Alicia, Tom und ich, Marcus Jendrisch, hatten sich im Lauf der Jahre zu engen Freunden entwickelt. Seit der 5. Klasse waren wir Schulkameraden, aber schnell auch mehr als das. Das lag auch an unseren Eltern.
Der völlig unwahrscheinliche Zufall wollte es, dass meine Mutter, Alicias Vater und Toms Vater als Richterin und Richter tätig waren. Genauer gesagt: Meine Mutter war Richterin am Verwaltungsgericht Stuttgart, Alicias Vater Amtsrichter in Bad Urach und Toms Vater Richter am Landgericht Tübingen. Alicias Mutter hatte eine Aufgabe als Justitiarin bei einem mittelständischen Maschinenbauunternehmen in Esslingen. Und Toms Mutter arbeitete als Fachanwältin für Familiensachen. Mein Vater, der einzige Nicht- oder nur Fastjurist war früh gestorben, denn er war als Polizeibeamter bei einer Einsatzfahrt durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ich war damals erst 5 Jahre alt.
Unsere Eltern verstanden sich prächtig. Sie waren nicht nur durch ihre fachliche Ausbildung einander zugetan, sondern sie hatten auch gemeinsame Freizeitinteressen. Genießen hatte in unseren Familien immer einen hohen Stellenwert. Neue Restaurants wurden systematisch abgegrast, und die Spargelzeit war für uns alle die wichtigste kulinarische Saison des Jahres. Auch im Urlaub unternahmen wir viel gemeinsam. Die Nordsee war das Ziel der gemeinsamen Begierde, es gab keine friesische Insel, die wir nicht zusammen mindestens einmal besucht hätten.
Wir lebten wie eine große Familie zusammen. Auch wir Kinder waren zueinander wie Geschwister. Wir waren alle drei Einzelkinder – nein, nur bedingt richtig: Alicia hatte einen kleineren Bruder, der starb, als sie elf Jahre alt war. Er litt an Leukämie. Ein Stammzellspender fand sich trotz monatelanger verzweifelter Suche nicht. Oft standen Alicia, Tom und ich in all den Jahren vor Florians Grab. Für uns Heranwachsende war der Tod ein fernes, ein unwirkliches Wesen. Wir vermissten Florian, dem nur ein kurzes Leben vergönnt war. Die betretene Stille, die zwischen uns innerhalb der Friedhofsmauern herrschte, wich ausgelassener Stimmung, wenn wir aus dem Jenseits ins Diesseits zurückkehrten und die Friedhofstore hinter uns ließen. „Jetzt lassen wir es krachen, wir drei“, war Toms Standardspruch. „Wir leben nur einmal, und nur Gott weiß, wie lange, und das vielleicht nicht mal er.“
Alicia und ihre Mutter waren im Gegensatz zu den anderen der Juristenclique katholisch, gläubig und sonntags regelmäßige Gottesdienstbesucher. Aber die Tatsache, dass der Tod mit Florian Alicia einen der wichtigsten Menschen in ihrem Leben so früh genommen hatte, das wollten sie Gott nicht verzeihen. Tom und ich trösteten Alicia damit, dass sie mit uns beiden ja zwei Brüder hätte und doch dafür Gott dankbar sein müsste. Tom zwinkerte dabei meist Alicia zu und sagte: „Bin ich nicht ein göttliches Geschenk für Dich?“ Toms ausgeprägtes Selbstbewusstsein gierte geradezu nach Bestätigung, aber Alicia ging auf diese Bemerkung nie auch nur mit einer Silbe ein.
Tom und ich hatten schon in jungen Jahren mit dem Tennisspielen begonnen und verbrachten in den Sommermonaten viele Stunden auf den Plätzen des Reutlinger Tennisclubs. Inzwischen hatten wir es bis in die Oberligamannschaft der Herren gebracht und spielten an den Positionen 5 und 6. Vor allem aber waren wir ein gefürchtetes Doppel, denn nach zwölf gemeinsamen Jahren verstanden wir uns blind auf dem Platz und spielten am Netz wie eine Wand.
Alicia hatte den Tennisschläger nach drei für sie frustrierenden Jahren an den Nagel gehängt. Tom und ich hatten uns alle Mühe mit ihr gegeben und mit ihr geübt, geübt und geübt. Aber Alicia, die eine Brille tragen musste, traf einfach den Ball nicht richtig. Sie hatte so viel Löcher in die Luft geschlagen, dass die anderen im Verein gerne spotteten: „Hi, Alicia, hast Du heute wieder Schweizer Käse auf dem Platz angerührt?“ Mir tat Alicia deswegen leid, denn es waren sicherlich ihre Augen, die ihr auf dem Platz nicht gehorchen wollten. „Sie sieht den Ball zu spät auf sich zukommen, schaut ihn nicht richtig an und steht dann beim Schlag falsch zum Ball“, hatte Tom scharfsinnig analysiert. „Aber ich habe auch noch nie eine Blindschleiche erfolgreich Tennis spielen gesehen,“ fügte er hinzu und handelte sich einen heftigen Knuff von Alicia ein. Völlig unsportlich war Alicia nicht, aber sie schwamm lieber wie ein Fisch im Wasser als sich mit unberechenbar fliegenden Bällen abzugeben.
Wir Jungs hatten mit Alicia aber den treuesten Fan, den man sich vorstellen konnte. Sie begleitete uns immer und überall, beim Training, bei den Mannschaftsmatches, selbst zu Auswärtsspielen reiste sie mit. Sie schaute uns zu, gab manchmal kluge Kommentare von sich („Marcus, Tennis ist ein Laufsport!“) und strickte. Auf dem Tennisplatz führte sie immer ihr Strickzeug mit sich, eine Stofftasche mit Wolle und Stricknadeln und angefangenen Socken. „Bei Deiner Sockenproduktion können wir demnächst einen Teppich auf den Platz auslegen“, spottete Tom.