Dieses wunderbare Gefühl in der Magengrube, das ich beim Start in der Achterbahn immer so geliebt hatte, ließ mich diesmal aufschrecken und ich riss die Augen auf. Ich wurde beschleunigt!
Ich lag auf dem Rücken und Dunkelheit umgab mich.
Ich streckte den Arm nach oben aus und meine Finger berührten etwas Kaltes. Ich ließ sie daran entlang wandern. Das Material ließ sich leicht eindrücken, leistete aber mehr Widerstand, als ich fester zudrückte. Ich lag auf dem Rücken und zumindest oberhalb von mir umgab mich das Material komplett und bildete eine Art Kuppel. Unter mir befand sich ein glattes und hartes Material. Eine Bahre aus Kunststoff vielleicht?
Ich lag doch nicht etwa in einem Sarg in der Leichenhalle und wurde gleich dem Kreislauf der Zitadelle zugeführt?
"Ich lebe noch, verdammt!", schrie ich und hämmerte gegen den Kunststoff.
Dann kam langsam die Erinnerung an die letzten Worte des Richters zurück. Sie mussten mich gerade auf die Reise in den Äußersten Ring geschickt haben.
Die Luft um mich herum kühlte ab und ich versuchte, mich an das zu erinnern, was ich über das Gefängnis der Zitadelle wusste. Es gab einen Korridor zwischen ihm und dem Hauptkörper der Zitadelle, der nicht klimatisiert war.
Die warme Luft der Zitadelle, die sich jetzt noch in meinem Sarg befand, würde sich nach und nach an die eisigen Außentemperaturen anpassen. Falls ich nicht an meinem Ziel ankam, würde ich also früher oder später erfrieren. Denen, die mich auf den Weg geschickt hatten, war das egal und ich bezweifelte, dass die Medien das weiter verfolgen würden, falls so ein Unfall passierte. Die Gerichtsverhandlung war beendet, unser Schicksal stand fest, die Show war vorbei.
Der Ring war ein selbstversorgender Komplex, hieß es. Enthielt ein Synthsystem und angeblich auch Flächen für herkömmliche landwirtschaftliche Methoden der Nahrungsmittelgewinnung, wie die Zitadelle selbst. Ohne einen Stab an Technikern, eine Verwaltung oder Menschen, die sich in diese Arbeit investierten, konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese Möglichkeiten wirklich genutzt wurden. Falls dort überhaupt jemand lebte. Den Hinweis der Majorin, dass es unter dem Radar der Öffentlichkeit immer wieder Inhaftierungen gab, hatte ich nicht vergessen. Doch wie lang überlebte ein Haufen Psychopathen in Gesellschaft anderer? Gingen sie sich gegenseitig an die Gurgel, bildete sich eine Hierarchie oder verschiedenen Gruppierungen? Wenn es niemanden gab, der wenigstens ab und zu hinsah und für Ordnung sorgte, was passierte dann?
Ich merkte, wie mein Vehikel über ein Hindernis schlitterte und den Kontakt zum Boden verlor. Eine Rampe? Der Aufprall, der folgte, presste mir die Luft aus den Lungen und ich stöhnte. Dann rutschte mein Sarg noch ein Stück, quietschend und knarzend, und kam schließlich zum Stehen.
War ich angekommen? Wenn ja, wie kam ich hier raus? Ich drückte wieder gegen die Decke dieser Todesfalle, die immer noch nicht nachgeben wollte. Dann trat ich zu. Das war wirklich gedankenlos, denn ich hatte keine Schuhe an. Wieso hatte ich keine Schuhe an? So schlecht konnte es doch nicht um die Zitadelle stehen, dass sie mir die wegnehmen mussten, oder? Zu meinem Glück war das Deckenmaterial elastisch genug, so brach ich mir keinen meiner Zehen.
Von außerhalb hörte ich einen zweiten Aufprall und ein Schlittern, ich war also nicht alleine angekommen.
Ich tastete die Stellen ab, an denen das elastische Material in den harten Boden überging, vielleicht gab es dort einen Mechanismus, um dieses verdammte Ding zu öffnen. Ich fand nichts dergleichen.
