Behutsam löste ich mich aus der Umklammerung durch Alicia. Ich nahm sie an der Hand und ging mit ihr in mein Zimmer.
Tausend Gedanken strömten auf einmal in meinem Kopf. Gefühle von Glück und gleichzeitig von Panik überkamen mich. Glücklich fühlte ich mich wegen der Anwesenheit von Alicia. Ihren Körper zu spüren und ihre Zuneigung zu hören, ließen mich auf einer Wolke schweben. Alicia war mir so vertraut wie kein anderer Mensch, nicht einmal wie meine Mutter.
Aber Panik hatte ich trotzdem. Wie kam ich aus dem Dilemma heraus, dass ich doppelt verliebt und geliebt war? Musste ich mich nicht schnell und endgültig entscheiden, welches Mädchen ich am meisten begehrte und dann das andere fallen lassen? Oder sollte ich mich von beiden Mädchen trennen, um meinem Dilemma zu entgehen?
Ich musste Alicia reinen Wein einschenken. Paula hatte zwar behauptet, dass sie mit Alicia über ihre Beziehung zu mir gesprochen hatte. Doch über was genau und wie konkret hatten sie gesprochen? Und was hatte es zu bedeuten, dass Alicia heute mir gegenüber so auftrat, als wäre nichts geschehen und als gäbe es zwischen uns das andere Mädchen Paula gar nicht?
Wir setzten uns auf mein Sofa. Noch bevor Alicia ihren Mund öffnen und etwas sagen konnte, presste ich zwischen meinen Lippen hervor: „Stell Dir vor, Paula hat mir geschrieben.“ Ich ergriff den mehrseitigen Brief, der vor mir auf dem Tisch lag und hielt ihn Alicia hin. „Bitte lies das mal“, sagte ich zu Alicia.
Ich wollte es hinter mich bringen. Ich wollte Alicia in alles einweihen, denn ich vertraute ihr voll und ganz. Zunächst wollte ich sie den Brief lesen lassen. Anschließend wollte ich ihr von meiner WhatsApp an Paula und ihrer Antwort berichten. Und dann wollte ich Alicia fragen, was jetzt aus meiner Beziehung zu ihr werden sollte.
Doch Alicia schob meine Hand mit dem Brief zurück und erwiderte: „Den Brief kenne ich. Paula hat ihn mir gezeigt, bevor sie ihn abgesandt hat. Und von Deiner Reaktion darauf hat mir Paula auch gleich erzählt. Ich bin bestens informiert. Du brauchst Dir keine Mühe machen.“
Ich war endgültig sprachlos. Alicia schien tatsächlich schon alles zu wissen. Sie wusste also von der Liebeserklärung von Paula an mich. Und sie wusste davon, dass ich Paula, überwältigt von ihrer bewegenden Lebensgeschichte und ihrer unendlichen Zuneigung, verziehen hatte und sie ebenfalls wieder gewinnen wollte.
Und trotzdem war Alicia fröhlich in meine Wohnung geschneit und tat, als ob nichts geschehen wäre. Ihr Liebesgeflüster in den Ohren, hatte ich ihr ebenfalls Liebe und Treue versprochen.
Rational war das alles nicht mehr zu begreifen. Irgendetwas passte für mich nicht zusammen. Was hatten Paula und Alicia mit mir gemacht? Was hatten die beiden Mädchen mit mir im Sinn?
Ich schaute Alicia ungläubig und sichtlich verwirrt an. Ihre Äuglein hinter den dicken Brillengläsern funkelten vergnügt. Alicia hatte ihr verführerischstes Lächeln aufgesetzt. Ich liebte sie. Sehr sogar!
In diesem Moment musste ich plötzlich unvermittelt an Paula denken. Mein Rotschopf mit ihren Sommersprossen, ihren üppigen Brüsten, dem pinken Ohrschmuck, den Zahnspangen und ihrer Brille erschien vor meinen Augen. Ja, ich liebte sie auch. Sehr sogar!
Die Bilder von Alicia und Paula vor meinen Augen hatten sich plötzlich vermischt und verwischt. War das alles, was gerade geschah, ein schöner – oder vielleicht doch ein böser - Traum? Wie konnte es dazu kommen, dass mich offenbar gleich zwei Mädchen auf einmal liebten - und ich sie auch? Und dazu beide auch noch mit dem von mir immer so sehr ersehnten Sahnehäubchen, nämlich einer sie schmückenden Brille auf der Nase?
Ich schloss die Augen. Es wurde dunkel um mich.