Ein neuer Lebensabschnitt lag vor uns, denn es begann der erste Tag unseres gemeinsamen Jurastudiums in Tübingen. Montagfrüh um 10 Uhr stand die Einführungsveranstaltung für die Erstsemester auf dem Wochenplan, den wir aus dem Internet von der Uni-Homepage heruntergeladen hatten.
„Bitte, lass uns weit nach vorne sitzen“, bat Alicia, als wir die Aula der Universität betreten hatten. „Ihr wisst, meine Augen!“ Ja, wir wussten es seit Jahren: Alicia war ein blindes Huhn. Wir taten Alicia den Gefallen und setzten uns wie Streberin und Streber weit nach vorne, dort, wo kaum jemand anders die Zelte aufgeschlagen hatte. In vornehmer Zurückhaltung zogen es die meisten anderen vor, sich auf die hinteren Bänke zu verdrücken, möglichst weit weg von dieser unbekannten Spezies, die man Universitätsprofessoren zu nennen pflegte.
Im Wochenplan angekündigt war der Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Prof. Dr. Dr. Waldemar Korkowski. Er sollte die Begrüßung und Einführung des neuen Studienjahrgangs als höchstrangiger Vertreter der Fakultät durchführen. Doch dann trat ein junges Bürschchen ans Rednerpult. „Der will schon Professor sein? Der ist doch höchstens fünf Jahre älter als wir“, murmelte Tom zu Alicia und mir.
Der Jüngling stellte sich dann als Manuel Dröger vor. „Wenn Sie Spectabilis Professor Dr. Dr. Korkowski hier erwartet haben sollten, muss ich Sie leider enttäuschen. Dringende Geschäfte im Dekanat nehmen den Dekan unserer Fakultät heute in Anspruch. Er hat mich gebeten, Sie in seinem Namen herzlich zu begrüßen. Das tue ich hiermit gerne. Als Lehrstuhlmitarbeiter von Herrn Prof. Dr. Dr. Korkowski ist es mir ein extremes Vergnügen, Sie heute hier willkommen zu heißen.“
„Das fängt ja gut an“, raunte Alicia gut vernehmbar zu Tom und mir „Ich glaube dem Typen kein Wort!“ Dröger fuhr fort: „Unser Dekan hat mich beauftragt, Ihnen nun seine Grußworte vorzutragen.“ Er nestelte ein Bündel mehrfach gefalteter Blätter aus seiner Aktentasche und las die folgenden dreiunddreißig Minuten vor, was wahrscheinlich ein anderer Mitarbeiter dem Chef für den heutigen Termin ellenlang aufgeschrieben hatte.
Tom spottete noch lauter hörbar: „Aha, das nennt man jetzt also eine Vorlesung.“ Gelächter zog durch den Raum. Wir Lümmel von der ersten Bank grinsten uns einen ab.
Was ich von den Ausführungen verstanden hatte, war lediglich, dass die Rechtswissenschaften eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft leisten und dass dieser Zusammenhalt angesichts divergierender Individualinteressen im 21. Jahrhundert immer größere Bedeutung erlangt. Diese Erkenntnis hatten wir aber auch schon im Grundkurs Politik im Gymnasium vermittelt bekommen. Sonst blieb von den monotonen Ausführungen des Jungspunds am Pult nicht viel bei mir hängen.
Aufmerksame Stille im Saal machte sich erst wieder breit, als Dröger ankündigte, dass am heutigen Tag die erstmals ein- und durchgeführten Tutorengruppen gebildet und eingesetzt würden. In den letzten zwei Wochen hatte man sich eintragen müssen, welcher Gruppe man sich anschließen wollte. Wir drei hatten uns entschieden, gemeinsam in eine Gruppe zu gehen, die sich künftig freitags von 14-16 Uhr treffen würde.
Unsere Tutorin war als studentische Hilfskraft Annette Holzschuh angekündigt. Heute um 12 Uhr sollte sich unsere Gruppe mit ihrer Tutorin zur „konstituierenden Sitzung“ begeben, um sich kennenzulernen und die weiteren Abläufe zu besprechen.
„Na, da bin ich ja mal gespannt, was das für Typen sind, die mit uns in einer Gruppe sein werden. Ich finde, Studenten müssen auch Spaß haben dürfen. Auf Streber und Spaßbremsen habe ich nun wirklich keine Lust“, meinte Tom zu Alicia und mir, nachdem die langweilige Einführungsveranstaltung aufgehört hatte.