Wie sollten wir an ihn herankommen, wenn ihn so ein großes Gefolge begleitete? Jeder seiner Begleiter erhöhte die Chance, dass wir als Eindringlinge erkannt und sofort rausgeworfen wurden. Klar, Sergej konnte sie alle verhauen, damit wir uns anschließend ihren Boss zur Brust nehmen konnten, aber das war wohl kaum, was wir wollten. Ich blickte Moritz an, der bleich geworden war und genauso ratlos aussah, wie ich mich fühlte.
Vielleicht erkannte das Ratsmitglied in ihm ja wirklich seinen Bruder, doch sein Blick, den er zufrieden über die versammelte Menge gleiten ließ, blieb nicht an ihm hängen. Nun, ich hätte sicher auch keinem der vielen Leute direkt ins Gesicht geschaut, die inzwischen den Platz bis in die hintersten Winkel gefüllt hatten und sich rege über seinen Vorredner unterhielten.
Dafür konnte ich die Anonymität in der Menge nutzen, um ihn genauer zu mustern. Thulius’ kurzes Haar war weiß, aber immer noch voll und er bewegte sich bedächtig. Das konnte aber auch nur ein Tick sein, den er der Ehrwürdigkeit seines Amtes wegen angenommen hatte. Das Gesicht war glatt, bis auf wenige, feine Falten, die ich von hier aus sehen konnte.
Ich hatte mir, als ich das erste Mal vom Rat erfuhr, vorgestellt, dass es alte Männer in Tuniken waren, die in einem von Säulen umgebenen Forum über das Wohl der Zitadelle diskutierten. Wenn man die Säulengänge an den Rändern des Platzes betrachtete und sein Alter berücksichtigte, stimmte das zumindest teilweise.
Er trug allerdings keine Tunika, sondern einen einfachen Synthetikanzug. Schwarze Hose und graues Oberteil mit einem verwobenen Goldmuster an den Säumen. Auf der linken Brust ein Symbol der Zitadelle, das jedem zeigte, dass er einer der drei Obersten Räte war. Die Ärmel weiteten sich zum Ende hin. Falls ihm kalt wurde, konnte er seine Hände darin verschwinden lassen. Nicht, dass es hier einen Grund dazu gab. Die warmen Sonnenstrahlen, die auf meiner Haut tanzten, trotzten der Tatsache, dass wir außerhalb der Mauern von einer Eiswüste umgeben waren.
Ich wandte den Blick von ihm ab und beobachtete den Bereich, der zwischen uns lag. Thulius war nur fünf Meter von uns entfernt. Wir konnten also mit Leichtigkeit die Absperrung durchbrechen und ihn erreichen, wenn wir es wirklich wollten. Und dann?
Ich kam nicht dazu, diesen Plan weiter zu verfolgen, denn jetzt trat er selbst in Aktion. Er erhob seine Hände vom Rednerpult, vielleicht nur einen halben Zentimeter, und die Gespräche ebbten ab. Irgendwo hinter uns hörte ich noch das Geräusch einer hellen Kinderstimme, die aber einen Augenblick später ebenfalls verstummte.
"Meine lieben Bürgerinnen und Bürger, ich möchte Ihnen noch einmal persönlich für Ihr so zahlreiches Erscheinen danken. Das zeugt von Vertrauen, das uns als Rat durch all die Jahre getragen hat. All die Jahre, die wir unsere Zitadelle nun Heimat nennen dürfen." Seine Stimme war fest, strahlte Erhabenheit und gleichzeitig Bedächtigkeit aus. "Danke für das Vertrauen, das Sie auch mir selbst in den vierzig Jahren meiner Dienste im Rat entgegengebracht haben."
Er fuhr damit fort, Lobgesänge auf die Fortschritte in der Gesellschaft zu halten, die der Rat ermöglicht hatte. Natürlich vergaß er, zu erwähnen, dass die sich fast ausschließlich auf das Leben der Oberweltler auswirkten. Seine Wortwahl war so schwülstig, dass mir beinahe schlecht wurde.
