Monate später öffnete ich eines Abends wie gewöhnlich, wenn ich von der Uni nach Hause kam, den Briefkasten. Ich fand darin einen dicken Brief vor. An der Handschrift erkannte ich sofort: Paula hatte mir geschrieben!
Ich hatte Paula seit unserer letzten WhatsApp nicht mehr gesehen. Auch in der Universität oder in der Stadt war ich ihr nie mehr begegnet. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.
Neugierig öffnete ich den dicken Brief. Zum Vorschein kamen mehrere eng beschriebene Blätter.
Ich las:
Lieber Marcus,
ich schreibe Dir aus Konstanz. Dorthin bin ich gezogen, als es so plötzlich aus mit uns war. Ich habe dort mein Jurastudium fortgesetzt. Ich konnte und wollte nicht mehr in Tübingen in Deiner Nähe sein.
Ich bin mir inzwischen bewusst geworden: Ich habe Dir zu viel zugemutet. Ich verstehe jetzt, dass ich Dich seinerzeit überfordert und Dir mit der Augen-OP zu viel abverlangt habe. Ich hätte Dir auch ohne unseren Deal vertrauen und Deine Liebe bedingungslos erwidern sollen. Aber ich war nicht fähig dazu. Mein Vertrauen zu Menschen war und ist gestört.
Seit drei Monaten bin ich jetzt in psychotherapeutischer Behandlung. Meine Therapeutin hat mir empfohlen, alles einmal niederzuschreiben, was meine Fähigkeit, vertrauen zu können, belastet. Ich möchte, dass Du mich besser verstehst und mir vielleicht vergibst, was ich Dir angetan habe.
Am Anfang meines Lebens stand das große Glück. Meine Eltern erzählten oft, wie überwältigt froh sie über meine Geburt waren. Fünf Jahre nach der Geburt meiner Schwester Carla hatte ich in Messkirch das Licht der Welt erblickt.
Die Überraschung meiner Eltern muss riesig gewesen sein, als sie ein rothaariges Baby in den Händen hielten. Niemand in unserer Familie hatte rote Haare. Doch, wie man weiß, kann es genetisch trotzdem zu dieser seltenen Haarfarbe kommen.
Für Verwandte und Freunde meiner Eltern war ich mit meinem rötlich behaarten Kopf ein bestauntes Objekt des Interesses. Es waren nicht nur die Haare. Es waren vor allem auch die lustigen, im Laufe der Jahre immer stärker hervortretenden Sommersprossen, die die Blicke auf sich zogen. Auch die rötlich-hellen Brauen und Wimpern wurden allenthalben bewundert.
Spöttisch wurde mein Vater zuweilen gefragt, ob er ausschließen könne, dass mein wahrer Vater ein berühmter deutscher Tennisspieler sei. Ich sei seiner nur wenig älteren unehelichen Tochter doch zu ähnlich. Meine Mutter wies dies dann immer schmunzelnd „unter Protest“ zurück. Der rothaarige Tennisspieler sei nun gar nie ihr Typ gewesen. Und ja, sie wisse und garantiere es, mein Vater sei mein echter leiblicher Vater.
Im Kindergarten waren meine roten Haare weder bei den Betreuerinnen noch bei den Kindern ein besonderes Thema. Allenfalls die Tatsache, dass ich wegen meiner hellen, lichtempfindlichen Haut im Sommer meist ein Hütchen tragen sollte, unterschied mich von der Masse der anderen Kinder in meiner Gruppe.
Die Welt schien für die kleine Paula völlig in Ordnung, bis ich fünf Jahre alt war. Doch ab dann kam es knüppeldick.
Es begann im November nach meinem 5. Geburtstag. Ich bekam schreckliche Ohrenschmerzen. Schnupfen und Husten hatte ich auch. Viele Kinder im Kindergarten hatten sich ähnliche Infektionen geholt. Der Kinderarzt diagnostizierte eine schwere Mittelohrentzündung und verschrieb mir Antibiotika, die ich auch gemäß Medikationsplan einnahm. Nach einer Woche war ich wieder schmerzfrei und die Entzündung war abgeklungen.
