Das Gras des Hügels zitterte, als er seinen schweren Körper den Hang hinaufbewegte. Tiefe Fußspuren zeugten vom Weg, den er bis hierher zurückgelegt hatte. Man sah es ihm zwar nicht an, aber wenn er sich auf die Waage stellte, würde sie in etwa das vierfache Gewicht eines normalen Mannes seiner Statur anzeigen. Bei seiner Markteinführung hatten sie damit geworben, dass nur das neuartige, weiße Niveum für seine Hülle verwendet wurde, das zugleich stabil und leicht war.
Einem Menschen auf den Fuß treten sollte er aber trotzdem nicht.
Während er das dachte, tauchten in seinem Speicher Verknüpfungen zu den verwendeten Begriffen auf. Das Wort Mensch erzeugte dabei eine gigantische Anzahl. Niveum verwies hingegen nur auf acht, die sich selbst aber wieder verzweigten. Niveum wurde aus den Kratern der Meteoritenschauer gewonnen, die zu Beginn der Eiszeit auf dem afrikanischen Kontinent oberhalb des Äquators bis zum Mittelmeer niedergegangen waren. Die stürzten die Regierungen in diesen Gebieten, die ohnehin schon unter wiederkehrenden Unruhen litten, vollkommen ins Chaos. Die Länder zersplitterten und kleine Diktaturen schossen wie Pilze aus dem Boden, bis die führenden Nationen der Welt das Gebiet befriedeten und fortan die Einschlagstellen plünderten. Solange, bis das Klima es nicht mehr zuließ. Niveum wurde hauptsächlich im Zitadellenbau und den zugehörigen, neu entstandenen Industriezweigen eingesetzt. Brutus selbst war ein Produkt eines dieser Zweige. Er war ein Baustellenroboter.
Zusammen mit anderen seiner Art hatte er am Äußersten Ring dieser Zitadelle gearbeitet. Als das Projekt fluchtartig eingestellt wurde, hatte man sie zurückgelassen, bis ihre Batterien nach zwei bis drei Tagen, je nach Modell des Roboters, entladen waren. Er hatte drei Tage ausgehalten. Es hatte ihm nichts ausgemacht, untätig zu sein, denn als Roboter kannte er keine Langeweile. Zumindest kannte er sie damals nicht. Das sollte sich ändern, als seine neue Herrin ihn wieder zum Leben erweckte und aufrüstete.
Als Erstes hatte sie die alten Robotergesetze überarbeitet, die in ihm verankert waren. Keine Menschen verletzen? Ein Relikt der Vergangenheit, in der die Welt noch kein so finsterer Ort war. Seitdem hatte er sehr viele Menschen verletzt. Außer Cassandra natürlich, die nun an Stelle aller anderen Menschen in diesem ersten und wichtigsten Gesetz stand. Sie durfte er nicht verletzen und ihr Wunsch war ihm Befehl.
Dann hatte sie ihn mit einem größeren Speicher und einer Schnittstelle zu den Datenbanken der Zitadelle versehen. Nun besaß er unglaublich viel Wissen, das er aber nur selten ausschöpfen konnte. Dank einer Aufwertung seiner künstlichen Intelligenz verspürte er nun oft Langeweile. Besonders, wenn er so simple Aufgaben, wie 'Tu dem bösen Mann dort weh' ausführen sollte. Darauf verwendete er nur einen Bruchteil seiner Kapazitäten. Mit dem Rest spielte er. Ein paar tausend Kartenspiele, Strategiespiele oder Aufbausimulationen aus der Voreiszeit gleichzeitig.
Wenn er an der Ladestation in Cassandras kleinem Zimmer hing, verband er sich mit dem Netzwerk des Ringes und mit dem Mediennetz der Zitadelle. Auf das konnte man zugreifen, wenn man wusste, wie. Cassandra nutze es zwar auch, aber nur zur Unterhaltung und um die neuesten Nachrichten aus der Welt der Schönen und Reichen abzufragen. Er konnte - selbst mit seiner hochwertigen KI - nicht nachvollziehen, was ein Mensch daran interessant finden konnte. Dass man über die Verbindung auch kommunizieren konnte, wusste sie nicht und da sie keinen Wunsch geäußert hatte, es tun zu wollen, sagt Brutus auch nichts. Mit wem in der Zitadelle sollte sie auch reden wollen?
Jetzt hatte sie schließlich hier jemanden, mit dem sie es konnte. Von Angesicht zu Angesicht. Das machte ihn nicht eifersüchtig, im Gegenteil. Es war gut und nur gerecht, denn er selbst hatte schon lange eine Freundin im Netzwerk der Zitadelle gefunden, mit der er sich jedes Mal unterhielt, wenn sich seine Batterien aufluden.