An den richtigen Stellen hielt er einen Moment inne, damit die versammelte Menge jubeln und applaudieren konnte. Er war so eine Art Star und Symbol für die Sicherheit, die die Menschen hier genossen. Selbst wenn es einen Angriff der Reformer auf das Machtgefüge des alten Rates gegeben hatte, bezweifelte ich, dass auch nur einer der hier versammelten Menschen Thulius gegen einen der Neubewerber austauschen wollte. Die wirkten ihm gegenüber alle blass und unscheinbar.
Nach all den Lobgesängen kam er endlich auf den Punkt mit Reformern zu sprechen.
"Wie Sie in den Medien verfolgen konnten, gibt es eine kleine Gruppe in unserer Bevölkerung, die den Rat vernichten und die Mauern einreißen möchte, die uns vor der Außenwelt schützen. Sie sind blind und haben nicht gesehen, was wir damals gesehen haben. Andere haben es vergessen und einige wollen die Zitadelle einfach nur ins Chaos stürzen."
Die Menge wartete gebannt, dass er fortfuhr.
"Das ist eine Sache, die nur wenige Menschen wissen, aber ich habe damals dort draußen meinen einzigen Bruder verloren. Ihn und meine Verlobte. In einer Katastrophe, der nicht nur sie, sondern auch viele tapfere Mitglieder unseres Sicherheitskorps zum Opfer gefallen sind. Diese Katastrophe hält immer noch an. In all den Jahren haben wir ununterbrochen nach dem Ende Ausschau gehalten und dem Zeitpunkt, an dem wir die Tore wieder öffnen können. Doch dieser Moment ist noch nicht gekommen. Wenn die Tore jetzt geöffnet werden, stirbt nicht nur jeder, der die Zitadelle verlässt, sondern auch jeder, der hier drinnen bleibt."
Ich hatte erwartet, dass die Menge anfing, zu raunen und zu tuscheln, dass sie mehr erfahren wollte, aber sie war gebannt. Zufrieden und sicher in den Mauern der Zitadelle und in Hoffnung, dass das auch so blieb. Wie konnten sie das einfach so hinnehmen?
"Ich weiß nicht, wann es wieder einen Weg nach draußen geben wird. Ich weiß nicht einmal, ob ich selbst diesen Tag erleben werde. Aber er ist noch nicht gekommen. Deswegen müssen wir gemeinsam aufstehen und uns gegen die Terroristen zur Wehr setzen. Sie nennen sich Reformer, um die rechtschaffenen Bürger der Zitadelle zu täuschen. Glaubt dieser Lüge nicht!"
Thulius machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
"Wenn Sie mir erneut Ihr Vertrauen schenken, werde ich persönlich dafür sorgen, dass wieder die nötigen Ressourcen in die Sicherheit innerhalb der Zitadelle investiert werden. Wir brauchen entschlossene, junge Menschen in den Reihen unseres Sicherheitskorps. Wir brauchen Techniker in unseren Reihen, die solchen Terrorakten vorbeugen und sie komplett verhindern können. Es darf nicht sein, dass die Bevölkerung ganzer Etagen im Dunklen sitzt, Furcht leidet und als Instrument für die fehlgeleiteten Interessen Einzelner dient."
Zustimmung und Applaus aus der Menge folgten. Nach einer Weile, nachdem er den Jubel zu Genüge genossen hatte, erhob er noch einmal die Hände, um sie zur Ruhe zu bringen. Moritz neben mir war unruhig. Stapfte von einem Bein aufs andere. Er sah so aus, als wollte er jetzt selbst die Bühne stürmen.
"Ich habe einen detaillierten Sicherheitsplan ausgearbeitet. Den können Sie wie gewohnt im Mediennetzwerk finden. Ein Gedanke oder das Wort Thulius reichen aus."
"Was ist das für eine Katastrophe, die uns heimsucht, Max?", rief Moritz. Hoffentlich machte das jetzt unseren Plan nicht zunichte. Ich sah schon, wie die Security gleich zu uns kam und einen zappelnden Moritz unter den Armen packten, vom Boden hoben und davontrugen.
Thulius hatte seine Stimme gehört, denn er hatte gerade Luft geholt, um den nächsten Satz zu beginnen, während die Menge gebannt schwieg. Er blinzelte kurz, als wollte er das Gehörte abschütteln und setzte dazu an, seine Rede fortzuführen. Aber Moritz ließ nicht locker.
"Ich weiß, was deinem Bruder passiert ist. Er ist nicht tot!"
