Prompt: Pusteblume (17.06.2020)
Start: 18:48 Uhr
Ende: 19:44 Uhr
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Behutsam trug er noch eine Salbe auf. Die großen Hände, die eben noch so konzentriert gearbeitet hatten, fühlten sich beinahe sanft an. Mit mahnenden Worten, mit seiner angenehmen ruhigen Stimme, versorgte er die Stelle und lächelte ihn dann an.
"Später vorsichtig abnehmen, mit lauwarmen Wasser reinigen und nur trocken tupfen. Ordentlich eincremen und das alles lieber einmal zu viel, als zu wenig, zwei- bis dreimal täglich auf jeden Fall", empfahl Nils. Dann rollte er auf seinem Stuhl zurück. "Schön sauber halten, nicht kratzen. Keine direkte Sonne und auf keinen Fall Chlorwasser. Wenn es sich entzündet, dann unbedingt kontrollieren lassen", schob er nach. Seine braune Augen ruhten auf dem Anderen. Dann reichte er ihm die Salbe und einen Merkzettel.
Mit seinen fast zwei Metern stießt er beinahe gegen den Türrahmen, als er seinen Kunden zum Ausgang begleitete. Sein Händedruck war fest. Sein erneutes Lächeln liebenswürdig. Ein großer, sanfter Bär, so war er ihm beschrieben worden. Muskulös, bärtig und ein grandioser Künstler.
So ganz konnte Jan gar nicht glauben, dass er dann doch noch hier gelandet war. Aus einer kleinen Fantasie, einer wagen Idee war nun Realität geworden. Auf dem Weg nach Hause musterte er die Folie immer wieder kritisch. Aber nun war es zu spät irgendetwas zu bereuen. Ganz bewusst hatte er niemanden eingeweiht und die Mission alleine angegangen. Nun aber hieß es Farbe bekennen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Etwas Aufschub bekam er noch und so langsam setzte die Euphorie ein, von der er gelesen und gehört hatte. Was sie wohl sagen würde? Ob sie es albern fand? Immerhin war er keine Anfang 20 mehr. Oder feige? Weil er damit etwas überdeckte, an was er nicht permanent erinnert werden wollte?
"Ich möchte dir was zeigen."
Sie stand im Durchgang zwischen ihrem Schlafzimmer und dem Bad. Die Kinder längst im Bett, der Abend schon fortgeschritten.
"Komm", bat er sie und ging voraus. Als sie sich mit fragendem Blick neben ihn auf den Wannenrand setzte, schlüpfte er aus dem leichten Pulli, den er den ganzen Nachmittag getragen hatte.
Ihre Augen hefteten sich an seinen linken Unterarm.
Sie runzelte ihre Stirn, als er vorsichtig die Folie löste.
Acht Stunden war es nun her.
Die Stelle war noch gerötet, aber das Motiv gut sichtbar. Noch genauso schön, wie es Jan von der Vorlage in Erinnerung hatte.
Hinsehen hatte er nicht gekonnt, auch wenn die Prozedur längst nicht so schmerzhaft gewesen war, wie befürchtet. Trotzdem hatte er hier und da die Zähne zusammenbeißen müssen.
"Wann hast du das machen lassen?", fragte sie ungläubig.
"Heute morgen. Bei Nils. Du weißt schon."
Nickend betrachtete sie seinen Arm nun genauer.
Die Eröffnung des Studios hatte im Dorf für allerlei Wirbel gesorgt.
"Tat es weh?", wollte sie wissen.
Lachend stand er auf und ging zum Waschbecken.
"Nicht sonderlich. Nicht so sehr wie damals, als die Narbe entstand", gab er zu.
Er konnte ihre Blick im Rücken spüren, während er Nils´ Anweisungen sorgfältig ausführte.
"Das Geräusch war etwas fies. Ein bisschen wie eine Nähmaschine. Nur schneller", erzählte er weiter. Dann griff er zur desinfizierenden Salbe.
"Eine Pusteblume?", fragte sie.
Nickend drehte er sich zu ihr.
"Vielleicht nicht besonders originell, aber für mich auch wieder so passend", flüsterte er.
"Eine Pusteblume steht für Vergänglichkeit. Für das Loslassen. Leichtigkeit. Freude. Für die Zerbrechlichkeit. Und wir wissen beide wie zerbrechlich Glück sein kann, wie wichtig loslassen ist", meinte er und kam zu ihr zurück.
Wieder musterte sie das Motiv.
Der Stempel der Blume verdeckte die Brandnarbe. Zwei kleine Fallschirme schienen gerade weggepustet worden zu sein. Die Linien waren klar und scharf gestochen. Der Stengel wanderte dünner werdend zu Jans Handgelenk.
"Wunderschön", meinte sie leise.
Er räusperte sich.
"Hast du als Kind nie darüber nachgedacht, wohin die Samen fliegen? Warum sie so lustig wie Fallschirme aussehen? Und was sie wohl im Gepäck haben?", fragte er.
Ihre Hand ruhte auf seinem Knie.
"Ich habe mir immer vorgestellt, dass sie meine Wünsche mitnehmen", antwortete sie.
Schmunzelnd hauchte er ihr einen Kuss auf die Schläfe.
"Das ist süß", stellte er fest.
Kichernd lehnte sie sich an ihn.
Dann wurde sie ernst.
"Du hattest mal gesagt, dass du die Narben nicht übertätowierten lassen möchtest, damit du eine mahnende Erinnerung hast."
Isabelle sah ihm in die Augen.
"Ja, ich wollte zu ihnen stehen. Gerade weil ich sie mir selbst zugefügt habe. Aber weißt du, ich glaube es ist an der Zeit auch das hinter mir zu lassen. Vielleicht können die fliegenden Samen noch ein bisschen was an Ballast mitnehmen." Verlegen sah Jan seine Frau an. "Nils meint, er kann mir auch irgendwann am Ende des Stengels unseren Stern stechen. Ganz klein. Am Handgelenk. Aber das soll deutlich mehr weh tun." Nun lachte er leise.
Seufzend zog er sie dann von der Wanne hoch.
"Mama hat früher immer erzählt, dass man sich was wünschen darf, wenn man die Pusteblume in einem Rutsch wegpustet", sagte er, schob sie aus dem Bad und zur Treppe.
Vor dem Haus deutete er auf den Vorgarten.
"Sollen wir?", fragte er.
Geschickt rupfte er zwei Blumen aus dem Beet, das Isabelle am Wochenende neu machen wollte.
Eine drückte er ihr in die Hand und stellte sich mit seiner vor sie.
"Auf drei", schlug sie vor.
"Und mit geschlossenen Augen!", warf er noch ein.
Beide pusteten los und tatsächlich erhoben sich die kleinen Fallschirme in den Himmel. Als sie beide die Augen wieder öffneten, hier ein jeder nur noch den Stengel in der Hand. Isabelle schmiegte sich an seine nackte Brust und atmete tief durch. Sagte nichts.
"Ich dich auch", flüsterte er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Zog sie fest in seine Arme und sah den Fallschirmen nach.