"Brutus, Wachmodus!", holte ihn Cassandras Stimme in das langweilige Leben der Menschen zurück. Selbst um das ganze sichtbare Gebiet zu überwachen, das diesen Hügel umgab, bedurfte es nur wenig Aufmerksamkeit. Seine eingebauten Scanner alarmierten ihn automatisch, wenn etwas Interessantes geschah. Die Schafherde, die am Hang unter ihnen graste, die Menschen, die auf den Feldern arbeiteten, die kleine Gruppe, die Kampfsportübungen auf dem Platz in der Mitte der Siedlung vollzog. Selbst die Menschen innerhalb der Häuser konnte er anhand der Wärme erkennen, die sie ausstrahlten.
"Du hast ihn ganz alleine gebaut?", fragte der Junge, der mit seiner Herrin und ihm den Hügel hinaufgestiegen war. Er hieß Moritz und war Mitglied dieser neuen Gruppe, die vor ein paar Tagen im Ring aufgetaucht war.
"Nein, er war ein Bauarbeiterroboter, den sie hier vergessen haben. Ich habe ihn nur zu dem gemacht, was er heute ist. Upgrade der KI und Datenbanken, Waffen, bessere Batterien, Datenschnittstellen, Sensoren und natürlich sein stylisches Outfit."
Wenn sie sein gesamtes Potenzial wenigstens ab und zu nutzen würde. Ein irrationaler Gedanke, das registrierte sein Algorithmus im selben Augenblick, in dem er ihn geformt hatte.
"Gibt es noch mehr Roboter im Ring?", fragte Moritz.
"Kaum einer in so gutem Zustand wie Brutus. Bei ein paar habe ich Ersatzteile geplündert. Wenn man sie alle zusammensucht, würden die Teile vielleicht noch für ein oder zwei weitere Modelle reichen. Aber der Aufwand wäre zu groß. Die Banden kontrollieren einfach zu viele Gebiete, da müssten wir schon in den Krieg ziehen, um die zu bekommen."
"Na jetzt sind ja wir da. Wenn wir die letzten Teile für El Robo zusammensuchen, müssen wir uns eh mit den Banden auseinandersetzen. Mit dem richtigen Plan ist das auch nur halb so gefährlich. Nachdem wir jetzt die Pläne des Rings wiederhaben und deine Kameras den halben Ring überwachen, was kann da noch schief gehen?"
"Du bist ganz schön optimistisch, dafür, dass du vor ein paar Tagen erst hier gelandet bist."
"Ich habe die besten Freunde, die man sich vorstellen kann. Und ...", Brutus registrierte, wie sich der Puls des Jungen beschleunigte, " ... das süßeste und klügste Mädchen in der ganzen Zitadelle ist an meiner Seite."
Sie gab ein erfreutes Quietschen von sich und wuschelte ihm durch sein Haar. Bei seinem Versuch, sich zu wehren, rollten sie beide schließlich den Hang hinab, hinaus aus Brutus' direktem Sichtfeld. Er hörte keinen Befehl, dass er ihr folgen sollte. Von hier aus konnte er immer noch auf sie aufpassen und hatte das Gebiet im Blick, deswegen sah er auch keinen Grund dazu.
Seiner Meinung nach war es übrigens keine gute Idee, noch mehr Bauarbeiterroboter zu reaktivieren. Es musste nur einer dabei sein, dessen KI nicht seine unerschöpfliche Geduld besaß oder wenigstens eine unerschöpfliche Spieledatenbank, und eine Katastrophe würde ausbrechen.
Mit dem Kampf gegen die Banden könnten sich die Neuankömmlinge auch überschätzen. Die führten schon seit Jahren Krieg gegeneinander, ohne dass sich am Machtgefüge viel getan hatte. Er hatte die nach der Gerichtsverhandlung bekannt gewordenen Informationen über sie einige Millisekunden studiert, war also vollkommen im Bilde. Nur einer von ihnen war ein wirklicher Kämpfer. Einer war ein Bastler und einer ein Hacker. Das Mädchen war scheinbar nichts weiter als ein Mädchen, das Tiere liebte. Brutus hatte sich noch nicht entschieden, ob ihre Empathie den Schafen gegenüber ein nützliches Talent war.
Letztendlich waren sie in der Zitadelle nur so lange mit ihren Raubzügen durchgekommen, weil sie keine ID hatten. Das war den Verbrechern hier im Ring egal, denn sie hatten sowieso keine Möglichkeit, nach Leuten mit Chips zu suchen. Aber, dass zumindest der Hacker nach der Genesung seiner Rippenbrüche Kampfsport und die Handhabung von Waffen betrieb, bewies eine gewisse Entschlossenheit. Brutus stellte mehrere Szenarien auf, die seine Gruppe gegen die Banden in die Schlacht schickte, erreichte aber bei keiner eine größere Erfolgschance als 37,8379 Prozent. Auf Basis dieser Ergebnisse berechnete er, was das für den Staus quo des Rings bedeuten würde. Im besten Fall würde sich er sich leicht verbessern, sie würden aber aufgeben oder ihr Leben dabei verlieren.