Der weißhaarige Mann stockte. Er sah sich verblüfft um, woher die Stimme kam, die ihn unterbrochen hatte. Ein Politiker in der Zeit, aus der ich kam, hätte einen Zwischenruf ignoriert oder ihn humorvoll in seine Rede eingebunden. Hätte einfach weitergesprochen. Thulius war offenbar keine Opposition gewohnt.
Die Störung hatte außer ihm, den Menschen auf der Bühne und ein paar der Umstehenden, niemand gehört. Doch ihn hatte sie aus dem Konzept gebracht und er suchte nach dem Störenfried. Wie auch zwei der Siks, die mit ihm auf der Bühne standen.
"Ich stehe hier unten, Max. Sieh mich an!"
Er sah. Und er erkannte. Seine Augen weiteten sich, seine Knie gaben nach und er umfasste mit beiden Händen das Rednerpult, um nicht vor Schreck zusammenzubrechen.
Dann stob ein roter Nebel auf. Hinter ihm, aus der Schulter eines seiner Sekretäre. Einen Bruchteil später folgte ein Knall, dann der Aufschrei der Menge.
Der Sekretär wurde nach hinten gestoßen und verschwand aus meinem Blickfeld. Die Siks, die gerade noch dabei waren, auf uns zuzustürmen, zerrten nun Thulius vom Rednerpult weg, der immer noch in Moritz Richtung starrte. Dann schirmten sie ihn mit ihren Körpern ab und schoben ihn zum Gang zurück.
Ein zweites Team des Sicherheitskorps ging hinter dem Pult in Deckung. Einer schwenkte ein Gerät in der Hand herum. Er schien die Umgebung zu scannen. Der andere richtete ein Gewehr auf die Häuserwand im hinteren Bereich des Platzes. Zwei Drohnen schwirrten über unsere Köpfe hinweg, in dieselbe Richtung.
Auf dem Medienpanel, das zuvor noch in Nahaufnahme Thulius gezeigt hatte, erschienen jetzt Evakuierungshinweise.
"Folgen Sie den Anweisungen. Bewahren Sie die Ruhe!"
Die Lautsprecheranweisungen hinderten die Menge nicht daran, trotzdem in Panik auszubrechen. Meiner Meinung nach machten sie es sogar noch schlimmer. Diese Menschen hier waren die Sicherheit in der Oberwelt gewohnt, das hier war neu für sie. Der Trieb, der einen Menschen dazu verleitete, entweder panisch zu fliehen oder zu kämpfen, ließ sich mit so einer Ansage nicht unterdrücken.
Die linke obere Hälfte des Rednerpults verpuffte in einer Staubwolke und von dem Sik, der sich eben noch dahinter versteckt hatte, war nichts mehr zu sehen. Der andere ergriff die Flucht, nachdem ein weiterer Knall folgte.
Sollten wir auch fliehen? Dafür gab es nur einen Weg, der nicht durch die panischen Massen versperrt war. Thulius hinterher. Aber irgendwie mussten wir auch verhindern, dass ihm etwas passierte, sonst war diese Spur verloren.
"Los, auf die Bühne!", rief ich meinen Begleitern zu. "Ich schnappe mir den Scanner, Sergej das Gewehr und Moritz folgt Thulius."
Sie zögerten.
"Jetzt, oder nie!", rief ich und das rüttelte sie wach. Sergej hob den Arm und schlug die Absperrung ein, die knirschend und quietschend seiner übermenschlichen Kraft nachgab. Dann stürmten wir hindurch.
"Lass dich nicht erschießen, benutz die Granate, wenn es sein muss!", rief ich Moritz hinterher, als ich hinter das Pult schlitterte. Sergej ging neben mir in Deckung und überprüfte das Gewehr.
Das Adrenalin brachte mich auf Hochtouren und ich ignorierte den halben Sik, der dort noch lag. Ich versuchte es zumindest, hielt die Luft an und nahm seinen schlaffen Händen den Scanner ab. Ich schloss meine Augen und andere Bilder erschienen. Ein Blick auf die Menschen, die wild durcheinander rannten und die Häuser, die immer näher kamen.
