Am Abend der Aufführung war ich spät dran. Jennifer saß schon auf ihrem Sitz in der 23. Reihe, als ich mit hängender Zunge den freien Sitz neben ihr einnahm. „Ich dachte schon, Du kommst nicht“, maulte mich Jennifer an, bevor ich überhaupt nur „Guten Abend“ sagen konnte. „Sorry, ich habe in Reutlingen den Zug verpasst und mit dem nächsten Zug wurde es jetzt leider sehr knapp.“
Dann ging schon der letzte Gong als Zeichen, dass die Aufführung bald beginnen sollte. Da bemerkte ich, dass Jennifer ihre Handtasche öffnete und darin kramte. Kurz darauf holte sie ein blaues Brillenetui aus der Handtasche. Sie öffnete das Etui, und es kam eine zierlich aussehende Brille mit einem goldfarbenen Metallrahmen zum Vorschein. Jennifer faltete die Bügel auseinander und setzte sich – schwupp – das Nasenfahrrad auf die Nase.
Ich bekam Herzklopfen. Die hübsche Jennifer ist Brillenträgerin! Ich hatte das im Tennisverein noch nie beobachten können. Nun saß sie neben mir, hatte eine Brille auf – und das war für mich absolut der Hammer. „Wow, sieht die gut aus mit dieser Brille. Die passt farblich optimal zu ihrer blonden Mähne – was für ein Traum!“, dachte ich bei mir.
Von der Seite schaute ich Jennifer an und konnte durch die Brillengläser hindurch erkennen, dass sie einen verkleinernden Effekt hatten. Jennifer war also kurzsichtig. Aber stark schienen die Gläser auch nicht zu sein. Dennoch brauchte sie die Gläser offenbar, um die weit entfernte Bühne von der 23. Reihe aus scharf sehen zu können.
Ich musste recht lange Jennifers bebrilltes Profil mit meinen Blicken fixiert haben, denn inzwischen hatte auf der Bühne längst die Aufführung begonnen. Plötzlich raunte mir Jennifer von der Seite ins Ohr: „Wohin schaust Du denn die ganze Zeit? Da vorne spielt die Musik!“ Dann wandte sie sich wieder konzentriert dem Geschehen auf der Bühne zu und schob ihre Brille hoch bis zur Nasenwurzel.
In der Pause verschwand die bebrillte Jennifer umgehend zur Damentoilette und kehrte erst mit dem letzten Gong zurück. Die übliche Schlange vor dem Damenklo hatte sie offenbar geduldig abwarten müssen.
Noch während des Schlussbeifalls nahm Jennifer ihre Brille wieder ab, faltete sie zusammen und verstaute sie im Etui. Dieses landete dann in den Tiefen ihrer Handtasche.
Als wir uns von den Sitzen erhoben hatten, fragte ich Jennifer, ob wir in einer Bar in dem weitläufigen Theaterkomplex noch etwas trinken gehen wollen. „Gute Idee“, erwiderte Jennifer, und wir machten uns auf die Suche nach zwei freien Barhockern. Wir bestellten beide Gin Tonic.
In Gedanken war ich noch immer fasziniert von der Tatsache, dass auch Jennifer offenbar ein Brillenmädchen war. Ich musste zugeben, dass ich von der Aufführung wahrscheinlich allenfalls die Hälfte mitbekommen hatte, weil mich Jennifers Anblick so fasziniert hatte.
Also begann ich das Gespräch: „Jennifer, ich wusste gar nicht, dass Du eine Brille trägst“. Schnippisch erwiderte Jennifer: „Jetzt weißt Du es.“ Damit wollte ich das Thema noch nicht beendet wissen. Also fuhr ich fort: „Im Tennisclub und auch sonst habe ich Dich nämlich noch nie mit Brille gesehen.“ Darauf merkte Jennifer an: „Und das ist auch gut so!“
Ich erwiderte: „Aber wenn Du eine Brille brauchst, dann ist es doch gut, wenn Du sie auch trägst.“ „Ich entscheide, wann ich die Brille benutzen will und wann nicht“, sagte Jennifer mit trotzigem Unterton. „Vorhin im Theater wollte ich unbedingt die Einzelheiten auf der Bühne erkennen und scharf sehen. Aber wann immer es geht, benutze ich die Brille nicht.“
„Du bist kurzsichtig, stimmt’s?“, setzte ich das begonnene Gespräch fort. „Mag sein“, sagte Jennifer. „Ich war halt beim Optiker und der hat gemessen, dass ich Korrekturgläser brauche. Die habe ich dann abgeholt, und mehr weiß ich darüber auch nicht." Ich fuhr fort: „Aber sehr stark scheinen die Gläser nicht zu sein.“ „Genau“, bestätigte Jennifer, „deshalb bleibt die Brille auch in ihrem Etui, solange es irgendwie geht.“
Ich empfand das Bedürfnis, Jennifer ein liebes Kompliment zu ihrer Brille zu machen. Also sagte ich: „Ich an Deiner Stelle würde Deine Brille immer tragen wollen. Die steht Dir einfach super. Du siehst noch hübscher damit aus. Scharf sehen und scharf aussehen sind doch keine Gegensätze!“
„So ein Megaquatsch, was Du da sagst“, wurde Jennifer wütend. „Ich finde mich absolut hässlich mit Brille. Ich hasse die Brille. Sie ist wohl oder übel ein Instrument für den Notfall, mehr nicht.“
„Ach bitte, Jennifer, setze die Brille doch noch mal auf“, insistierte ich. „Also ich finde Dich damit ganz und gar nicht hässlich. Die Brille ist wie Schmuck an Dir!“
„Die Brille bleibt in meiner Handtasche, basta! Ende! Finito! Ich will jetzt nichts mehr davon hören“, sprach Jennifer mit gereizter Stimme.
„Schade, echt! Du hättest mir eine kleine Freude gemacht.“ Damit versuchte ich das Gespräch zum Thema Brille meinerseits zu beenden.
Doch es war zu spät. Jennifer explodierte förmlich: „Wie komisch bist Du denn drauf, Mann, Marcus? Jetzt quatschst Du mich eine gefühlte Ewigkeit wegen meiner Brille voll, anstatt dass Du wenigstens mal einen Ton zu der Aufführung gesagt hättest. Und während der Aufführung stierst Du mich laufend an, anstatt das Geschehen auf der Bühne zu verfolgen. Das ist doch voll strange. Und danke, dass ich Dich zu der Aufführung eingeladen habe, hättest Du auch ruhig mal sagen können. Das hätte ich von Dir erwartet, aber nicht dieses Brillengeschwafel hier. Also – mir reicht es mit Dir heute Abend. Ich gehe jetzt nach Hause!“
Jennifer hatte den Gin Tonic noch nicht einmal zur Hälfte ausgetrunken, als sie schnellen Schrittes die Bar verließ.