Die Geschichte meiner Brillenliebe begann, als wir in die siebte Klasse gingen. Alicia war gerade noch 12 Jahre alt, Tom und ich hatten schon unseren 13. Geburtstag hinter uns.
Es war ein Dienstagmorgen vor der ersten Stunde im Klassenzimmer, als Alicia Tom und mich zu sich rief. Sie eröffnete uns: „Ich war gestern mit meiner Mum erst beim Augenarzt und dann beim Optiker. Ich bekomme eine Brille!“ Tom stand mit offenem Mund da: „Was? Wieso das denn?“ Auch ich war überrascht: „Dann bist Du die erste in unserer Klasse mit einer Brille auf der Nase!“ Denn nur zwei Jungs waren bei uns Brillenträger.
„Tja, ich hatte es schon länger gemerkt, dass ich schlecht sehe. Ihr erinnert Euch, ich wollte ja in diesem Schuljahr unbedingt weit vorne sitzen. Trotzdem konnte ich nur wenig an der Tafel entziffern“, erklärte Alicia. Stimmte, denn hin und wieder hatte ich bemerkt, wie Alicia bei ihrem Nebenmann nachfragte und bei ihm abschrieb, was an der Tafel stand. Auch hatte ich beobachtet, wie angestrengt Alicia die Augen zusammenkniff, wenn sie etwas in der Ferne erkennen wollte. Aber ich hatte mir nie was Besonderes dabei gedacht. Ich hatte selbst ja Adleraugen.
„Jetzt hat man bei mir eine Kurzsichtigkeit mit -2,25 Dioptrien gemessen“, fuhr Alicia fort. „Und die kann nur mit einer Brille ausgeglichen werden. Der Arzt meinte, die Werte seien extrem viel für die erste Brille. Ich hätte viel zu lange gewartet. Nächste Woche Montag ist die Brille fertig und Dienstag komme ich dann zum ersten Mal bebrillt in die Schule. Aber bitte vorher niemandem etwas sagen, denn es reicht mir, wenn nächste Woche dann alle über mich herfallen.“
Tom schaute noch immer ungläubig und fragte: „Kann man da nix anderes machen statt einer Brille? Operieren oder so?“ Alicia lächelte und antwortete: „Das habe ich den Arzt und dann den Optiker beide auch gefragt. Es gibt keine Alternative. Der Augapfel ist zu lang gewachsen und wird wahrscheinlich noch länger wachsen in den nächsten Jahren. Da kann man nichts operieren. Vielleicht später mal lasern oder so. Aber das ist Zukunftsmusik. Wie auch Kontaktlinsen, wenn meine Augen sie vertragen, was mir der Arzt nicht sicher vorhersagen wollte.“
Ja, das war ja mal eine Neuigkeit! Ich war mehr als gespannt, wie es aussehen würde, wenn Alicia eine Brille auf der Nase trägt. Und was für ein Gestell sie sich wohl ausgesucht hatte? Die Woche verging mit Schularbeiten und Tennisspielen wie im Fluge, und ich hatte das Thema Alicia und Brille gedanklich schon fast wieder beiseitegeschoben.
Alicia hatte vorgeschlagen, dass wir uns am Dienstag vor dem Unterricht mit unseren Rädern an einem bestimmten Punkt treffen, damit sie Tom und mir ihren neuen Look als ersten vorzeigen könnte.
Und dann stand sie da am Dienstagfrüh an unserem vereinbarten Treffpunkt: Alicia mit Brille! Mein erster Gedanke war: Krass! Das Mädchen sieht völlig anders aus. Augen, Nase, Ohren, Gesicht, Kopf, alles wirkt völlig anders und neu. Alicia hatte ein schwarzes Gestell mit rechteckigen Gläsern auf der Nase. Mit der dunklen Farbe und der doch starken Umrahmung wirkte die Brille ziemlich auffällig. Sie verkörperte das, was man landläufig eine Nerd-Brille nennt.
Seitlich bis hinter die Ohren verliefen zwei schwarze Brillenbügel mit einer starken Biegung hinter den Ohrmuscheln. Der Mittelsteg der Brille saß genau dort auf der Nase, wo Alicia schon von Geburt her einen leichten Höcker hatte. Der Nasensteg füllte den Höcker an der Nasenwurzel nun vollständig aus, als wäre er extra dafür geschaffen gewesen. Hinter den Gläsern blitzten Alicias braune Augen. Es faszinierte mich, ihre Augen durch die beiden Brillengläser wahrzunehmen. Da war jetzt etwas zwischen uns.