Als Nächstes prüfte ich, was ich an mir trug. Ich brauchte irgendwas, womit ich die Decke aufschlitzen konnte. Ich musste hier einfach raus, der Sauerstoff würde ja nicht ewig halten. Ich glaubte, bereits zu spüren, wie sich der Sauerstoffmangel bemerkbar machte. Meine Atemzüge wurden flacher und Schweißtröpfchen bildete sich auf meinen Fingerspitzen, als ich meine erfolglose Suche beendete.
Ruhig bleiben und Atem sparen, sagte ich mir.
Das Fußende hatte ich noch nicht untersucht. Aber ich hatte nicht genug Platz, um mich zu drehen. Ich zog die Beine an, drückte mich erst am Kopfende und dann an den Seitenwänden ab und schob mich so weit hinab, bis ich das Fußende berühren konnte. Fehlanzeige, auch da war nichts.
Ich hielt inne. Hatte ich da gerade noch ein Geräusch gehört? Mit angehaltenem Atem lauschte ich. Es war wie ein leises Knistern. Das Geräusch, das der Schaum in der Badewanne von sich gab, wenn seine winzigen Luftbläschen nach und nach zerplatzten. Nicht, dass ich in den letzten Jahren in den Genuss eines Bades gekommen wäre.
Es begann erst sacht und steigerte sich dann in ein wahres Knisterkonzert, das aus allen Richtungen um mich herum ertönte. Dann brach ein Lichtstrahl durch die Decke meines Verlieses, zu dem sich kurz darauf ein zweiter gesellte. Bald war ich von Licht umgeben und nur noch wenige schwarze Punkte waren von dem Dach übrig, die langsam davonschwebten und sich schließlich komplett auflösten.
Ich setzte mich auf und sah mich um. Das helle Licht kam von vier Scheinwerfern, die an der Decke montiert waren und mit der Zeit immer schwächer wurden, bis sie so sehr an Intensität abgenommen hatten, dass ich mich im Raum umblicken konnte. Nein, das Licht wurde nicht schwächer, es waren nur meine Augen, die sich daran gewöhnten. Dass ich mir darüber Gedanken machen musste, war bestimmt eine Nachwirkung der Injektion.
In der Richtung, aus der mein Transportmittel gekommen war, war ein Tor zu sehen, etwa zwei auf zwei Meter groß. Es war verschlossen, musste sich aber geöffnet haben, bevor ich hier angekommen war. Der Raum war von Schutt und Müll übersät, Reste von alten Transportkapseln, die sich schon teilweise aufgelöst hatten und in den Kreislauf des Ringes übergingen. Ein gutes Zeichen, denn das zeigte, dass der Kreislauf immer noch intakt war.
Mein Sarg war vor einer Wand zum Stehen gekommen, ein Stück davon sah ich einen zweiten, der aber viel kleiner war. Zu klein, als dass es Klara enthalten konnte. Darin musste sich etwas anderes befinden. Weiter dahinter sah ich einen Ausgang in einen anderen Raum. Ich drehte mich um und stellte fest, dass es auf der gegenüberliegenden Seite ebenfalls einen gab. Ich ging auf die kleinere Transportkapsel zu, dessen Decke sich noch nicht aufzulösen begonnen hatte.
In der Wartezeit unterzog ich mich selbst einer Bestandsprüfung. Sie hatten mir meine alten Synthetikklamotten zurückgegeben, natürlich nicht den Anzug der Siks. Warum sie an den Stiefeln sparen mussten, war mir immer noch unverständlich. An meinem Körper war ansonsten alles dran, was dran gehörte. Na ja, fast alles. Zu meiner Freude stellte ich fest, dass der Fingerstumpf wenigstens nicht mehr schmerzte. Der Finger fehlte immer noch.
Nun löste sich auch das Dach des anderen Fahrzeugs auf. Es befand sich, wie erwartet, kein Mensch darin, sondern ein Päckchen aus braunem Karton, auf dem in Handschrift mein Name stand. Das musste von einem wahren Nostalgiker verpackt worden sein, so ganz ohne Kunststoff. Ich schnürte es auf, nahm den Deckel ab und legte seinen Inhalt frei.
Obenauf lag ein Zettel, auf dem in krakeliger Handschrift Folgendes stand:
'Auch wenn ich dich unbedingt bestraft sehen wollte, entspricht das Vorgehen des Sicherheitskorps in deiner Angelegenheit nicht meinen Vorstellungen. Damit du es etwas leichter hast und um den Idioten über mir eins auszuwischen, habe ich dir etwas von deinem Zeug hinterhergeschickt. Du wirst es sicher brauchen.
