Die Gesichtsfarbe der Majorin hatte einen blassen Blauton angenommen und ihre Adern schimmerten dunkel durch die Haut hindurch. Sollte ein Gesicht so aussehen, selbst bei Kälte? War sie tatsächlich eine Vetis und kam hier ihr wahres Selbst an die Oberfläche?
Mein Blick wanderte weiter, drehte sich um El Robo herum und betrachtete ihn von allen Seiten. Seine Beine steckten bis zu den Knien in zwei Eisklumpen, von denen das Eis den Körper nach oben wanderte. Zuerst beschlug das Schwarz des Anzuges, dann bildeten sich kleine Kristalle und einen Augenblick später war schon das nächste Stück unter einem Zentimeter Eis verschwunden. Wenn das so weiterging, war ich bald komplett eingefroren. Dabei reichte doch schon dieser verdammte Speer, um mich auszuschalten. Was von beidem würde mich wohl als Erstes töten, wenn nicht bald etwas geschah?
Ich wunderte mich, wie nüchtern ich über meine eigene Situation nachdenken konnte. Wie wenig es mir ausmachte, mich von außen zu beobachten. Es musste wohl daran liegen, dass ich nichts mehr spürte. Ohne Schmerzen verlor der Speer, der sich in meinen Rücken bohrte an Bedeutung. Ich hatte offenbar vollkommen meinen Bezug zur Realität verloren.
Ich fragte mich, von wo aus ich mich eigentlich beobachtete. Die Kamera bewegte sich. Sah ich gerade durch die Augen der Kameradrohne? Irgendwie musste ich es geschafft haben, über das Zitadellennetzwerk den Stream der Drohne abzurufen, den wir für die Bewohner der Zitadelle laufen ließen.
Wenn ich es geschafft hatte, ganz unbewusst im Zitadellennetzwerk umherzuwandern, musste ich es doch auch schaffen, dieses verdammte Tor zu öffnen! Nun, solange mein Kopf noch nicht eingefroren war. Ich konzentrierte mich darauf, und statt El Robo mit meinem eigenen Körper zu bewegen, schickte ich ihm Befehle.
Die Drohne schwirrte um den Anzug herum, der in Zeitlupe eine Faust hob und gegen das Tor fallen ließ. Ein dumpfer Klang ertönte, als klopfe man gegen ein leeres Regenfass.
So würde das nicht funktionieren. Statt meiner Fäuste musste ich andere Werkzeuge einsetzen. Mein Hackerwerkzeug, um genau zu sein. Die Faust öffnete sich und legte sich wieder auf die Oberfläche des Tors. Wie erwartet, stieß mein Verstand auf eine Wand. Sie hatten einen digitalen Schutzwall errichtet, an dem ich zu knabbern haben würde. So lange, bis mein Körper erfror. Um es schneller zu schaffen, würde ich Hilfe brauchen.
Von der Wand aus sprang mein Geist zurück in die Hand und raste durch das Netzwerk. Jedem Gerät, dem ich begegnete – und das waren viele –, sagte ich, dass ich seine Hilfe bräuchte. Alle gemeinsam mussten sie daran arbeiten, die Verschlüsselung des Tores zu knacken. Wenn man genauer darüber nachdachte, war es eigentlich nicht ich, der sie befreite, die Bürger der Zitadelle befreiten sich selbst. Oder es waren ihre Medienpanels, Nahrungssynths und Haartrockner?
Ich beschloss, es Moritz und Cass gleichzutun und den Akt dieser Befreiung zu filmen. Nicht nur das, nachdem ich sowieso schon mit allen Geräten verbunden war, schickte ich den Stream auf jedes Medienpanel, das ich erreichen konnte. Auf ihnen würde jetzt ein neuer Medienkanal auftauchen, den ich dramatisch 'Das Tor in die Freiheit' taufte. Dann erschuf ich unzählige Unterkanäle, an die ich die Bilder El Robos Kameras und die des Raums sandte. Jeder Zuschauer konnte sich also einen Platz suchen, der ihm gefiel.
Und es kamen schon die Ersten. Zuerst verhalten, einige kamen und einige gingen, denn viel passierte in diesen drei Sekunden, seitdem mich der Speer getroffen hatte, nicht.
Einer der Zuschauer fragte, was hier los sei. Die illegale Ausstrahlung des neuesten Actionstreifens?
"Wartet ab", sagte ich in Gedanken und mein Kommentar erschien im Medienkanal.
