Unter meinen Synthetikklamotten schmiegte sich der Anzug, den mir Captain Lover nachgeschickt hatte, eng an meinen Körper. Auch wenn ich den Helden spielen sollte, war ich nicht lebensmüde. Er behinderte mich nicht in meiner Bewegungsfreiheit, deswegen konnte ich Ruiz überzeugen, dass ich ihn bei dieser Übung tragen durfte.
Meine Bewaffnung war bestenfalls minimalistisch. Ich hatte einen Dolch aus der Schmiede der Siedlung dabei, der in etwa der Länge der Waffe des Schlitzers entsprach. Da wir seinen Namen nicht kannten und ich in die schweren Metallstiefel eines Helden schlüpfen sollte, hatten wir auf Moritz' Drängen hin beschlossen, unseren Gegnern auch Namen zu geben. Das machte ihm verdächtig viel Spaß, allem und jedem Namen zu geben.
Neben dem Messer trug ich eine primitive Laserpistole bei mir, die aber nur Energie für ein paar Schuss besaß, für den Fall, dass ich noch jemand anderem außer dem Schlitzer begegnete. Moritz hatte mir außerdem eine Datenbrille für den Anzug gebastelt, so musste ich nicht immer mit einem geschlossenen Auge rumlaufen, um meine Umgebungsdaten abzurufen. Ich war mir sicher, dass sich das noch auszahlen würde, spätestens, wenn ich durch die nächste Tür laufen wollte, ohne mir den Kopf zu stoßen. Befehle konnte ich immer noch über den Handschuh geben, falls ich im Kampf kein Wort herausbekam, um den Anzug anzusteuern.
Mit dem Gefühl, wenigstens halbwegs vorbereitet zu sein, ging ich entlang der Barrikaden durch den Teil der Kuppel, den Ruiz Siedler noch nicht für sich eingenommen hatten. Eine schwache Blutspur zeigte mir den Weg, aus dem Peterson gekommen sein musste.
Ein Schatten huschte an mir vorbei und kam zwei Meter vor mir zu Stehen. Kein Feind, sondern eine Riesenratte. Auch hier hausten diese garstigen Viecher. Sie richtete sich auf den Hinterbeinen auf und ging mir in dieser Haltung bis zu den Knien. Dann winkte sie mit einer der Vorderpfoten und lief mir voraus.
Ich war nicht allein. Klara hatte mich im Auge. Auf der anderen Seite der Mauer würde auch Sergej warten. Weit genug entfernt, dass er dem Schlitzer nicht auffallen würde. Falls etwas schief ging, würde er mir zur Hilfe eilen. Einfach über den Zaun springen, oder hindurchlaufen, wenn die Dorfbewohner ihm inzwischen schon genug auf die Nerven gegangen waren. Moritz und seine neue Flamme waren nicht mit von der Partie. Sie kümmerten sich um irgendetwas Wichtigeres, ohne genau zu erklären, um was es sich dabei handelte. Ich konnte es mir vorstellen und fragte mich, wann ich das Heldendasein hinter mir lassen konnte, um selbst einmal sesshaft zu werden. Die Zeit war so an mir vorbeigeflogen und in unserem Kampf, nicht entdeckt zu werden, hatte sich dafür nie eine Gelegenheit geboten. Wenigstens war das eine wunderbare Ausrede, warum ich immer noch Single war.
Je weiter ich kam, desto spärlicher wurde die Beleuchtung. Erst waren nur einzelne Lampen defekt, was wegen des Lichts, das immer noch über die Barrikaden fiel, kaum einen Unterschied machte. Doch dann bewegte sich die Blutspur von der Mauer weg, hinein in die Dunkelheit. Weswegen hatte sich Peterson bloß von der Mauer wegbewegt? Er musste doch wissen, dass das schief gehen würde. Ich folgte dem Blut, bis das Licht nach ein paar Metern so schwach war, dass die Spur zwischen den Grashalmen nicht mehr zu erkennen war.
Ein warnendes Quieken vor mir ließ mich die Kampfhaltung einnehmen, wie sie mir Ruiz beigebracht hatte. Darauf konzentrierte ich mich, damit die Nervosität nicht die Überhand gewann. Als das Quieken erstarb, wusste ich, dass es jetzt losgehen würde. Ich atmete ruhig und konzentrierte mein Gehör auf die Umgebung.
Da! Ein Rascheln!
Er war leise. Barfuß und im Gras waren seine Schritte kaum zu hören und es fiel mir schwer, zu schätzen, wie weit er wirklich entfernt war. Ich tippte mir an die Brille. Selbst wenn meine Augen versagten, dem Infrarotmodus meiner Brille konnte er nicht entgehen. Ich wusste, dass er die Dunkelheit liebte, den Angriff aus dem Verborgenen, und hatte mich darauf vorbereitet. Das war alles im Bereich des Erlaubten. Ich sollte schließlich meine Kampfkünste unter Beweis stellen und nicht meine nicht existenten Katzenaugen.
