Er drehte den Schlüssel und öffnete die Tür.
Der Holzgeruch zog sofort in seine Nase. Er musste blinzeln. Beinahe überrollten ihn die Erinnerungen. Er trat in den Raum und schob die Tür hinter sich ins Schloss. Lehnte sich dagegen. Atmete durch. Seine Augen wanderten von links nach rechts. Von rechts zurück links.
Sie erfassten die breite Werkbank mit den Hockern davor. Zwei auf jeder Seite. Rechts stand die Säge, der als Kind nicht hatte anfassen dürfen. Das Schleifgerät in der Ecke ließ ihn schmunzeln. Zögerlich setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er den Hocker erreichte, der ihm am Nächsten stand. Mit der flachen Hand fuhr er über die runde Sitzfläche. War er schon immer so niedrig gewesen? Neugierig betrachtete er das Regal hinter der Werkbank. Die Ordnung hatte sich nicht verändert. Überall Werkzeugkisten, die fein säuberlich beschriftet waren. Zum Großteil noch in der Handschrift, die ihm so unglaublich vertraut war. Mit einem nervösen Ziehen im Magen umrundete er die Hocker und blieb vor dieser Wand stehen.
Schrauben in allen Größen.
Kleinwerkzeuge.
Farben und Lacke.
Pinsel.
Verbindungselemente.
Schleifpapier.
Holz in allen Variationen, teilweise auch sehr frisch.
Die Kiste mit den Krippenfiguren fiel ihm ins Auge.
Daneben standen weitere Aufbewahrungsboxen.
Vermutlich auch Spielzeuge. Dazu Dekomaterial nach Anlässen sortiert.
Ganz langsam ging er in die Hocke und kniff kurz die Augen zusammen.
Ob seine Schatzkiste noch hier war?
Vorsichtig öffnete er die Augen. Im untersten Fach wurde er fündig. Eine stabile Holzkiste, verschlossen mit einem Vorhängeschloss. Der Deckel war kunstvoll verziert und sein Name war hineingeschnitzt. Seine Finger fuhren in die Vertiefungen und er malte die Buchstaben nach. Warum schlug ihm denn jetzt sein Herz bis zum Hals? Er musterte das Schloss und richtete sich mit der Kiste auf. Suchend glitten seine Augen wieder über das Regal. Den Schlüssel hatte er immer wieder an neuen Orten versteckt. Ob er ihn finden würde? Er platzierte die Kiste auf der Werkbank und ging dann zur rechten Wand. Dort hingen Arbeitshandschuhe, Schweißerbrillen und ein Gehörschutz. Kurz dachte er nach. Doch egal wie sehr er sich auch konzentrierte, ihm wollte nicht einfallen, wann er vor dem Unglück zuletzt hier gewesen war.
Auf gut Glück suchte er ein paar der üblichen Verstecke ab. Zwei Vertiefungen in der Seitenwand des Regal, unter einer losen Fußbodenpanelle, diverse Materialboxen. Seufzend lehnte er sich nach einer halben Stunde an die Werkbank. Seine Augen fixierten diese Kiste. Wanderten dann durch den fast quadratischen Raum. Der ihm früher natürlich größer vorgekommen war. Er sog die Luft ein, roch wieder das Holz und beinahe war es, als könnte er die geliebte Stimme nochmal hören.
Ruhig und besonnen in der Anleitung an den Werkzeugen.
Tröstend und beruhigend, wenn er sich ausgeweint hatte.
Die Sache mit dem Vermissen ist schon seltsam. So viel Zeit war ins Land gegangen und trotzdem fühlte es sich jetzt gerade an, als wäre er nochmal zwölf Jahre alt.
Die Holzkiste vor ihm war nicht groß. Selbst gezimmert hatte er sie. Und ein paar Schätze sollten sich noch darin befinden. Dessen war er sich sicher. Insbesondere etwas, an was er sich erst vor wenigen Tagen erinnert hatte. Und das ihn seitdem nicht mehr los ließ. Verdammt, wo war nur dieser Schlüssel? Ungern wollte er den Deckel oder den Boden aufsägen. Nochmal schritt er das Regal ab, versuchte sich an diesen Sommer zu erinnern.
Er blieb stehen. Vor ihm die Schachtel mit den Krippefiguren. Das Projekt für den damaligen Herbst kam ihm in den Kopf. Dazu war es nicht mehr gekommen, fiel ihm ein. Erst Jahre später waren die Figuren aufbereitet worden. Aufgeregt sah er sich um. Davor hatte er an Geburtstagsgeschenken für die Eltern gearbeitet. Schutzpatrone aus Holz sollten es werden. Und für alles hatten sie neue Holzfarben besorgt. Neue Pinsel. An billigen Holzstücken hatte er den Umgang geübt. Ihm fiel das Vogelhäuschen ein. Es war ebenfalls nie fertig geworden, aber daran hatte er zuletzt probiert. Ihm wurde warm. Richtig, er hatte einen kleinen doppelten Boden eingezogen und den Schlüssel dort versteckt.
Hektisch suchte er das Regal ab. Ob es noch da war? Benutzt worden war es nie, soweit er sich erinnerte. Er durchwühlte jedes Fach, schob alles umher und kletterte zuletzt gar auf die Leiter. Dann entdeckte er es. Ganz hinten, ganz oben. Mit klopfendem Herz tastete er den Boden ab und fand die Öffnung. Tatsache, der Schlüssel war noch und und mit etwas Geschick bekam er ihn mit den jetzt deutlich größeren Fingern dennoch heraus.
Puh, dachte er und schob den Schlüssel in das vorgesehe Schloss. Es klemmte. Er half mit Öl nach. Drehte wieder den Schlüssel und endlich klickte es. Das Schloss sprang auf. Ganz langsam hob er den Deckel. Sofort entdeckte er die kleine Holzfigur. Eine schöne Arbeit, sicherlich die beste in seinem damals jungen Leben.
Filigran.
Ausdrucksstark.
Er griff nach ihr und auf einmal war da eine wunderbare Ruhe in ihm. Das Holz fühlte sich in der Hand unheimlich vertraut an. Dann waren da diese Bilder und er sank auf den Hocker. Inmitten dieses Chaos, umgeben von diesem Geruch nach Holz und Farben, fühlte er sich Zuhause. Geborgen. Sein sicherer Ort. Nirgendwo sonst hatte er sich so gefühlt.Und jahrelang hatte er es vergessen gehabt. Mit der Figur in der Hand ließ er all die Erinnerungen und Gefühle zu. Ihm war fast so, als würde sein Opa hinter ihm stehen und ihm eine Hand auf die Schulter legen.