Meine Gedanken rasten gleichzeitig in mehrere Richtungen davon. Es kam mir so einfach vor. Lag es daran, dass ich meinen Körper verloren hatte und mein Geist dafür auf Hochtouren arbeitete? So, wie jemand besser hören konnte, der sein Augenlicht verloren hatte?
Da! Ich hatte gefunden, was ich suchte. Die Identifizierungsstelle der ID-Chips. Ich markierte die Personen, die auf den Bildern zu sehen war. Kleine Namen und ihre Ränge schwebten nun über den Siks. Über dem großen frostig schwarzen Anzug schwebte nur 'Unbekannt'.
Ich änderte ihn in 'El Robo' und die Zuschaueranzahl machte einen Sprung nach oben.
Ich verpasste auch meinem Team die Namen, die Cass und Moritz sich ausgedacht hatte. Mit einem digitalen Seufzen nannte ich den Bus Robomobil.
Die Zuschauer erkannten uns, fragten, was hier passierte, und ich kommentierte nur: "Die Lage scheint aussichtslos. Werden El Robo und seine Freunde die Welt retten können? Bleiben sie dran!" Einen Kommentar, dass es gleich nach der Werbung weiterginge, sparte ich mir.
Denn es ging sofort weiter und ich war mir wirklich nicht sicher, ob wir es schaffen würden. Ich traute mich schon gar nicht mehr, die Vitalfunktionen meiner fleischlichen Hülle zu überprüfen, und hoffte einfach, dass sie durchhielt. Die Uhr tickte und ich musste verhindern, dass sie noch schneller lief. Ich musste verhindern, dass die Majorin mich komplett einfror. Wenn sie das Eis steuerte, so wie wir unsere Fähigkeiten bedienten, konnte ich sie irgendwie aus dem Konzept bringen?
Ich dachte die Worte, die ich sprechen wollte und ein blecherner Chor aller Lautsprecher im Raum sprach sie gemeinsam aus: "Majorin Katharina Melnikowa?"
Sie hatte gerade die Hand gehoben, ganz als ob die den Eisspeer noch tiefer in meinen Rücken bohren wollte, und sie zuckte zusammen. Man konnte den Adrenalinstoß förmlich sehen, der sie getroffen hatte. Ihre Hand verkrampfte sich, ihr Körper spannte sich an, und sie sah sich um. Suchte die Umgebung ab, wo diese gespenstische Stimme hergekommen war. Dann fiel ihr Blick auf meinen Anzug und sie entspannte sich wieder, lockerte die Hand und legte sie lässig auf ihre Seite. "Ach, du bist das? Hast du noch letzte Worte, bevor ich dir den Rest gebe?"
Kommentare im Medienkanal fragten, ob sie die Schurkin war, den wir heute bekämpften.
Ja, das war sie.
"Sie machen das mit dem Eis, oder?", fragte der Lautsprecherchor und den Zuschauern fiel das viele Eis auf und der Speer in meinem Rücken. "Wie funktioniert das?"
"Ja, ist es nicht herrlich, dass ich mich heute noch einmal austoben kann?" Die Majorin schüttelte ihre Arme und ließ dann die Fingerknöchel knacken. "Dazu gibt es so selten eine Gelegenheit. Sagen wir mal, das mit dem Eis ist eine angeborene Fähigkeit. Dir zu erklären, wie ich es anstelle, ist verschwendete Zeit. Schließlich bist du gleich tot."
Das konnte man sehen, wie man wollte. Die Zuschauer wollten es auf alle Fälle wissen. Wollten, dass die Schurkin eine Rede hielt, bevor sie mir den Rest gab. Und wenn sie es tat und ich hier scheiterte, wusste der Rest der Zitadelle wenigstens, womit er es zu tun hatte.
"Sind Sie eine Vetis?"
Sie schien erstaunt, zuckte dann aber nur mit den Schultern.
"Ja. Und du ein Thages, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr."
Die Zuschauer wollten wissen, was Thages und Vetis seien und ich erstellte Datenbankeinträge mit meinem bescheidenen Wissen über beide und verknüpfte die mit der Majorin, mir und Klara. Es überraschte mich wenig, dass sie schon nach der ersten Sekunde tausendmal angesehen wurden. Trotzdem wurde die Verwirrung größer. War das wirklich real, was sie da sahen, oder doch nur nur eine neue Reality-Show? Stimmen wurden laut, dass das alles nur Fake war, und ich machte mir Sorgen, dass jemand versuchen würde, meinen Kanal zu schließen, um möglichen Schaden vom Sicherheitskorps abzuwenden.