Er kam von der linken Seite auf mich zu, geduckt in einer Mischung aus Sprint und Schleichen. Ich ließ ihn herankommen, vollzog im letzten Moment einen Sternschritt und manövrierte dabei seine Waffe sanft an mir vorbei. Er rannte einige Meter weiter, stieß sein gackerndes Lachen aus und zog dann einen Bogen um mich herum, hinter mich, wo ich ihn nicht sehen sollte. Ich wandte meinen Kopf und entdeckte ihn aus den Augenwinkeln heraus. Von dort stürmte er erneut auf mich zu und wieder ließ ich seinen Waffenarm an mir vorbeigleiten.
Wenn ich daran dachte, wie unbeholfen ich versucht hatte, mich bei unserer ersten Begegnung zu wehren, war ich überrascht, wie einfach es jetzt war. Er wollte mir noch keine tiefen Verletzungen zufügen, mich nur oberflächlich verletzen, so wie zuvor. Ich musste meinen Körper nur ein wenig aus dem Weg bewegen und schon entging ich seinen Schnitten.
Er verfehlte mich und lief wieder einige Schritte weiter. Diesmal blieb er jedoch stehen und drehte sich direkt zu mir um. Er musterte mich, wie ich immer noch in Abwehrstellung stand, den Kopf langsam drehte und so tat, als würde ich seinen Bewegungen lauschen. Dann stürmte er frontal auf mich zu. Kurz bevor er mich erreichte, drehte er sich nun selbst, so wie er bei unserer ersten Begegnung getan hatte, um mich herum, wich meinem Abwehrversuch aus und verpasste mir einen Schnitt am Rücken. Diesmal war es ein kräftiger Hieb gewesen, der mich einen Schritt nach vorne taumeln ließ. Eine Warnanzeige flackerte auf und teilte mir in einer orangenen Meldung mit, dass der Anzug an dieser Stelle zu 34% durchdrungen war. Diesmal wollte er mich wirklich verletzen.
"Du kannst mich sehen, du Ratte, nicht wahr?", presste er mit seiner schräg klingenden Stimme hervor.
"Nein, ich erkenne dich an deinem Gestank!", erwiderte ich. "Der Geruch eines Feiglings, der sich nur im Dunkeln an seine Opfer ranmachen kann." Ich war mir absolut sicher, dass das die coolste Retourkutsche war, die ich ihm liefern konnte.
Er gackerte nur, ohne meinen Wortwitz zu würdigen. "Schade, schade. Ich wollte etwas Spaß mit dir haben. Jetzt werde ich das schnell hinter mich bringen müssen und dann jage ich diese Bauern. Danach ihre Kinder, die sich vor Angst wimmernd verstecken werden. Einen nach dem anderen hole ich sie mir."
Das war Unsinn, er würde sich nicht hineintrauen. Er wollte mir Angst einjagen und mich verunsichern. Doch ich blieb ruhig. Ich würde das schaffen! "Na dann komm, du Vogelscheuche", sagte ich mit fester Stimme. "Ich bin bereit."
Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, als er auf mich zustürmte. Ich stand bereit und wartete auf ihn. Wartete auf sein Messer. Jetzt war er wütend genug, dass er mehr als nur zu 34 Prozent durch die Rüstung dringen würde, da war ich mir sicher. So wie er aussah, fehlte nur noch, dass er vor Zorn brüllte. Das lag wohl nicht in seiner Natur. Die Jagd im Stillen war ihm ins Blut übergegangen.
Wir hatten etwas über ihn recherchiert, gesucht, ob es eine Notiz zu ihm in Thulius Gerichtsakten gab. Er war ein Mitglied aus einer der wichtigen Familien gewesen und wurde vor vier Jahren verurteilt, weil er in einem der Parks in der Oberwelt auf Menschenjagd gegangen war. Einzelne Menschen, spät abends auf dem Weg nach Hause. Er trieb sie durch die Viertel und brachte sie zur Strecke, wenn sie nicht mehr weglaufen konnten. Es dauerte eine Woche, bis sich der erste Sik überhaupt die Mühe machte, gegen ihn vorzugehen. Jemand aus der Familie des Schlitzers hatte gute Kontakte und versuchte, die Sache bei der zuständigen Abteilung zu vertuschen. Dieser Sik ermittelte entgegen der Anordnung, die Finger von dem Fall zu lassen und wurde zum letzten seiner Opfer. Nachdem er einen Sik auf dem Gewissen hatte, half auch keine Bestechung mehr. Sie orteten ihn über seinen Chip und er verletzte drei von ihnen bei seiner Festnahme. Eine Stunde später war er schon auf dem Weg in den Ring, die Richter nickten das einfach ab.