Wir sahen uns durch die zwei Glasscheiben gefiltert in die Augen. Ihre Augäpfel wirkten etwas kleiner als ich sie bei Alicia ohne Brille gewohnt war. Blickte man seitlich durch die Gläser, wirkte die Umgebung deutlich verkleinert.
„Und?“, fragte Alicia. „Ich bin sprachlos. Du siehst ganz anders aus mit Brille. Also ich find’s gut“, antwortete ich. Tom dagegen schaute missmutig und fügte hinzu: „Und ich weiß nicht, ob ich mich an diesen Anblick gewöhnen will!“ Ich merkte, dass Alicia kurz zusammenzuckte. Dann sagte sie: „Also auf, rein ins Getümmel. Mal sehen, was die anderen sagen. Ich bin auf alles gefasst.“
„Halt“, warf ich ein. „Lass mich mal Deine Brille anprobieren. Interessiert mich, wie sich das anfühlt und ob mir sowas auch stehen würde.“ Alicia schien positiv auf mein Interesse zu reagieren und nahm die Brille ab. Plötzlich sah sie wieder aus wie die alte Alicia, mit leerem Gesicht.
Ich nahm das schwarze Gestell in die Hand. Es war schwerer als ich dachte. Vor allem die Gläser schienen das Gewicht auszumachen. Dann nahm ich die Bügel und setzte mir die Brille vorsichtig auf die Nase und schob die Bügel hinter die Ohren. Das Brillengestell auf der Nase fühlte sich wie ein fremder Gegenstand an, der da eigentlich nicht hingehörte und plötzlich auf Kopf, Nase und Schläfen drückte. Die Brille war für meinen Dickkopf deutlich zu eng. Völlig verwirrt war ich aber, als ich den ersten Blick durch Alicias Brillengläser wagte. Alles wirkte verschwommen, ich fühlte mich mit einem Schlag schwindelig.
„Du wirst nicht viel erkennen können mit meiner Brille“, tröstete mich Alicia, die meine plötzliche Unsicherheit bemerkt hatte. Ich zog die Brille wieder aus und gab sie unserem frischgebackenen Brillenmädchen zurück, die sie sogleich wieder auf die Nase setzte. „Brille steht Dir auch, aber sei froh, dass Du keine brauchst“, sagte Alicia, bevor wir uns auf unsere Räder schwangen.
In der Schule gab es natürlich ein großes Hallo! Alicia stand im Mittelpunkt des Interesses in der Klasse. Die Kommentare waren von freundlich über höflich bis hänselnd in jeder Schattierung zu hören. Ken, unser Klassensprecher verkündete unter Gejohle: „Alicia heißt ab sofort Brillenschlange“ und kam sich dabei obercool vor. Fast alle wollten die Brille mal aufsetzen und kommentierten dann: „Du musst ja halbblind sein, mit so dicken Gläsern! Ich sehe da nichts durch.“
Ich bewunderte Alicia, die all die kleinen Gemeinheiten gelassen über sich ergehen ließ. Und nun saß sie da auf ihrem Stuhl in der zweiten Reihe, die schwarze Nerdbrille auf der Nase, endlich mit Durchblick.
Apropos Durchblick: ich saß schräg hinter Alicia in der dritten Reihe. Und ich hatte während des Unterrichts unablässig meine Augen auf unser frischgebackenes Brillenmädchen gerichtet. Sie hatte wie oft ihre dunkelbraunen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. So hatte ich freien Blick auf die Brillenbügel, die eng an den Ohren anlagen. Vor allem aber konnte ich von seitlich hinten durch die Brillengläser schauen und die optischen Effekte der Verkleinerung studieren. Wenn Alicia ihren Kopf zur Seite wendete, sah ich ihr verändertes Profil, denn quer über ihre seitliche Gesichtshälfte verlief der schwarze Brillenbügel. Vor ihren Augen sowie über der Nase thronte jetzt das Brillengestell mit den geschliffenen Gläsern darin.
Ich war fasziniert. Irgendwie beneidete ich Alicia. Sie hatte mit der neuen Brille etwas bekommen, das ihr Leben besser machte. Sie hatte etwas bekommen, das andere nicht hatten. Sie war mit einem Mal mit ihrer Brille etwas Besonderes geworden. Die Brille hatte sie äußerlich stark verändert. Und das zum Guten, wie ich fand. Von Minute zu Minute verdichtete sich mein Gefühl, dass Alicia ein ansehnliches Mädchen ist, ein ansehnliches Brillenmädchen.