Prompt: Eiskristall (08.12.19)
Startzeit: 19:45 Uhr
Ende: 20:45 Uhr
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Er hat keine Ahnung, wie lange er geschlafen hat.
Das gleichmäßige Summen irritiert ihn zunächst, dann fällt ihm ein, wo er sich befindet. Er schiebt die Decke beiseite und dreht den Kopf zum Fenster.
Kleine Eiskristalle haben sich an der Scheibe gebildet und hinterlassen ein hübsches Muster. Er muss an die Eisblumen denken, die er oft als Kind im Winter bestaunt hat. Fasziniert haben sie ihn damals. Es hat für ein kurzes Interesse an Physik gereicht. Immerhin.
Er streckt die schmerzenden Glieder, die Haltung war alles andere als bequem. Langsam dreht er den Nacken und versucht, den Rücken etwas zu entlasten.
Wieder wandern seine Augen um Fenster hinaus. Die Wolken fesseln seinen Blick. Wie kleine weiche Federkissen kommen sie daher. Als Kind hat er geglaubt, dass man in die Wolken hinein tauchen kann, sie ein kuscheliger Ort wären. Und er hat lange daran geglaubt, dass die Verstorbenen als Engel auf einer Wolke sitzen und über die Lebenden wachen.
Daran hat er in den letzten Monaten oft denken müssen. Man sagt ja, dass in vielen Legenden oder Sagen ein Kern Wahrheit steckt.
Seufzend richtet er sich auf.
In der Kabine ist das Licht gedimmt, es ist sehr ruhig.
Er ist noch nie geflogen. Der Gedanke daran machte ihm gar etwas Angst. Hat das auch im Vorfeld angegeben und sich schon beim Einsteigen an die Flugbegleiterin gewandt. Bisher ist der Flug ruhig verlaufen. Zu seiner großen Erleichterung. Mit jeder Minute, jeder Meile, die sie sich von der Heimat entfernen, fühlt er sich leichter. Der Druck ist weniger geworden, die Trauer und Dunkelheit in ihm heller. Er hat keine Ahnung, was ihn auf der anderen Seite des Ozeans erwartet, aber er hofft auf Linderung. Alleine wäre er niemals auf die Idee gekommen. Aber er spürt schon jetzt, dass es die richtige Entscheidung ist.
Natürlich war es schwer Mutter und Vater zurück zu lassen. Die letzten Monate haben ihnen zugesetzt. Er kann sehen, dass sie mit ihm leiden und dennoch ist da diese Grenze, diese Mauer. Es ist bei Gott nicht deren schuld. Sie haben alles Menschenmögliche getan. Das ist es auch gar nicht. Manchmal weiß er selbst doch gar nicht, was da los ist in ihm. Mit ihm. Nur sie hat ihn verstanden und sie ist jetzt nicht mehr da.
Stumm betrachtet er die Wolken, die sich unaufhörlich verändern. Ertappt sich dabei, dass er Ausschau hält. Nach einem schwarzhaarigen Engel in einem blauen Kleid, der die Beine baumeln lässt und ihm zuzwinkert. Energisch schüttelt er den Kopf.
"Alles okay bei dir?", fragt eine Stimme neben ihm.
Tante Ursel.
Sie ist auch so etwas wie ein Engel.
Ein Schutzengel.
Aus dem Nichts, so zumindest seine Wahrnehmung, ist sie aufgetaucht und hat die Situation in die Hand genommen. Ihm einen Weg angeboten, den er selbst nicht sehen konnte. Ihr Vorschlag hat ihn ebenso wie die Eltern überrascht.
Sie ist besonders.
So anders als Mutter, obwohl sie deren Schwester ist.