Jetzt war er auf den Weg zu mir. Als er noch drei Meter von mir entfernt war, zündete ich den Leuchtstoff meines Anzugs mit der maximalen Energie. Der Geruch verschmorter Elektronik erfüllte die Luft, als die Leuchtzellen ausbrannten. Meine Brille filterte das Licht heraus, doch mein Widersacher konnte der Lichtexplosion nicht entgehen. Geblendet taumelte er auf mich zu und ich wich dem Messer aus, das er wild vor sich herschwang. Ich versetzte ihm Schläge gegen Brust und Arme, die ihn bremsten, und beförderte ihn dann mit einem Tritt gegen den Kopf zu Boden. Dass ich mein Bein mal so weit nach oben bekommen würde, ohne dabei selbst auf dem Hintern zu landen, hätte ich zu Beginn des Trainings nicht gedacht.
Er ließ sein Messer fallen und stöhnte. Benommen und blind tastete er den Boden ab, um es wiederzufinden. Ich gab ihm einen Tritt und beförderte es aus seiner Reichweite. Dann zog ich mein eigenes Messer und ließ es in seiner Nähe auf den Boden fallen. Seine Finger schlossen sich um den Griff und er stieß ein triumphierendes Ächzen aus. Ich machte einen Schritt zurück, ließ ihn aufstehen und wartete, bis er mich wieder sehen konnte.
"Du willst es wohl spannend machen?", spuckte er mir entgegen.
"Nein, die Sache ist für dich schon gelaufen", antwortete ich ihm ruhig und betätigte den Zünder. Das Messer war zwar wirklich aus unserer Schmiede, aber nicht zum Kämpfen gedacht. Das war nur der äußere Schein, damit ich sicher sein konnte, dass der Schlitzer den Gegenstand auch aufhob, falls es zu so einer Situation kam.
Der Zünder aktivierte die erste Kapsel im Inneren des Messers und der eben noch feste Gegenstand verflüssigte sich. Die entstandene Masse lief in den Ärmel seines Mantels. "Was ist das?", schrie er und schüttelte die Hand, um sie loszuwerden. Das gelang nicht. Ich wusste es und als er es merkte, versuchte er mit der anderen Hand, das Zeug von seinem Arm zu wischen. Das war mein Signal, die zweite Kapsel zu zünden, die noch in der Masse schwamm. Knackend verfestigte sich das Material wieder und die linke Hand des Schlitzers klebte an seinem rechten Unterarm fest, dessen Hand ebenfalls zur Unbeweglichkeit erstarrte.
Ein kleines Spielzeug, das Moritz aus den Resten eines Nahrungssynths für mich gebastelt hatte. Zerlegung und Zusammensetzung von Materie. Nicht gezielt und elegant, wie ich es bei meiner nächsten Mahlzeit erwartete, aber hier erfüllte es seinen Zweck.
Ich hatte gewonnen. Ich hatte ich den Schlitzer kampfunfähig gemacht, ohne dass ich darüber nachdenken musste, ihn zu töten. Sollten die Dorfbewohner Gericht über ihn halten. Ich war heute nur ihr Sheriff, nicht der Richter und sicher nicht der Henker. Ich würde dafür sorgen, dass wir El Robo reparierten und das, ganz ohne dabei ein Menschenleben zu nehmen. Nicht, wenn ich es verhindern konnte.
Ich zog meinen Laser und richtete ihn auf den meinen besiegten Gegner. "Abmarsch!"
"Du tötest mich nicht?"
"Nein, ich übergebe dich den Bauern, die du jagen wolltest. Die können entscheiden, was mit dir passieren soll."
"Oh, das ist ein Fehler. Sie werden kommen und mich holen. Und dich auch!"
Ich fragte mich, wer 'sie' waren. Das weckte eine entfernte Erinnerung. Ich wollte ihn fragen, wen er meinte.
Aber er sollte mir keine Antwort mehr geben können. Als ich ihn das nächste Mal ansah, starrte er mich aus leeren Augen an und Schaum bildete sich auf seinen Lippen. Von mir unbemerkt, war der Atemschutz meines Anzuges über Mund und Nase geglitten und erst eine Gaswarnung, die rot und piepsend am Rand des linken Brillensichtfeldes erschien, machte mich darauf aufmerksam, was hier passierte. Auf der rechten Seite wurde der Ursprung des Gases markiert, in Form einer kleinen Dose, die vor uns im Gras lag. Dahinter entdeckte ich drei Gestalten, die rot leuchtend vom Wärmesensor auf dem dunklen Hintergrund der Halle hervorgehoben wurden.
Ein stämmiger Kerl und ein anderer, der etwas kleiner war und leicht gekrümmt dastand. Die letzte Gestalt war nicht größer als ein Grundschulkind. Auch ohne die Feindseligkeit, die von ihnen ausging, war die Dose Hinweis genug, dass sie nichts Gutes im Sinn haben konnten.
Das wäre der perfekte Augenblick für Sergej gewesen, um einzugreifen. Blöd nur, dass der Schlitzer Klaras Ratte getötet hatte und sie nicht merken würden, dass ich sie brauchte.