Also kopierte ich den Kanal tausendfach, auch die Datenbankeinträge und verteilte sie im ganzen Netz, hinterlegte sie auf den Medienpanels der Zuschauer, ihren Nahrungssynths und Haartrocknern.
Dann widmete ich mich wieder der Majorin.
"Ich würde sagen, ich bin in erster Linie ein Mensch. Das ist das Einzige, das ich mit Sicherheit sagen kann. Trotzdem werden wir alles daran setzen, die Bewohner der Zitadelle aus der Herrschaft der Vetis zu befreien."
Sie lachte. Ein bitteres Lachen, dem die Last von Äonen der Einsamkeit anzuhören war. "Die Herrschaft der Vetis? Ich bin die Einzige, die noch übrig ist. Zurückgelassen von den anderen und vergessen. Wenn man meinen Rang betrachtet, kann man wohl kaum behaupten, dass ich über die Zitadelle herrsche."
Auch die Zuschauer waren verwirrt. War es nicht der Rat, der herrschte? Ein Zuschauer schrieb etwas darüber, wie das Sicherheitskorps versuchte, die Bewohner mit Duftstoffen in den Luftverteilern gefügig zu machen, und wurde gleich als Verschwörungsfanatiker aus dem Kanal gejagt.
Am meisten war ich verwirrt. Wenn sie die einzige Vetis war, handelte es sich beim Feind im Inneren dann um eine ganz andere Gruppierung?
Nein, ich durfte mich davon nicht aus dem Konzept bringen lassen! Stattdessen überprüfte ich den Zustand des Tores. Die Maschinen der Zitadelle hatten die ersten Mauern bereits gestürmt, aber es war noch nicht geschafft. Ich musste die Majorin weiter hinhalten. El Robo? Ja, die Eisschicht war langsamer gewachsen. Wenigstens das hatte funktioniert. Als sie lachte, glaubte ich, dass das Eis sogar ein Stück zurückging. Musste sie sich so stark darauf konzentrieren, oder hatte ihre Fähigkeit gar etwas mit ihrem Gemütszustand zu tun?
Auch wenn das Eis innehielt, stiegen jetzt meine Kopfschmerzen. Ein Wunder, dass ich das noch spürte. Kein Wunder, bei all dem, was mein Kopf gerade leisten musste. Ich ließ den Anzug ein Schmerzmittel abgeben. Ja noch mehr Zeug, das ich in meinen Körper pumpte, aber es musste sein.
"Gibt es denn keinen Weg mehr, in die Heimat zurückzukehren?", fragte ich.
Ich sah, wie der grimmige Ausdruck wich. Ihr Gesicht wurde weicher, die Augen trauriger. Unwillkürlich fragte ich mich, ob die Vetis wirklich die Bösen in dieser Geschichte waren. Dann fiel mein Blick wieder auf meinen aufgespießten Körper und die Zweifel verflogen. Cass war tot, der Rest in Gefahr, konnte ich da etwa Mitleid zeigen?
"Es gibt ein Portal in meine Heimat. Ich halte es offen, aber von hier unten kann ich es nicht erreichen. Auf meinen Notruf antwortet niemand." Die Traurigkeit wich, sie ballte die Fäuste und reckte das Kinn. "Bis es einen Weg gibt, bleibe ich hier. Das wirst du mir nicht nehmen!"
Ein Tor in ihre Welt, das sie offen hielt? Ich startete einen neuen Suchlauf durch das Netzwerk. Unterbewusst nahm ich das Knirschen wahr, mit dem sich der Eisspeer durch die Schulter bohrte und auf der anderen Seite gegen die Innenseite des Anzugs presste. Noch mehr Warnsignale, die ich davonjagte.
Die Zitadelle speicherte alles und so fand ich alles, was die Majorin in den letzten Jahren getan und mit wem sie gesprochen hatte. So viele Informationen. Zu viele und ich warf alles weg, was mir unwichtig erschien. Es blieben einige Nachrichten übrig, die sich inhaltlich glichen und mit einem Portal zu tun hatten. Die Erste etwa vor 32 Jahren an einen Empfänger in der Umgebung der Zitadelle gesendet worden, an den über die Jahre noch weitere gingen. Befand sich dieses Portal auf der Erde? Warum war sie dann noch hier? Dann entdeckte ich, dass spätere Nachrichten an einen Empfänger im Orbit gerichtet waren.
