Als ich mit umgebundenem Handtuch in mein Zimmer zurückkam, lag Alicia angezogen auf meinem Bett. Ganz gegen ihre Gewohnheit hatte sie weder ihr iPad noch ihr iPhone in der Hand. „Los, zieh Dich an! Und leg Dich neben mich! Wir müssen reden!“
Kurz darauf lag ich angezogen neben Alicia auf meinem Bett. Eigentlich fühlte ich mich müde. Wie gerne hätte ich Alicia jetzt ohne Kleider in meinen Arm genommen, hätte ihren Körper gespürt und wäre glücklich eingeschlafen. Doch daraus sollte nichts werden. Denn ich wartete ungeduldig, was Alicia mit mir bereden wollte.
Alicia starrte an die Decke. Gefühlt vergingen Minuten, bis sie plötzlich laut aufstöhnte und ihren Kopf zu mir wandte. Sie schob ihre dicke Brille zur Nasenwurzel hoch und sah mir in die Augen. Ihr Blick verriet ein Gefühl, das ich bei Alicia so noch nie bemerkt hatte: die pure Angst!
Dann sprach Alicia aus, was ich sah: „Marcus, ich habe Angst! Ich fürchte, ich werde Dich verlieren. Denn ich kann unter keinen Umständen fortsetzen, was wir gerade eben im Bad angefangen haben. Wir haben beide einen großen Fehler gemacht. Du, als Du nackt mit Deiner Latte ins Bad gestürmt kamst. Und ich, dass ich Dich nicht gleich wieder hochkant rausgeschmissen habe. Ich wollte nur nett zu Dir sein, ohne aber an die Folgen zu denken.“
Mit dieser Botschaft hatte ich nun gar nicht gerechnet. Ich versuchte mich zu rechtfertigen und wandte ein: „Vielleicht war es ja eine ungewöhnliche Art, Dir meine Zuneigung und Liebe zu gestehen. Du bist das begehrenswerteste Mädchen, das ich kenne. Mein Herz klopft, wenn Du in meiner Nähe bist. Du machst mich heiß! Du bist mein Brillenmädchen! Und Du? Empfindest Du denn gar nichts für mich? Vor dem Spiegel gerade sah es aus, als ob Du auch Deinen Spaß an mir haben könntest!“
Alicia wurde plötzlich knallrot im Gesicht. Aber nicht aus Verlegenheit, sondern aus Wut. „Hör sofort auf damit!“, polterte sie. „Du machst alles nur noch viel schlimmer. Merkst Du nicht, wie sehr Du mir Angst machst? Ich kann das nicht und ich will das nicht!“
Sie wandte ihren Blick von mir ab und starrte wieder an die Decke. Dann hörte ich ein lautes Schluchzen und ein rhythmisches Zucken pulsierte durch ihren Körper. Alicia weinte bitterlich. Ihre dicke Brille nahm sie ab und legte sie neben ihren Kopf. Die Tränen schossen nur so aus ihren Augen. Alicia griff zur Bettdecke und vergrub ihren Kopf darin.
Ich lag konsterniert und hilflos da. „Was ist bloß mit Alicia los? Warum dieser abrupte Stimmungsumschwung? Wenn ich nur wüsste, was ich jetzt machen kann. Sie braucht Hilfe, aber wie?“, schossen mir die Gedanken durch den Kopf.
Nach einer halben Ewigkeit hob Alicia den Kopf aus der Bettdecke und schaute mich mit ihren schönen unbebrillten, aber völlig verheulten Augen an. „Marcus, bitte verstehe mich doch. Du bist der wichtigste Mensch in meinem jungen Leben. Wir kennen uns seit Kindesbeinen. Du bist wie ein Bruder für mich. Und seit ich meinen leiblichen Bruder verloren habe, erst recht! Du stehst in der Mitte meines Lebens, viel mehr noch als Tom, der zu viele Flausen im Kopf hat.“
Alicia unterbrach sich und versteckte ihren Kopf in ihren Händen. Die Tränen flossen wieder heftiger. Ich hatte immer noch nicht verstanden, welches Problem Alicia nun ganz konkret mit mir hatte. Denn was sie sagte, war ja völlig richtig, und ich sah es ebenso.
Alicia nahm die Hände vom Gesicht und fuhr fort: „Du bist mein bester Freund, Marcus! Ich brauche Deine Freundschaft. Aber Freundschaft ohne Sex! Mit Sorge hatte ich bemerkt, wie oft sich Deine Hose vorne wölbte, wenn wir zusammen waren. Es war dumm von mir, dass ich nicht schon früher dazu mal was gesagt habe. Und jetzt die Szene im Badezimmer! Marcus, Du darfst unsere besondere Beziehung nicht zerstören. Ich bin Deine Schwester! Nicht biologisch, klar! Aber Deine Kumpelschwester! Ich kann und ich will nicht Deine Geliebte sein!“
Das war ein Schlag in meine Magengrube. Ich fühlte mich wie ein ICE, der im Stuttgarter Hauptbahnhof mit 200 Sachen auf den Prellbock von Gleis 16 geprallt war. Andererseits erinnerte ich mich, dass ich das Risiko ja selbst schon erkannt hatte, aber die Bedenken gegen eine Liebesbeziehung zu Alicia dann doch weggewischt hatte.
Alicia hatte sich etwas beruhigt und weinte nicht mehr so heftig. Gerne hätte ich sie in den Arm genommen und sie getröstet. Doch angesichts ihrer klaren Ansage wäre jetzt ein Körperkontakt bestimmt das falscheste gewesen.
Dann setzte Alicia fort: „Ich bin gerade erst sechzehn. Ich bin noch Jungfrau. Denn ich habe noch mit keinem Menschen irgendeinen sexuellen Kontakt gehabt. Ich fühle mich nicht reif dafür. Der Gedanke daran macht mir Angst. Mein Körper will das nicht. Ich habe auch noch keine Ahnung, ob ich wirklich Männer sexuell anziehend finde, oder vielleicht doch Frauen. Vielleicht ist es mir aber auch egal und ich kann mich in beide Geschlechter verlieben. Oder ich bin asexuell, auch das gibt es. Ich weiß es einfach nicht. Ich muss erst noch mit mir ins Reine kommen. Und das kann noch dauern. Und wie lange es dauert, das weiß nur der liebe Gott!“
Dann griff Alicia mit der rechten Hand nach meiner linken Hand und strich mir mit dem Daumen über den Handrücken. Sie sagte: „Bitte verstehe mich doch! Lass uns das Unglück im Badezimmer schnell wieder vergessen! Wir schaffen das!“
Alicia setzte ihre Brille wieder auf und drehte sich zur Wand. Sie weinte auch dann noch, als ich irgendwann doch noch einschlafen konnte.
Wir schnitten das Thema bis zum Abitur nie wieder an. Und auch bei unserem gemeinsamen Entschluss, dass unsere Clique in Tübingen ein Jurastudium beginnen würde, spielten vorhandene und nicht vorhandene gegenseitige Gefühle nun gar keine Rolle.