Captain Pete Lover'
Unter dem Zettel lagen meine Handschuhe und darunter konnte ich meine Stiefel mit den Stahlkappen entdecken. Es befanden sich noch andere Sachen darin, aber ich machte mich erst einmal daran, die ersten beiden Geschenke anzulegen.
Ich berührte den Boden der Transportkapsel mit dem Handschuh, ohne etwas Besonderes festzustellen. Es war nur Kunststoff, ohne eigenen Antrieb. Die Beschleunigung war in der Zitadelle erfolgt und die Schubkraft hatte ausgereicht, sie bis hierher zu tragen. Wenn ich zurück wollte, musste ich laufen. Und zurück musste ich definitiv. Wenn ich das geschafft hatte, würden ich uns die Informationen über unsere Vergangenheit mit Gewalt holen. Und aufräumen. Das Sicherheitskorps war geschwächt und die Leute, die uns als Sündenböcke hierher geschickt hatten, sollten ruhig selber den Kopf hinhalten.
Ich stellte überrascht fest, dass sich sogar die ID-Chips noch im Handschuh befanden. Selbst wenn Lover den einen auf eine schwarze Liste gesetzt hatte, war ihm der zweite, der im abgeschirmten Geheimfach, sicher verborgen geblieben.
Dann wandte ich mich dem restlichen Inhalt des Pakets zu. Nahrungsrationen, ein paar elektronische Teile unbekannter Funktion. Ein Satz Infokarten, solche wie die, die mir Annadora im Hort hatte zukommen lassen. Informationen über den Ring? Und zu guter Letzt, doch der Knopf mit dem Anzug, den ich dem Sik abgenommen hatte. Ein Knacken zerriss die Stille und erschrocken ließ ich den Knopf wieder fallen.
Ich sah mich um. War das aus dem Schatten in der Ecke neben der Tür gekommen? Es war eher ein Gackern, statt ein Knacken. Das hämische Lachen eines Schlägers, der leichte Beute gefunden hatte. Seine Gestalt schälte sich langsam aus der Dunkelheit, floss in das Licht der Scheinwerfer. Sie war hager, nicht das typisch bullige Äußere, das ich bei einem Schläger erwartet hätte. Vielleicht mehr ein psychopathischer Serienmörder. Auch nicht besser. Hose und Mantel mochten einmal die feinste Mode gewesen sein, jetzt waren es nur noch braune Lumpen. Sein Oberkörper unter dem Mantel war nackt und ich erkannte Schmutz und Narben darauf. Sein fettiges braunes Haar hing in dünnen Strähnen bis zu seiner Schulter herab, der Bart war noch etwas länger. Die Augen waren so tief eingesunken, dass ich sie kaum erkennen konnte, dafür stach seine Hakennase umso mehr aus dem Gesicht hervor.
Seine Erscheinung zog mich so sehr in ihren Bann, dass ich fast die Gefahr vergaß, die von ihm ausging. Im Licht der Scheinwerfer blitzte ein Stück Metall in seiner Hand auf und erinnerte mich wieder daran, wie gefährlich es hier war. Das Metall war etwa einen halben Meter lang und mit braunen Flecken übersät. Ein Messer oder einfach nur angespitzter Schrott? Was auch immer es war, er drehte es in seinen Händen und schlurfte barfuß und immer noch kichernd auf mich zu.
Ich warf einen Blick in den Karton, um den Kopf des Anzugs zu finden, da beschleunigte er seinen Schritt und stürmte auf mich zu. Er rammte mich und die Transportkapsel mit einer solchen Wucht um, wie ich sie ihm nicht zugetraut hätte. Ich spürte den Lufthauch an meinem Ohr, mit dem sein Mordwerkzeug mich verfehlte. Mit dem anderen Ohr hörte ich, wie sich der Inhalt des Pakets über den Boden verteilte. Ich drehte mich, um zu sehen, wo er war und um seinem nächsten Angriff auszuweichen, aber er war schon wieder verschwunden.
Das Kichern aus der anderen Ecke verriet seine Position. Sollte mich das einschüchtern? Jetzt, da ich wusste, wo er war, wagte ich einen Blick auf den Boden. Da war er, der Knopf! Bevor ich mich aber darauf zubewegen konnte, erlosch mit einem Knall der Scheinwerfer, der sein Licht darauf geworfen hatte. Die dunkle Ecke, in der sich mein Angreifer befunden hatte, wuchs bedrohlich an.
