unter die Druckluftdusche gestellt, aus der er wie neu geboren und ohne ein Körnchen Staub herausgetreten wäre. Und ohne Anzug. Immerhin wollte man seinen Mitbürgern ab und an mal in die Augen schauen. Nun, manchen zumindest.
Der Mann erhob sich wieder und ging Richtung Ausgang. Bull saß mit verschränkten Armen in einer Ecke und beobachtete das Ganze mit einem breiten Grinsen. Dafür, dass er ihn nicht gestoppt hatte, würde ich mich noch revanchieren.
Ich sah nach dem Zustand meines Getränks, vielleicht war es ja noch genießbar. Als sich meine Augen, gefolgt vom Rest meines Körpers, der sich auf dem Barhocker hinterher drehte, auf den Weg zum Getränk machten, blieben sie an einem Zettel hängen, der daneben lag. Der Minenarbeiter musste ihn vergessen haben.
Ich griff ihn und sah, dass in simplen, äquidistanten Buchstaben schwarz mein Name darauf prangte. Ich drehte mich zum Eingang. Der Kerl war verschwunden.
Also musterte ich den Zettel genauer. Es war eher eine Karte, wie ich sie in der Unterwelt noch nie gesehen hatte. Auf der Rückseite befand sich ein Muster, das eine Ähnlichkeit mit eingeätzten Leiterbahnen aufwies. Versuchsweise stülpte ich den Handschuh über und fuhr mit den ausgefahrenen Sensornadeln darüber.
Ein Druck legte sich auf meine Ohren, als ob ich grade hundert Meter Höhenunterschied auf einmal hinter mich gebracht hätte und die Stimmen im Raum verblassten zu einem dumpfen Hintergrundgemurmel. Stattdessen erklang klar die Stimme einer Frau in meinem Ohr. Nicht aus diesem Raum, wie ich feststellen musste.
"Daniel Adler", ertönte es. Die Stimme war an den Enden der Worte abgehackt, wie bei einer Botschaft, die von einem billigen Leseprogramm vorgetragen wurde, wie es sie in der Zeit gab, aus der ich kam.
"Ja", antwortete ich. Der Barkeeper sah mich fragend an und ich zeigte auf mein Ohr und winkte ab.
"Wir wissen, wer Sie sind und was Sie tun."
Ich wollte zu einer weiteren Antwort ansetzen und wurde unterbrochen. Das war kein Gespräch, sondern eine Aufzeichnung.
"Auch was die anderen Mitglieder Ihrer Gruppe angeht. Wir verfolgen Ihre Aktionen seit einiger Zeit mit Interesse."
Unbehagen machte sich in mir breit. Mein Adrenalinpegel stieg, während eine Gänsehaut über meine Arme krabbelte. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Ob jemand beobachtete, wie ich reagierte? Vielleicht war das eine Falle, eine Finte des Sicherheitskorps, die mich in Panik versetzen sollte, damit ich mich und die anderen verriet.
"Aber keine Sorge, wir befürworten diese Aktionen. Wir sind keine Freunde des Rates, der die unteren Ebenen von Jahr zu Jahr stärker ausbeuten lässt, damit die Oberen in noch größerem Luxus baden können."
Ich zeigte auf mein staubiges Getränk und der Barkeeper tauschte es aus. Heute konnte ich wohl doch einen Schluck mehr vertragen.
"Wir wissen von ihrer Mission und sind an einem Gelingen interessiert. Nehmen Sie sich die Fächer 4D, 16F und 7C vor. Falls die Mission mit Erfolg gekrönt sein sollte, werden wir uns erneut bei Ihnen melden."
Danach folgte nur noch Rauschen und die Aufnahme war beendet. Die Umgebungslautstärke normalisierte sich wieder, die Geräusche der Bar empfand ich nun schon fast als störend.
Ein Rauchfaden stieg vor meinen Augen auf und ich sah erschrocken auf die Oberfläche des Tisches, wo sich die Karte in kleine silberne Tropfen auflöste und auseinanderfloss. Ich stieß mich von der Bar ab, wer wusste schon, ob der Dampf giftig war? Es hätte wenigstens eine Warnung kommen können. Etwas wie: "Mr. Adler, diese Nachricht vernichtet sich in drei Sekunden von selbst."
Wir wurden also beobachtet. Außer uns vier wusste nur noch Numbaka Bescheid. Sein restliches Personal war nicht eingeweiht und er war recht paranoid, was die Suche nach Überwachungsmaßnahmen anging. Bisher schien er damit auch sicher gefahren zu sein, da noch keine Männer in schwarzer Uniform in der Nacht die Tür eingetreten und uns abgeführt hatten.
Klasse, jetzt musste ich mich dreimal mehr umdrehen, bevor ich einen Kanal betrat. Ich nippte an meinem frischen Zombie und ließ dann das Glas zwischen den Händen rotieren. Sie hatten einen Arbeiter aus den Minen als Überbringer der Nachricht geschickt. Das war entweder eine Verkleidung gewesen oder die unbekannten Beobachter hatten dort Kontakte oder Unterstützer.
Der Stuhl neben mir wurde beiseitegeschoben und Sergej setzte sich darauf. Ob er jemand anderen mit ins Boot geholt hatte, weil er mir nicht genug vertraute? Aber wieso wandten sie sich dann an mich? Das ergab keinen Sinn. Außerdem schadete es der Gruppe, wenn ich sowas glaubte.
Er bestellte sich auch etwas. Keinen Alkohol, sondern eine Synthonade, im Prinzip nur Wasser mir Farbstoffen, künstlichem Geschmack, Kohlensäure und Koffein. Wir stießen an und saßen schweigend nebeneinander, beide den eigenen Gedanken folgend. Was ihm wohl vor dem Auftrag durch den Kopf ging? Womit er sich bis zur möglichen Antwort auf alle Fragen ablenkte?
Ich hatte es mir zuerst zur Aufgabe gemacht, die beiden Kinder sicher durch diese Welt zu bringen. Es hatte sich aber gezeigt, dass sie unter den Aufgaben, die sich ihnen hier stellten, rasant wuchsen und eigentlich besser zurechtkamen als ich.
Klara war in den ersten Wochen in ein Dauertief verfallen, vermisste ihre Eltern und ihren Opa. Ich hörte, wie sie sich abends im Zimmer nebenan in den Schlaf weinte. Sie vermisste sogar das Schneehörnchen, das sie nur so kurz gekannt hatte. Ich versuchte, sie mit Scherzen aufzuheitern, hatte aber nur mäßigen Erfolg. Wahrscheinlich war ich nicht überzeugend genug, musste mich ja selbst noch zurechtfinden.
Sobald sie aber anfing, die Umgebung zu erkunden, und auf die ersten Tiere hier unten stieß, so merkwürdig diese teilweise auch sein mochten, hellte sich ihre Stimmung auf. Nach einer Weile schien es fast so, als wären alle Probleme vergessen.
Ihre Fähigkeit, mit Tieren zu kommunizieren, war selbst in dieser Gesellschaft einzigartig. Ein großer Vorteil für uns, solange sie unentdeckt blieb. Leider gab es hier nicht viele Tiere, die sich nützlich einsetzen ließen.
Wir saßen solange an der Theke, bis die letzten Kunden, die Hartnäckigsten von ihnen, die dem Leben da draußen so lange wie möglich entgehen wollten, von Bull höflich auf die Straße gesetzt wurden. Dann gingen auch wir, weckten Klara und holten Moritz aus der Werkstatt, der immer noch am Werkeln war.
Auf dem Weg zu unserer Mission erzählte ich ihnen von der mysteriösen Botschaft.