Doch schon kurz vor Weihnachten bekam ich wieder entsetzliche Ohrenschmerzen. Meine Eltern versuchten die Kinderarztpraxis zu erreichen, die aber schon in Weihnachtsferien war. Die Weihnachtsfeiertage verbrachte ich mit den schrecklichen Kopf- und Ohrenschmerzen weitgehend im Bett. An der weihnachtlichen Bescherung hatte ich leider gar kein Vergnügen. Am 27. Dezember gingen meine Eltern mit mir zum Hausarztnotdienst. Dort wurde Eiter im Gehörgang festgestellt. Wieder musste ich 10 Tage lang Antibiotika nehmen.
Die Schmerzen ließen nach wenigen Tagen nach, doch das Hören blieb eingeschränkt. Ich fühlte, als ob alles wie in Watte eingepackt klingt.
Nach den Weihnachtsferien waren wir erneut beim Kinderarzt. Er stellte fest, dass die Entzündung abgeklungen sei. Wegen der Hörprobleme meinte er, das werde sich auch bald wieder geben. Notfalls sollten wir in 14 Tagen wiederkommen.
Doch die Ohren wurden nicht besser. Ich hörte noch immer die Töne nur dumpf. Meine Mutter ließ sich daher einen neuen Termin beim Kinderarzt geben. Zwei Tage vor dem vereinbarten Termin bekam ich erneut grausame Ohrenschmerzen.
„Du hast leider einen Rückfall“, stellte der Kinderarzt fest. „Nimm dieses Mal ein anderes Antibiotikum, damit wir die Infektion besser bekämpfen können!“
Es war um die Fastnachtszeit, als die Antibiotikakur ausgelaufen war und sich meine Schmerzen gelegt hatten. Doch ich hörte jetzt noch weniger gut als nach der letzten Entzündung. Der Kinderarzt überwies mich dann an einen HNO-Arzt. Dort bekamen wir einen Termin drei Wochen später.
Ich hörte noch immer nur dumpfe Töne, als wir die Praxis des Ohrenarztes aufsuchten. Nach unendlich vielen Tests und Untersuchungen bekamen meine Eltern die niederschmetternde Diagnose: „Ihr Kind hat durch die Serie von schweren Mittelohrentzündungen einen irreparablen Hörschaden erlitten. Es hört etwa 40 Prozent weniger als normal. Es wird sein Leben lang auf Hörhilfen angewiesen sein.“
Ich weiß noch wie heute: meine Mutter brach in bitterliche Tränen aus. Sie hatte einen anhaltenden Heulkrampf noch im Arztzimmer. Ihre zweite Tochter, ihr rothaariger Sonnenschein, musste ab sofort mit einer schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigung zurechtkommen!
Ich fragte sie: „Mama, ich will wieder hören! Wann geht das endlich weg?“ Und mit tiefem Ernst sagte sie zu mir: „Nie mehr, mein Kind! Aber wir werden das Beste daraus machen!“ Dann wurde auch mir fünfjährigem Kind klar, was mit mir los war. Und auch ich begann bitterlich zu weinen.
Die nächste Zeit verbrachten wir Stunden über Stunden in einem Hörgeräteladen in unserer Stadt und ließen uns beraten, was für Hörgeräte mir helfen könnten. Ich durfte auch Testgeräte Probe tragen.
Nach drei Wochen hatte ich dann meine finalen Hörgeräte. Es waren nicht die heute üblichen unscheinbaren kleinen Geräte, sondern fast fingerdicke fleischfarbene Kästchen hinter meinen Ohren. Sie waren durch einen deutlich sichtbaren Schlauch mit einem Ohrpassstück in meinem Ohr verbunden.
Die Dinger fühlten sich anfangs schrecklich an und sahen an mir, so fand ich, furchtbar aus. Aber ich sah trotz meiner erst fünf Jahre ein: Mit diesen Geräten in den Ohren konnte ich wieder mehr verstehen. Es fühlte sich nicht wirklich gut an. Aber es war befriedigend, was mein Hörvermögen anging.
Das Leben der kleinen rothaarigen Paula hatte eine gravierende Wende genommen.