Wie aus dem Nichts war er wieder da und versetzte mir einen Schnitt an der rechten Schulter. Ich schrie auf und er drehte sich um mich herum, schnitt mir diesmal in den Rücken. "Verdammte ...", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und zog vor Schmerzen scharf die Luft ein. Dann verschwand er genauso schnell in einer der pechschwarzen Ecken neben dem Tor, durch das ich gekommen war.
Die Schnitte brannten, aber ich hatte jetzt keine Zeit, mir genauer anzusehen, wie tief sie waren. Wenigstens lebte ich noch. Das war aber nicht mein Verdienst. Er hätte mich mühelos an einer Stelle erwischen können, die meinen Tod bedeutet hätte. Da war ich mir sicher.
Ein weiterer Scheinwerfer fiel aus. Jetzt brannten nur noch einer neben der zweiten Tür und einer neben dem Tor zum Verbindungskorridor. Die beiden dunklen Flecken, die sich gegenüberlagen, reichten aber aus, dass er das Manöver beliebig oft wiederholen konnte, wenn ich ihn nicht stoppte. Sollte ich stattdessen fliehen? Nein ... ich glaubte nicht, dass das wirklich eine Alternative war.
Bei seinem nächsten Angriff versuchte ich, mich unter ihm hinwegzuducken und seinem Bein einen Tritt zu versetzen. Ich trat gefühlt einen Meter weit daneben. Er verpasste mir mit der flachen Seite seiner Waffe einen Schlag auf den Kopf und ich ging auf die Knie. Jetzt war es mir endgültig klar: Er spielte nur mit mir. Solange bis ich schwach genug war, dass es nicht mehr interessant war? Würde er mir dann den Rest geben?
Kniend griff ich nach dem Boden des kleinen Transporters. Damit würde ich nach ihm schlagen, wenn er das nächste Mal kam. Ich rechnete mir auch dabei keine großen Chancen aus, er war aber immer noch besser, als mich kampflos meinem Schicksal hinzugeben.
Mit einem Kichern kündigte er seinen nächsten Ansturm an und ich atmete tief ein.
"Hey, du Penner", übertönte eine bekannte Stimme das Gegacker. "Lass meinen Freund in Ruhe, sonst brech ich dir die hässliche Nase und alle Knochen im Leib!"
Der Kerl mit dem Messer tauchte vor mir auf und zögerte. Er war irritiert und das gab mir die Gelegenheit, tatsächlich nach ihm zu schlagen. Ich schlug ihm die Transportkapsel direkt vor die Brust und er torkelte zurück in den Schatten. Dann blickte ich in die andere Richtung. Dort stand in heldenhafter Pose Sergej im Türrahmen, in den er eine beeindruckende Beule geschlagen hatte.
Entlang der Wand ab der Ecke, in der sich mein Widersacher befand, zog sich ein metallenes Schaben. Er zog die Klinge über den Beton. Als ob er sich noch gruseliger inszenieren musste. Das Geräusch verklang und gab einer dünnen Stimme Raum, die mir unheilvoll verkündete: "Wir werden uns wiedersehen, dann hol ich dich!"
Er verfiel wieder in sein nervtötendes Kichern, das immer schwächer wurde, als der Mann in der Ferne verschwand. Ich sank erschöpft zu Boden und nur Sergej verhinderte, dass ich komplett umkippte.
"Hey, du bist erst ein paar Minuten hier, da kannst du noch nicht schlappmachen."
"Ha", entgegnete ich schwach. "Geht's den anderen gut?"
"Weiß ich nicht, du bist der Erste, den ich gefunden habe."
"Okay. Hey, mir wurde Ausrüstung mitgeschickt. Hilf mir doch mal hoch, damit ich sie einsammeln kann. Danach gehen wir die andern suchen, bevor sie dieser Psycho noch vor uns erwischt."
Er half mir hoch, ich sammelte alles ein, verstaute es im Paket und legte den Anzug an. Der scannte meine Verletzungen und stufte sie als nicht lebensgefährlich ein. Der Anzug hatte auch leicht reden, der teilte ja nicht meine Schmerzen.
Nun galt es nur noch zu entscheiden, ob wir in der Richtung suchten, aus der Sergej gekommen war oder dem Psycho folgten.