Seine Aufmerksamkeit wandte sich dem Bereich der Kuppel zu, an dessen Außenseite sich Fenster befanden. Die Tierempathin befand sich dort, zusammen mit dem Schäfer. Bei ihm registrierte Brutus leicht erhöhte Körpertemperatur und nervöse Bewegungen. Das Mädchen, Klara, war hingegen ganz ruhig. Er bemerkte Wärmesignaturen von außerhalb der Kuppel, die sich an seinem Rand hin und her bewegten und schließlich vor dem Mädchen zum Stehen kamen. Das war eine interessante Alternative zur Überwachung der langweiligen Dorfbewohner. Diese Aufgabe wies er einem automatischen Hintergrundprozess zu, der ihn alarmieren würde, falls wirklich etwas geschah. Dann bewegte er sich zum Ort des Geschehens. Er wog seine Handlungen gegen Cassandras vagen Befehl ab und kam zu dem Schluss, dass er ihm immer noch folgte.
Als er die Fenster erreichte, hatte sich bereits eine kleine Schar Dorfbewohner eingefunden, die staunend an Klara vorbei nach draußen starrte. Dort hatte sich eine Gruppe verschiedener Tiere versammelt, die dem Starren der Menschen mit neugierigen Blicken begegnete. Weitere Dorfbewohner näherten sich, darunter auch Heinz, der Anführer der Dorfmiliz.
"Was ist denn hier los?", brüllte er die Gruppe an, und als er einen Blick nach draußen geworfen hatte, wich er einen Schritt zurück. "Bei der Spitze der verräterischen Zitadelle, was ist denn das? Reicht es nicht, dass wir uns jeden Tag vor Angriffen der Banden fürchten müssen? Nein, jetzt steht auch noch eine Meute hungriger Raubtiere vor dem Fenster und wartet, dass die Mauern einstürzen?"
Solange er die Miliz anführte, hatten die Dorfbewohner tatsächlich allen Grund dazu, sich vor den Angriffen der Banden zu fürchten. Mauer und Miliz schreckten zwar die Banden ab, wenn eine es aber tatsächlich darauf anlegte, würden das Ganze in einem Massaker enden. Brutus berechnete unterschiedliche Angriffsszenarien der Banden und kam zu dem Schluss, dass zwischen 67,3481 und 84,7743 Prozent eines Angriffstrupps aber alle Siedler sterben würden. Wenn er eines bei seinen Strategiespielen gelernt hatte, dann sorgsam mit seinen Ressourcen umzugehen. Doch er war nur ein einfacher Wachroboter, was konnte er also gegen den Zustand dieses Ortes tun?
Klara drehte sich um und schien sauer. "Gehen Sie weg, Sie machen ihnen Angst!" Brutus registrierte, dass die Tiere als Reaktion auf diesen Ausruf selbst unruhiger wurden. Sie fletschten die Zähne und spannten ihre Muskeln an. Sie waren kampfbereit, selbst die eigentlich friedlichen Spezies. Brutus durchforstete die Datenbanken über die bekannte Fauna und kam zu dem Schluss, dass dieses Verhalten sonderbar war. Steckte in dem Mädchen doch mehr, als das gesammelte logische Wissen der Menschen hergab?
Brutus durchforstete nun Werke der Fiktion, die natürlich nicht mehr als Ideen liefern konnten. Übertrug das Mädchen etwa ihren Gemütszustand auf die Tiere im Freien? Viele Tiere reagierten auf körperliches Verhalten anderer Lebewesen. Aber in dem Maß, in dem diese Tiere reagierten? Durch eine Scheibe hindurch, die Geräusche dämmte und die Insassen gegen den Geruchssinn der Tiere abschirmte? Da musste also noch mehr dahinterstecken. Das war eine spannende Abwechslung und er würde es beobachten.
Der Anführer der Dorfmiliz lachte nervös. "Ich soll diesen Monstern Angst machen? Siehst du dieses gepanzerte Vieh da? Wenn das gegen die Scheibe rennt, sind wir alle tot!"
Brutus analysierte die Scheibe, Masse und potentielle Geschwindigkeit des Tieres. Seine Aussage war eindeutig nicht korrekt. Es handelte sich spezielles Panzerglas, das dieser Kollisionen ohne einen Kratzer standhalten würde. Zusätzlich waren die wenigen Fensterpartien in der Zitadelle mit einem Mechanismus versehen, der eine Schale aus mehreren Schichten Niveum davor herabließ und ein Kraftfeld aktivierte, falls sie doch brachen.
