An den folgenden Tagen musste ich oft an Paula denken. Ich musste zugeben, dass sie mir gefiel.
In Paulas Nähe hatte ich ein gutes Gefühl. Sie hatte ein ruhiges, sanftes und unaufgeregtes Wesen, konnte gut erzählen, geriet bei ihren Pflanzen und Vögeln ins Schwärmen, sie erschien begeisterungsfähig. Mir imponierte aber auch ihre schnelle Auffassungsgabe, wie sie blitzschnell die für uns neuen Themen der Rechtswissenschaften durchschaute und mit einfachen Worten zu erklären vermochte. Das Mädchen schien sehr intelligent zu sein.
Und ihr Äußeres? Ich fand sie in ihrer Gesamterscheinung einfach frech und süß. Paula war attraktiv, das war zumindest mein Empfinden. Sicher war sie nicht das, was man auf dem Laufsteg als vollkommene Schönheit bezeichnet hätte. Doch diese vermeintlich vollkommenen Schönheiten waren oftmals langweilig anzuschauen, weil ihnen das gewisse Extra, einfach der Unterschied fehlte.
Paula machte den Unterschied. Sie war besonders. An ihr gab es etwas zu entdecken. Ich fühlte, mich an ihr nicht satt sehen zu können. Das fing mit ihrem auffallenden, kurz geschnittenen Rotschopf an. Mir gefielen Paulas Haare sowohl wegen der Farbe als auch wegen des frechen, etwas männlich wirkenden Schnitts. Ihr Gesicht und ihr Hals waren mit unzähligen Sommersprossen übersät. Die ansonsten helle Haut erhielt damit ein dekoratives Muster. Die leicht nach oben gebogene kurze Nase betonte die freche Erscheinung in Paulas Gesicht. Und ich mochte ihre stahlblauen Augen mit den blässlich-roten Wimpern sehr, wenn sie mich anstrahlten.
Das Zahnspangenlächeln verlieh Paula einen kindlich-mädchenhaften Touch. Jedenfalls hatte sie einen Hingucker, wenn sie den Mund öffnete und die Spangen aus Silberdraht dem Gegenüber entgegenblitzten. Ihren Sprachfehler mit den s- und z-Lauten fand ich lustig, aber keineswegs störend. Das Lispeln war die besondere Note in Paulas Sprache.
Die pinken Hörgeräte waren natürlich ebenfalls ein Hingucker, auch wenn sie hinter den Ohren gar nicht einmal so auffällig waren. Aber ich taxierte sie eher als schmückende Gadgets denn als hässliche medizinische Hilfsmittel ein. Ja, Paula brauchte die Geräte dringend zum Hören. Aber irgendwie waren sie nach meinem Empfinden wegen ihrer Farbe und Form auch nett anzuschauen.
Und Paulas Diabetes: Den konnte man ihr ja äußerlich nicht ansehen. Und ich wusste auch, dass es chronische Krankheiten bei jungen Menschen gab, die wesentlich schwieriger als ein Diabetes zu ertragen waren.
Tja, und dass mir Paulas Brüste nicht egal waren, gehörte auch zur Wahrheit. Paula hatte für mich dadurch die Erscheinung eines Vollweibs. Ich stellte mir vor, wie ich die Brüste mit den Händen massieren oder mit dem Mund an ihnen saugen würde. Ja, Paula machte mich an.
„Da hast Du richtig Glück gehabt, dass Paula Dich von sich aus angesprochen und sich mit Dir das erste Mal verabredet hat. Mein meist schüchternes Ich wäre womöglich nicht auf diese Idee gekommen“, dachte ich dankbar. Bei Yasemin hatte ich damals gegen meine Natur eine mutige Ausnahme gemacht.
Wenn meine Gedanken an Paula immer wieder umherschwirrten, kamen sie meist an einen Punkt, der mich ziemlich missmutig zurückließ. Etwas fehlte mir an Paula, das war für mich nun wirklich nicht zu leugnen: Paula trug keine Brille! Es fehlte das Sahnehäubchen auf ihrer Nase!
Die Leitlinie meines Geschmacks, was Mädchen anlangte, war: „Mit Brille ist nicht alles, aber ohne Brille ist alles nichts!“ Leere Gesichter fand ich grundsätzlich langweilig. Aber ein Gesicht mit einer mit Geschmack ausgesuchten Brille fand ich anziehend. Zwar trugen statistisch nur etwas mehr als 20 Prozent der Mädchen in meinem Alter eine Brille. Also war meine Zielgruppe von vornherein deutlich eingeschränkt. Gleichwohl wusste ich es und konnte und wollte es nicht anders: Meine künftige Lebenspartnerin müsste einmal eine Frau mit Brille sein. Mit Sahnehäubchen eben.
Nun, Paula hatte ja beileibe kein leer wirkendes Gesicht. Dennoch fehlte mir an ihr der Blickfang. Es fehlte die dominante Wirkung einer Brille im Gesicht.
In meiner Vorstellung sah ich mich mit Paula zum Sehtest gehen, der bei ihr eine Fehlsichtigkeit feststellen würde. Wir würden dann gemeinsam eine chice Brille aussuchen. Und dann wäre Paula das komplette Brillenmädchen meiner Träume.
Doch wie ich den Traum Wirklichkeit werden lassen könnte, dafür hatte ich zunächst keine Lösung.