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"Was machst du heute Nachmittag?", fragt mich Kena nachdenklich. Während des ganzen Vortrags hatte sie mit Kayl über den merkwürdigen Typen gesprochen und ihn regelrecht bewertet, was mich fast verrückt gemacht hat. So ist Kena eben. "Ich treffe mich mit Bree", erkläre ich, während wir zusammen die Treppen im Hörsaal hinuntersteigen, um den Raum zu verlassen:"Leider haben wir sie schon seit einer Wochen nicht gesehen." Sofort folgt auf meine Worte ein verächtliches Schnauben von Kena.
Kenas Abneigung war allerdings noch nie einseitig. Beide Frauen können sich nicht ausstehen und versuchen so wenig Zeit wie möglich miteinander zu verbringen, denn sie sind wohl die unterschiedlichsten Menschen, die es auf der Welt gibt.
Während Kena immer nur das Äußere anderer Menschen wichtig ist, ist Bree allein auf das Innere ihres Gegenübers konzentriert und vergisst die äußere Schale völlig.
Trotzdem werfe ich ihr einen warnenden Blick zu: “Ich zwing dich ja nicht mitzukommen, also beschwert dich auch nicht.“ Als Antwort erhalte ich lediglich ein semi-frohes Brummen, bevor sie ihr Handy aus der Tasche zieht und so konzentriert darauf zu starren beginnt, dass sie fast die letzten Stufen der kleinen Treppe runter fällt.
“Jetzt aber mal zu einem wichtigeren Thema“, lenkt Kayl schnell ab, während sie nervös mit den Fingern an ihren pinken Spitzen herumspielt.
Das tut sie nicht, weil sie sich langweilt, sondern weil sie es sich schon in der Grundschule angeeignet hat und nun nicht mehr loswird. Irgendwie bewahrt sie sich mit dieser Angewohnheit auch ein Stück ihres inneren Kindes und das schätze ich einfach nur an ihr. Denn auch wenn es vielleicht nicht immer vorteile hat, wie sie einfach fröhlich in den Tag hineinzuleben, ist sie dadurch ein viel positiverer Menschen als ich und entdeckt Chancen, wenn sie genau vor ihrer Nase sind meist innerhalb weniger Millisekunden.
“Und das wäre?“, harke ich interessiert nach, denn bei Gesprächen mit ihr kann man sich immer sicher sein, dass sie einem keine Fragen zu den Hausaufgaben oder den Buszeiten stellt. Unterhaltungen mit ihr sind beinahe ausnahmslos unterhaltsam.
Natürlich schafft sie es allerdings mal wieder ein Thema anzusprechen, dass für mich gar nicht lustig ist: “Dieser Typ, der dich während des ganzen Vortrags unaufhörlich angestarrt hat.“ Auf ihrem Gesicht erscheint ein enthusiastischer Ausdruck.
Ich muss mich wirklich stark beherrschen, um nicht mit den Augen zu rollen: “Ich hab doch schon gesagt, dass ich weder weiß, wer er ist, noch was er von mir will.“ “Kann ich ihn haben, wenn du ihn gar nicht willst?“, schaltet sich nun auch meine schwarzhaarige Freundin ein, die für wenige Sekunden den Blick vom Display ihres Handys gehoben hat. “Kena!“, rufen Kayl und ich genau im selben Moment voller Wut. “Was? Ich find ihn süß und Geld hat er mit Sicherheit auch“, spekuliert sie: “Sonst würde er sicher nicht einfach so im 3000 Dollar Anzug rumlaufen.“
“Leute, können wir nicht einfach komplett aufhören darüber zu reden“, bettle ich fast. Ich habe wirklich keine Lust mehr auf das hier. Tatsächlich weiß ich nicht, wer der brünette Mann ist. Allerdings habe ich eine Vermutung!
Sicher ist er einer der Männer, der im Club waren, als ich gerade meine Schicht geschoben habe. Sowas passiert mir schließlich nicht zum ersten Mal.
An ihm ist allerdings etwas anders. Nicht nur, dass er kein vollkommener Idiot zu sein scheint – soweit ich es anhand seines Vortrags wenigstens abschätzen kann – , sondern auch, dass er den Macho bisher kein Mal hat raushängen lassen.
Endlich sind wir aus der Tür getreten, da legt sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter. Erschrocken zucke ich zusammen und fahre zu der Person hinter mir herum.
Dort steht er. Der Mann, der mich dazu bringt, rot zu werden wie es bisher kein anderer geschafft hat.
“Hey“, ein zaghaftes Lächeln schleicht sich auf die Lippen des Brünetten: “Kann ich kurz mit dir reden?“ “H-Hey“, stottere ich unsicher und will einfach nur, dass er seine Hand von meinem Körper weg nimmt: “Reden? Das ist gerade wirklich schlechtes Timing. Ich hab gleich meinen nächsten Kurs.“ “Ach komm schon, du wirst mir doch sicher eine Sekunde schenken können“, bittet er. In seinen Augen entdecke ich ein unsicheres Flackern.