War das der Videofeed der Drohnen? Ja, das mussten die Drohnen sein. Die Handschuhe funktionierten also wie geplant. Ein kleiner Lichtschimmer in dieser Katastrophe. Der Umriss eines Mannes wurde im Fenster eines der Gebäude markiert und Informationen tauchten am Rand meines Sichtfeldes auf.
"Okay, eine der Drohnen hat einen Mann markiert. Er ist bewaffnet und ... oh er lädt seine Waffe nach!", gab ich minimal panisch an Sergej weiter. Wenn es mies lief, leisteten wir dem Sik gleich Gesellschaft.
"Ja, die Markierung zeigt mir das Gewehr an", betätigte Sergej, vollkommen ruhig, dann schoss er.
"Du hast ihn verfehlt! Aber er geht in Deckung."
"Scheiße! Der Schuss ist nicht mal bis zu seinem Fenster gekommen. Miese Ausrüstung."
Ich wartete darauf, dass er wieder auftauchte, doch nichts passierte. Dann sah ich seine Markierung weiter hinten im Raum.
"Er flieht!", rief ich. "Ich schicke die Drohnen hinterher. Hilf du Moritz."
"Bist du hier sicher?" Sergejs Stimme klang besorgt. Ja, da schien der weiche Kern durch, der sich irgendwo hinter seiner harten Fassade verbergen musste.
"Falls er das Gebäude verlässt oder irgendwo ankommt, von wo er eine Sichtlinie zu mir hat, hau ich ab."
"Bleib am Leben", sagte Sergej, drückte sich vom Pult ab und rannte in Richtung Gang.
Ich steuerte eine der Drohnen durch das offene Fenster. Die andere war so eingestellt, dass sie irgendeine Formation mit der Ersten hielt. Ich wollte lieber keinen Test riskieren, ob ich beide gleichzeitig steuern konnte, nur um sie dann gegen die Wand zu fliegen.
Die Türen glitten automatisch auf, als sich die Drohnen näherten und hindurch flitzten. Vor der Wand dahinter musste ich abbremsen. Wow, an die Steuerung musste ich mich erst gewöhnen.
Ich schickte sie den Gang entlang, die Wände sausten an mir vorbei und der Abstand zwischen ihnen und dem Mann verringerte sich beständig. Hätte ich Zugriff auf das Gebäude gehabt, hätte ich ihn einfach einsperren können. Ging nicht und die Drohnen waren unbewaffnet. Ich musste also kreativ werden, um den Attentäter zu stoppen.
Der Mann erreichte das Ende des Ganges und wollte gerade durch die Tür, da drehte er sich um. Hatte wohl bemerkt, dass er verfolgt wurde. Er richtete das Gewehr auf die Leitdrohne aus.
Ich befahl der ersten Drohne, Vollgas zu geben, direkt auf den Schützen zu. Dann versuchte ich, die Zweite zu steuern. Und es klappte!
Mit der Zweiten flog ich einen Schlenker. Genau rechtzeitig, um der Explosion zu entgehen, in der sich die Erste auflöste. Dann korrigierte ich den Schlenker und hielt durch die Staubwolke, die die Erste hinterlassen hatte, genau auf die Markierung des Schützen zu. Die zeigte jetzt auf die Stirn des Attentäters.
Das letzte Bild, das mir die Drohne schickte, war der Mann, der mit verblüfftem Ausdruck genau in die Kamera blickte. Dann zeigte der Videofeed nur noch eine Ameisenschlacht, Weiß gegen Schwarz, die wild durcheinander wuselten. Ich war für die Schwarzen.
Ja, das hatte gesessen und ich bezweifelte, dass er jetzt noch floh.
Ich legte den Scanner beiseite, öffnete langsam die Augen und zuckte zusammen. Ein halbes Dutzend Siks hatte mich umstellt und sie richteten ihre Waffen auf mich.
"Hände über den Kopf und keine Bewegung!", brüllte mich einer von ihnen an.
Es gab keinen Fluchtweg. Selbst wenn ich wahnsinnig genug gewesen wäre, vor ihnen wegzurennen, die Menschenmassen versperrten immer noch den ganzen Platz. Es waren einfach zu viele Siks. Ich war nicht bewaffnet, war weder kugelsicher, noch verfügte ich über Superkräfte. Es erschien mir irgendwie sinnvoll, dass ich mich jetzt ergab.
Ich hob langsam die Hände.