Inzwischen war ich sechzehn Jahre alt geworden. Die fünfzehnjährige Alicia reifte nach und nach zur jungen Frau heran. Ihre Brillengläser waren inzwischen deutlich stärker geworden, aber sie blieb dem schwarzen Gestell und damit ihrem Typ als Nerdmädchen treu. Ich begegnete Alicia nahezu jeden Tag. Mein Blick schweifte aber dennoch immer noch häufig auf ihren Brillenlook, den ich unvermindert bewunderte.
Doch bei mir hatte sich in der Zwischenzeit etwas getan, zumindest in meiner Gefühlswelt. Gleichaltrige hatten längst ihre ersten zaghaften Gehversuche mit Mädchen hinter sich. Manche pflegten schon feste Beziehungen. Und ich träumte auch von der ersten Freundin. Und ich begann, mich umzuschauen, wer mir denn gefallen könnte und wen ich gerne näher kennenlernen würde. Und ich merkte, dass mein Blick unwillkürlich meistens an Mädchen hängen blieb, die eine Brille trugen.
Ich analysierte es für mich als den „Alicia-Effekt“, den ich nun über Jahre durchgemacht hatte. Ich fand eine junge Frau äußerlich einfach attraktiver und interessanter, wenn sie eine Brille im Gesicht trug. Ich entwickelte dabei das Bedürfnis, das Geheimnis zu entschlüsseln, das diese jungen Frauen hinter ihren Brillengläsern für mich zu verstecken schienen.
Doch ich war ein Schisser, wenn es darum ging, Mädchen anzusprechen, die mir gefielen.
Dann wollte es der Zufall, dass ich mit einem Mädchen ausgehen konnte, ohne sie vorher ansprechen zu müssen. Jennifer kannte ich seit Jahren flüchtig aus dem Tennisverein. Sie spielte Tennis hobbymäßig vorwiegend mit ihren Brüdern und ihren Eltern. Die Bälle traf sie – oder auch nicht. Eines Tages erzählte mir Tom, dass er in der vorigen Nacht mit Jennifer geschlafen hätte.
„Ich hatte leichtes Spiel“, gab Tom an, „wir haben auf der Party vielleicht eine Stunde etwas rumgeknutscht. Ich habe ihr dann angeboten, sie nach Hause zu bringen. Ihre Eltern waren verreist. Also bin ich mit hoch gegangen, und dort dauerte es nicht lang, bis sie mir die Hose aufmachte.“
Tom war ja mein bester Freund. Aber sein Verhältnis zu den Weibern fand ich nur gestört. „Wirst Du jetzt mal eine Weile mit Jennifer gehen, und sie nicht wie all die anderen gleich wieder abservieren?“, fragte ich Tom. Der grinste nur und erwiderte: „Der Mann lebt von seinen Erfahrungen. Wenn er nicht genug davon macht, findet er seine Traumfrau unter den Millionen Nieten vielleicht nie. Jennifer ist ganz und gar eine der Nieten.“
Jennifer war, davon war ich überzeugt, definitiv mehr als eine Niete. Ja, vielleicht war sie nicht Toms Traumfrau. Aber mit ihren himmelblauen Augen und der gelockten blonden Mähne konnte sie für den Durchschnittsbetrachter als schöne junge Frau durchgehen. Sie interessierte sich stark für Musik, konnte wunderbar singen, nahm Gesangsunterricht und träumte von einer Musicalkarriere.
Einige Tage später drückte Tom mir eine Musicalkarte für die Aufführung von „Phantom der Oper“ in die Hand. Ich schaute ihn erstaunt an und fragte: “Wie komme ich denn zu der Ehre?“ Tom lachte spitzbübisch und sagte darauf: „Mein Lieber, ich will Dir etwas Gutes tun. Es gibt noch eine zweite Karte für den Platz neben Dir. Und da sitzt Jennifer.“
Ich verstand jetzt gar nichts mehr. Ich fragte Tom ungläubig: „Willst Du mich jetzt mit Deinem letzten One-Night-Stand verkuppeln? Warum behältst Du die Karte nicht selbst und machst Dir einen schönen Abend mit der hübschen Jennifer?“
Tom schüttelte den Kopf. „Die Frau ist wie eine Klette. Die ganze Zeit will sie mit mir etwas machen. Sie glaubt wohl, dass wir jetzt zusammen sind, wenn ich einmal mit Ihr geschlafen habe. Daher habe ich sie, als sie mir freudestrahlend die Karten für „Phantom der Oper“ zeigte, gleich abgewimmelt und behauptet, dass ich ausgerechnet an diesem Abend meinen kranken Opa in Bielefeld besuchen müsse. Sie war dann ziemlich angepisst und sauer. Jetzt wüsste sie ja gar nicht, was sie mit der Karte machen solle. Und da habe ich ihr gesagt, dass ich einen hervorragenden Ersatz für sie hätte, und der heiße Marcus.“
Ich zeigte in diesem Moment meine Überraschung und schien wohl auch unentschlossen zu sein. Tom meinte daher: „Mensch, Marcus, das ist doch jetzt die Chance, dass Du mal mit einem Mädchen ausgehen kannst. Du musst jetzt auch mal in die Pötte kommen! Mit Frauen läuft ja bei Dir gar nichts. Und Jennifer ist eine Frau, die weiß, wie es geht, und die wird Dich bestimmt auch endlich entjungfern.“
Tom grinste dabei über beide Ohren. Wenn einem auf diese Weise ein Date auf dem Silbertablett serviert wurde, dann musste ich die Gelegenheit ja beim Schopfe packen.