In dem Moment kam Bewegung in die Schafherde. Sie trotteten zwischen den Zuschauern hindurch, drückten sie beiseite und bildeten einen dichten Teppich aus Wolle um den Chef der Miliz, der statt der Tiere hinter dem Fenster, jetzt verdutzt die Schafe ansah. Es gab kein Entkommen mehr für ihn. Sie hatten ihn fest umschlossen und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich anzupassen und mit den Schafen in Richtung der Dorfmitte zu laufen. Dabei zeterte er laut und versetzte den Schafen mit seinem Gewehrkolben kräftige Hiebe. Brutus berechnete den Schaden, den er verursachte und kam zu dem Schluss, dass sie dank der dicken Wollschicht nichts davon spürten. Dann legt der Mann auf eines der Schafe an.
"Bist du noch zu retten, du Depp?", brüllte der Schäfer wüst los. "Wenn du einem meiner Tiere etwas antust, schleif ich dich persönlich in den tiefsten Minenschacht der Zitadelle und werf dich den Monstern zum Fraß vor!"
Bleich setzte Heinz das Gewehr wieder ab und verschwand - begleitet vom Gelächter der anderen Zuschauer - mit der Herde hinter dem Hügel.
Brutus Sensoren wiesen ihn darauf hin, dass auch die Tiere vor dem Fenster sich bewegten. Das taten sie bereits, als sich die Schafe in Bewegung gesetzt hatten. Weil sich das Mädchen nicht mehr auf sie konzentriert hatte? Auch das würde er im Auge behalten. Sie holte die Tiere auch nicht wieder zurück. Stattdessen machte sie sich ebenfalls auf den Weg zurück zur Siedlung.
"Mann Brutus, warum bist du nicht mehr auf dem Hügel?", ertönte Cassandras mahnende Stimme hinter ihm. Sie war weniger streng als sonst, was daran liegen konnte, dass sie außer Atem war. Brutus entdeckte einen Grashalm in ihren Haaren.
"Das Gebiet wird immer noch überwacht. Keine Bedrohungen wahrgenommen", trug Brutus mechanisch seinen Statusbericht vor. Den Grashalm erwähnte er nicht. Seine Stimme hörte sich seiner Meinung nach schrecklich an. Das war kein Bereich, in dem seine Herrin ihr Bestes gegeben hatte. Das war ein anderer Grund, warum er so wenige seiner Gedanken preisgab.
"In Ordnung. Zeit zum Aufladen!"
Das hatte am Anfang noch einen langen Marsch bedeutet. Aber mit Moritz Hilfe hatten sie in einem Raum, der nicht unweit der Kuppel lag, ein neues Quartier für Cassandra eingerichtet. In der Siedlung selber wäre das nicht möglich gewesen. Zu wenig Zugangspunkte zum Netzwerk und zur Energieversorgung. Außerdem wollte sie nicht in einer Holzhütte leben.
Die Streifzüge nach den konfliktfrei zugänglichen Ersatzteilen für den Kampfanzug ihres Großvaters hatten sie jedes Mal mit kleinen Umzugsaktionen verbunden, Ausrüstung aus ihrem alten Quartier in das neue gebracht, bis nach einer Woche alles Wichtige ein neues Zuhause gefunden hatte.
Nach einem kurzen Spaziergang kamen sie in ihrem neuen Domizil an. Das Sicherheitssystem, das unbefugte Personen in einen Haufen dampfenden Fleisches verwandeln würde, ließ sie passieren. Der Raum war etwas größer als der Letzte, die Anordnung war aber identisch. Er schritt gehorsam auf das Podest seiner Ladestation und verband sich damit.
Eine Masse an Daten floss ihm zu. Kameraaufzeichnungen des gesamten Tages, die er sich kurz ansah. Statusberichte aller Maschinen, die an das Netzwerk des Rings angeschlossen waren, buhlten um seine Aufmerksamkeit. Aber nach wenigen Sekunden wusste er, dass weder sie, noch die Kameraaufnahmen etwas boten, das seines Interesses würdig war. Also verband er sich mit dem Netzwerk der Zitadelle. Er stellte eine Sammlung von Verweisen zu Sendungen auf, die Cassandra interessieren könnten, dann sah er im ComNet des Sicherheitskorps nach, ob seine Freundin in irgendein anderes Gespräch verwickelt war. Dem war nicht so und deshalb startete er selbst eines. Er fragte sich, wie wohl das ComNet seine Stimme wiedergab oder ob sie überhaupt eine Stimme hörte, als er darauf wartete, dass die Verbindung aufgebaut wurde. Dann erreichte ihn die Information, dass das Gespräch begonnen hatte.
MAJ Melnikowa: "Hallo Brutus. Wie war dein Tag?"