“Haben Sie nicht gehört, was sie gesagt hat?“, schaltet sich nun glücklicherweise auch Kayl ein:“Sie will nicht mit Ihnen reden.“
In diesem Moment bin ich meiner blonden Freundin einfach nur dankbar. Obwohl sie noch vor wenigen Minuten Infos aus mir heraus kitzeln wollte, steht sie nun auf meiner Seite und unterstützt mich, egal ob sie meiner Meinung ist oder nicht.
“Aber…“, beginnt er, da schaltet sich auch meine zweite Begleiterin ein: “Die Neunziger haben angerufen. Sie wollen dein Tattoo wieder haben.“
Dass nun auch sie mich unterstützt, lässt mich fast aus den Latschen kippen, doch als ich endlich merke, dass sie versucht mich zu verteidigen, schlägt mein Herz schneller.
“Da haben sie sich wohl verwählt“, kontert er: “Ich hab, nämlich gar keine Tattoos.“
Instinktiv werfe ich ihm einen bösen Blick zu: “Hey, Leute. Sind wir hier etwa im Kindergarten?“ “Nein, sind wir nicht“, geben alle drei zurück.
Obwohl ich die Versuche meiner Freundinnen zu schätzen weiß, drehe ich mich zu ihnen um: “Könnt ihr mich kurz mit ihm allein lassen?“ Der Ausdruck im Gesicht des Mannes ist nämlich klar zu erkennen, dass er mich nicht mehr im Ruhe lassen wird, wenn ich ihm nicht eine Minute gebe, obwohl ich mich dabei nicht wirklich wohlfühle. Schließlich könnte er auch irgendein Perverser sein!
"Bist du sicher?", will sich Kena noch einmal versichern. Sofort nicke ich und versuche dabei auch mich selbst zu überzeugen: "Ja, ich bin sicher. Dauert ja nur eine Minute. Dann komme ich wieder zu euch."
Natürlich entgeht mir der unsichere Ausdruck auf dem Gesicht meiner Freundinnen nicht, doch ich kann nicht riskieren, dass er vor ihnen irgendwas ausplaudert. Da nehme ich mir lieber eine Minute Zeit für ihn und wahre mein Geheimnis, wenn es wirklich um meinen kleinen Nebenjob geht. Vielleicht geht es aber auch um etwas anderes und die ganze Panik war umsonst.
Auf meine Bitte hin gehen meine beide besten Freundinnen schon weiter zum nächsten Kursraum, sodass mir nicht anderes übrig bleibt, als mich zu meinem Verfolger umzudrehen: "Also? Was gibt's so dringendes?" Obwohl ihm der genervte Ton in meiner Stimme mit Sicherheit nicht entgeht, klingt er überraschenderweise freundlich: "Ich habe dich da in diesem Club gesehen. Du warst wirklich super."
Instinktiv beiße ich mir so fest auf die Lippe, dass sie jede Sekunde zu bluten beginnen könnte, als mein Herz bei dem Wort "Club" einen Satz macht: "Danke, aber das war ich nicht." "Doch, warst du", widerspricht er mir selbstsicher: "Ich vergesse niemals ein Gesicht." Angeber!
"Na gut, ich war es, aber das darf niemand wissen, okay?", nervös beginne ich an dem Saum meines T-Shirts herumzuspielen. "Warum denn nicht? Du warst großartig", erwidert er überrascht und verschränkt die Arme vor der Brust. "Weil das nichts ist, was man in dieser Gesellschaft schätzt", erkläre ich: "Das musst du als Geschäftsmann doch wissen." "Nur weil ich Junior Chef in einer Firma bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht tun, was ich will." "Und ich will einfach nicht, dass jemand davon erfährt", zische ich leicht gereizt: "Ich möchte meine beiden Lebensarten einfach nicht verbinden und fertig. Warum interessiert dich das überhaupt? Wir kennen uns nicht einmal." "Sie haben mich einfach beeindruckt", gibt er zu.
Dieses Geständnis überrascht mich völlig. Ich habe ihn beeindruckt. Wie das habe ich das denn geschafft?
Scheinbar bemerkt er den verwunderten Eindruck in meinem Gesicht sofort: "Du hast einfach diese besondere Aura, wenn du diesen Job machst. Fast so als wäre es etwas, was dir erlaubt mal aus deinem normalen Alltag auszubrechen."
Ich schlucke nervös. Er bringt es auf den Punkt. Für meine Eltern, Freunde und Bekannte immer perfekt zu sein, ist einfach anstrengend. Da ist es, als würde eine Last von mir fallen, wenn ich an der Stange tanze. Es ist eine Art von Freiheit, die man nur spüren kann, wenn man der verführerischen Dunkelheit in seinem Inneren raum bietet, anstatt sie zu verbergen. Man muss einfach nur loslassen!
Irgendwie bin ich mit dem Kapitel gar nicht zufrieden. Das Nächste wird wieder besser!