Ihre Energie ist einnehmend, an ihrer Seite fühlt man sich wie ein Ritter, dem nichts passieren kann. Sie ist die mutigste Frau, die er je kennen gelernt hat. Unbeirrt ist sie ihren Lebensweg gegangen. Ihr ist egal, was andere über sie sagen. Deren Urteil interessiert sie nicht. Nur das Herz, so hat sie ihm in einer langen Nacht voller Gespräche erklärt, darf werten. Und zwar nur das eigene Herz. Entscheidungen schnell treffen, in wenigen Sekunden. So hat sie es immer gehalten.
"Alles okay, aber ich würde gerne was trinken", antwortet er. Sie nickt und lächelt ihn an. Sie drückt einen Knopf und nur wenige Sekunden später taucht die Stewardess auf. Er ist beeindruckt von ihrer Fürsorge hinsichtlich seiner Flugangst. An die er jetzt gar nicht mehr richtig gedacht hat. Sie erhalten Wasser und Tee. Ursel blättert weiter in einer Zeitschrift, akzeptiert ohne große Worte, dass er seinen Gedanken nachhängt.
Wahrscheinlich ist er eingeschlafen.
Noch zwei Stunden bis zur Landung.
Eine letzte Servicerunde der Flugbegleiterinnen.
Ein Snack, Kaffee für Ursel und Tee für ihn.
Das Flugzeug verlässt die Reiseflughöhe.
Es steuert seinem neuen Leben entgegen.
Er macht ein Foto von den Eiskristallen und hofft, dass er die Freiheit und Leichtigkeit über den Wolken ein bisschen einfangen kann.
In diesem Moment wünscht er sich nichts mehr, als dass er dieses Gefühl mit auf den Boden nehmen kann.
Sie tauchen durch die Wolken.
Es ruckelt.
Ganz kurz ist da wieder diese Angst. Das Gefühl, das ihn seit so vielen Jahren begleitet. Entschieden atmet er durch und verordnet sich Gelassenheit. Alles um ihn herum sind es schließlich auch.
Und dann bietet sich ihm ein atemberaubendes Bild.
Der Big Apple.
Die Größe der Stadt ist beeindruckend.
Dazwischen große Grünflächen.
Liberty Island.
Die Statue.
Der Hafen.
Die Wolkenkratzer.
Neben ihm erklärt Ursel und er stellt fast etwas enttäuscht fest, dass sich die Eiskristalle auflösen.
Alle machen sich bereit für die Landung.
Anschnallen.
Sitz gerade.
Tische hochklappen.
Auch die Crew verschwindet und der Pilot bedankt sich schon über Lautsprecher.
Er klebt am Fenster. Beobachtet das Absinken und bewundert die Miniaturansichten unter sich. Auf einmal ist da ein anderes Gefühl. Kurz schließt er die Augen. Er spürt, dass seine Hände schweißnass werden. Je näher sie dem Boden kommen, um so enger wird seine Brust.
Er krallt sich an die Armlehnen und versucht seine Atmung zu kontrollieren.
Der Flieger wackelt.
Ihm entwischt ein Zischen.
Und dann ist da Ursel, die ihn leise anspricht.
"Es ist okay, du hast es gleich geschafft. Wir sind fast unten. Ein Bilderbuchanflug. Traumwetter. Die Stadt heißt dich mit offenen Armen Willkommen. Du bist hier. Das ist alles was zählt."
Ihre Stimme ist ganz ruhig. Voller Wärme und Liebe.
Ja, er liebt sie ebenfalls von ganzem Herzen.
Für die Chance.
Für das Erkennen.
Verlegen blinzelt er eine Träne weg.
Lässt zu, dass sie ruhig über seinen Handrücken streicht.
Endlich setzt die Maschine auf.
Gelandet.
Angekommen in einem neuen Leben.
Er atmet durch.
Während sie zum Gate rollen denkt er an die Eiskristalle.
An die Freiheit und die Ruhe, die er empfunden hat.
Er nimmt sich ganz fest vor, dass er diese Chance nutzen wird.
New York!
Tante Ursel schnallt sich ab und lächelt ihm zu.
"Welcome, Jan. Welcome to the City, that never sleeps."