Über die Art des Empfängers fand ich keine Hinweise. Aber auch andere versuchten, mit ihm zu kommunizieren, selbst in diesem Moment. Massen an verschlüsselten Daten, deren Inhalt mir verborgen blieb. Waren es wirklich Informationen, oder sorgte das nur dafür, dass dieses Portal, wenn das der Empfänger war, offenblieb? Auf alle Fälle verbrauchte das Unmengen an Energie, die der Zitadelle verloren ging. War das etwa der wirkliche Grund, warum der Kreislauf gestört war und sie zerfiel?
Ich schaltete den Datenstrom ab. Einfach so.
Eigentlich hatte ich erwartet, auf Widerstand zu stoßen, aber es funktionierte ohne Probleme. Keine Barrieren, die es zu überwinden galt. Der Majorin fiel es nicht auf, aber die war ja gerade damit beschäftigt, meine Hülle zu durchlöchern.
Vielleicht sollte ich mich jetzt, da alles seinen Gang lief, auch darum kümmern, dass ich selbst heil aus der Sache herauskam.
El Robo verfügte über eine Temperaturregulation, das wusste ich. Nur war die dank des Lochs abgeschaltet. Wer machte schon seine Klimaanlage an, wenn nebendran das Fenster offen stand? Ich setzte die Automatik des Anzugs außer Kraft und aktivierte die Heizmodule manuell, die sich in der Nähe der Wunde befanden.
Ich spürte, wie mein Verstand flackerte. Schwarze Punkte bildeten sich auf den Kamerabilden, Streifen zogen sich hindurch, zerteilten sie und jedes der Bruchstücke hüpfte in eine andere Richtung davon, bevor sie sich wieder zusammenfügten.
Ich verfluchte die Sethlan-Enklave, die das medizinische System eingebaut hatte. Aber ja, nach dem Desaster mit dem Brand wollten sie mich am Laufen halten. Blöd, dass es mich jetzt ausschaltete und niemand kam, um meinen bewusstlosen Körper ins MedCenter zu schleppen.
Verdammt! War das hier vielleicht mein Ende? Ich wollte nicht sterben ... wer will das schon? Es gab noch so viel, was ich tun wollte, wenn ich die Welt gerettet hatte. Ich war noch jung, auch wenn Cass das anders gesehen hatte. Ich beneidete sie und Moritz um die Zeit, die sie gemeinsam gehabt hatten. Meine eigene hatte ich verschwendet, den Blick immer nur starr auf die nächste Mission und unser Ziel gerichtet. Nein, ich musste überleben!
Ich setzte einen Notruf an das MedCenter auf dieser Etage ab, dann auf die benachbarten Etagen, bis ich die halbe Zitadelle über meinen Zustand informiert hatte. Dann ließ ich meinen Verstand treiben und wartete auf Rettung.
Ein markerschütterndes Knacken holte mich zurück in den Raum und die Realität. Es war nicht etwa das Eis oder meine Knochen, die brachen. Es waren die letzten Mauern des Verteidigungssystems, die gefallen waren. Die Verriegelung des Tors war aufgesprungen.
"Es ist geschafft!", verkündete ich triumphierend im Medienkanal. "Das Tor in die Außenwelt ist offen!"
Ein letzter Befehl, dann ging ein Rumpeln durch den Raum, als seine massiven Niveum-Flügel schwangen träge auseinander.
Ich konnte der Majorin nicht ansehen, ob sie blass wurde. Wie auch, sie sah ja aus, wie eine Eisskulptur. Doch ihre Augen weiteten sich vor Schrecken. Damit reihte sie sich in die entsetzten Kommentare der Zuschauer ein, die jetzt erst erkannten, wo ich mich befand und was ich getan hatte.
Die Majorin stand reglos da. Was würde sie jetzt tun? Gab sie auf oder würde sie mich töten, als letzte schlechte Tat, bevor sie floh? Würde sie versuchen, das Tor wieder zu schließen?
Sie verharrte so lange an Ort und Stelle, dass ich nicht sicher war, ob sie überhaupt noch lebte, bis ein Krachen in der Eiswand sie zusammenzucken ließ.
Durch das entstandene Loch ragte Sergejs wohlbekannte Prothese.