Skeptisch betrachtete er die Pflanzen vor sich.
Hübsch sahen sie aus, die Blüten. Rosa und Violett hauptsächlich.
Sie wuchsen am Waldrand, aber auch auf der Wiese hinter dem Garten. Schon als Kind hatten ihn die Eltern gewarnt.
Er und sein Bruder hatten versprechen müssen, sich sofort zu melden, sollten sie versehentlich mit den Blättern in Berührung kommen oder der Hund an den Pflanzen knabbern.
Nun lag ein riesiges Bündel in diesem Korb.
Jetzt, Mitte September, standen sie in voller Blüte.
Neben dem Korb lag ein dickes Buch aus der Bibliothek.
Aufgeschlagen war die Seite, die die toxische Wirkung der Herbstzeitlose beschrieb.
Herbstzeitlose.
Er murmelte das Wort leise vor sich hin.
Eigentlich ein seltsamer Begriff, dachte er.
Vergiftungserscheinungen traten nach zwei bis sechs Stunden auf.
Mit einem Finger fuhr er die Zeile entlang.
Brennen im Mund.
Schluckbeschwerden.
Übelkeit.
Erbrechen.
Durchfall.
Atemlähmung und Kreislaufstillstand waren meist die Folge.
90% der Vergiftungen verliefen tödlich.
Also eine fast sichere Sache.
Er schlug das Buch zu und deckte damit den Korb vor ihm ab. Seine Uhr zeigte kurz nach 19 Uhr an, es dämmerte an diesem grauen Tag schon. Zudem war es merklich kühler geworden. Er drehte sich herum und ließ seinen Blick schweifen. Der See lag ganz ruhig da. Die Wasseroberfläche wirkte fast schwarz. Der Angler, der vorhin noch am Steg gesessen hatte, war zwischenzeitlich verschwunden. Seine Augen folgten dem Weg, der vom Bootshaus zum Wald führte. Niemand war zu sehen. Er seufzte und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Warten war nicht seine Stärke. Er griff sich seinen Rucksack und zog einen Briefumschlag heraus. Dann nahm er seinen tragbaren CD-Player und stöpselte die Kopfhörer ein. Zum Geburtstag hatte er richtig Gute geschenkt bekommen, mit dem sich die Qualität der Musik deutlich verbessert hatte. Ohne zu zögern wählte er den dritten Titel der eingelegten CD ein und setzte sich die Hörer auf, dann ließ er sich auf die kleine Sitzbank gleiten. Hier vom Hochsitz aus konnte er weiter die Umgebung überblicken und würde einen etwaigen Besucher sofort sehen, wenn der aus dem Wald trat. Sofern es dann noch hell genug war. Er lauschte der Komposition dann aber konzentriert. Irgendwann schloss er die Augen und ging im Kopf die Passagen durch. Wie immer durchdrangen die Töne seinen ganzen Körper. Nie fühlte er sich ruhiger, friedlicher und aufgehobener.
Sein Herz setzte eine Sekunde aus, als ihm die Kopfhörer von den Ohren gezogen wurde. Erschrocken sah er die dunklen Augen an, die ihn musterten.
"Musst du mich so erschrecken?", fauchte er.
Sie lachte nur und gab ihm einen gierigen Kuss auf die Lippen. Sank dabei auf seinen Schoß. Obwohl er es nicht wollte, reagierte er auf die körperliche Nähe sofort. Und das wusste sie genau.
"Und überhaupt waren wir vor einer Stunde verabredet.", meinte er, als sie sich aus dem Kuß löste.
"Welche Rolle spielt denn Zeit?", fragte sie spöttisch zurück. "Oder kannst du es kaum noch erwarten?"
Kopfschüttelnd schob er sie von sich.
"Wenn wir zu spät anfangen, dann hat der Plan Lücken. Und das weißt du genau.", meinte er.
Mit einem Lächeln sah sie ihn an. Immer blieb sie so ruhig und wie immer hatte sie auf alles eine Antwort.
"Alles geregelt. Wir sind im Kino."
Sie zwinkerte und schob sich die dunklen Haare aus dem Gesicht, zog ihn an seiner Hand wieder zu sich.
"Vor Mitternacht wird uns niemand vermissen.", beruhigte sie ihn. Dann sah sie ihn bittend an. Fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen. "Wir sollten uns gebührend verabschieden, meinst du nicht auch?"
Sie flüsterte es beinahe und führte seine Hand unter ihren Pulli. Sie trug zu seiner Überraschung keinen BH. "Nur einmal noch.", hauchte sie. Ihre Erregung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihr Seufzen klang an seinem Ohr, als er ihr über die Brüste streichelte. Sie hatte sich schon an seiner Jeans zu schaffen gemacht und zog jetzt seinen Kopf zu sich. Auch dieser Kuß war verlangend und fordernd. Nur mit Mühe unterdrückte er ein Stöhnen, als sie auf ihn glitt. Unter dem langen Rock hatte sie ebenfalls auf Wäsche verzichtet. Ihm stockte der Atem, als sie ihn aufnahm. Wie so oft übernahm sie die Führung, sie fanden ein gemeinsames Tempo und nur der schwere Atem beider war zu hören. Als sie den Höhepunkt erreichte, vergrub sie den Kopf an seiner Schulter und ihre Finger krallten sich in seinen Rücken. Atemlos folgte er ihr. Danach hielt er sie ein paar Minuten eng umschlungen und hörte sein Herz wild klopfen.
Schließlich gab sie ihm einen Kuß auf die Stirn und löste sich aus der innigen Verbundenheit. Sie deutete auf den Korb.
"Meinst du, das reicht?", fragte sie leise. Sie hob das Buch an, während er sich wieder anzog. Dabei nickte er.
"Mehr als genug. Aber es wird nicht schön.", gab er zur Antwort.
Ihre Finger glitten durch die Pflanzen.
"Nein. Aber das soll es ja auch nicht. Es soll ja nur vorbei sein."
Sie hangelte nach ihrem Rucksack und zauberte eine Plastikschüssel, Salatbesteck und eine kleine Dose hervor. Darin schwappte eine Flüssigkeit. Ruhig knipste sie die Blüten ab und füllte die Blätter in die Schüssel.
"Dann lass uns mal das Abendmahl bereiten.", meinte sie zynisch.
Er war aufgestanden und lehnte am Holzgeländer. Beobachtete sie nachdenklich. Sie vermischte gerade die Blätter mit der Salatsoße, als er sich nicht mehr zurückhalten konnte.
Mit einem schnellen Schritt war er bei ihr und riss ihr die Schüssel aus der Hand. Ehe sie reagieren konnte, hatte er die tödliche Mischung heruntergeworfen. Sprachlos sah sie ihn an.
"Wir hatten einen Plan."
Er wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie entzog sich ihm. Dann zuckte er die Schultern.
"Ich denke, ich mag nicht mit dir sterben, ich möchte mit dir leben.", stammelte er. Ihr Blick durchbohrte ihn regelrecht. Dann begann sie laut zu lachen.
"Leben.", gab sie kalt zurück. "Dafür sind wir nicht gemacht."