Prompt: Was wirklich zählt (nachgeschrieben 28.03.20)
Start: 21:15 Uhr
Ende: 22:14 Uhr
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Für die Entscheidung hast du dir. Zeit genommen. Bist extra alleine in die Natur gegangen. Möchtest für dich sein, in Ruhe abwägen. Außer dir weiß nur eine Person von diesem Angebot.
Vor knapp zwei Wochen war die Anfrage eingetrudelt und die Frist läuft heute Abend ab. Du bist hin und her gerissen. Hast es erst für einen Scherz, dann für eine Verwechslung gehalten. Seit Tagen zerbrichst du dir den Kopf. Bist aber immer wieder abgelenkt. Deine gedankliche Pro und Contra Liste hast du mittlerweile in dein Handy getippt.
Du ziehst es aus deiner Jeanstasche und lässt dich auf der Bank nieder, von der man diesen unglaublichen Blick auf das Tal hat. Es ist noch früh, außer dir ist niemand hier. Es ist kalt, die Sonne ist gerade erst aufgegangen und ihre Kraft reicht noch nicht, um die Kühle der Nacht zu vertreiben.
Die Liste ist lang. Auf beiden Seiten. Das Angebot ist ausgerechnet zu einer Zeit gekommen, in der du so oder so an einer Weggabelung stehst. Dich hat schon vor ein paar Tagen der Verdacht ereilt, dass es nicht nur um diese eine Entscheidung geht, sondern um mehr. Das geht es irgendwie schon länger, aber dir war das nie so ganz klar.
Beruflich gesehen wäre es ein Ritterschlag.
Ein purer Lebenstraum eines Jeden in deiner Branche.
Die Chance überhaupt in deren Beobachtungsliste zu landen ist gering. Es gibt so viele talentierte und begabte Menschen weltweit.
Wie es dazu gekommen ist, steht leider nicht in der kurzen Mail. Das würde man gerne persönlich bei einer ersten Videokonferenz erläutern. Zu der man für morgen früh eingeladen hat, unabhängig von deiner Entscheidung.
Vor ein paar Jahren hättest du womöglich keine Sekunde gezögert.
Aber jetzt ist alles anders.
So viel ist passiert, so viel hat sich verändert und deine Prioritäten haben sich verschoben. Alles, was früher so wichtig war, nimmt viel weniger Platz ein. Deine Ziele sind ganz andere. Neue. Schönere.
Und gerade deswegen kommt die Anfrage irgendwie auch zur rechten Zeit.
Du kannst dich nicht länger drücken.
Kurz schließt du die Augen.
Hörst auf das Gezwitscher der Vögel, die den Morgen begrüßten.
Auf das Rauschen des Windes, der mit den Blättern der Bäume spielt.
Die Sonnenstrahlen kitzeln deine Nase und es ist vollkommen friedlich.
Als du die Augen wieder öffnest, blickst du über die Lichtung, an der der Waldweg vorbeiführt. Unten liegt das Tal, das Dorf, deine Heimat.
Es kann nur eine Antwort geben.
Ein innerer Drang hat dich an diesen Platz geführt
Und ausgerechnet hier wird dir klar, was dir dein Herz schon seit Tagen sagt.
Es geht um dein Glück.
Um das Glück deiner Familie.
Die in wenigen Wochen um eine Person reicher sein wird.
Ein Persönchen, das alles auf den Kopf stellen wird.
Es geht um die Liebe.
Und es geht darum, das Richtige zu tun.
Tief in sich hinein zu hören und sich selbst treu zu bleiben.
Du willst dir jeden Tag in den Spiegel sehen können.
Vor allem möchtest du die Kinder aufwachsen sehen.
Ihnen das Idyll und die Geborgenheit bieten, die dir selbst zuteil wurde.
Kein Geld der Welt, kein Ruhm und keine Karriere kann dir das ersetzen.
Noch einen Moment schaust du der Sonne zu, die am Himmel entlang klettert. Fast kommt es dir vor, als würde sie dir zuzwinkern.
Du hast keine Ahnung, wie dein Umfeld reagieren wird.
Du hast keinen richtigen Plan B.
Aber dein Gefühl sagt dir, dass dein Mut belohnt werden wird.
Wie so oft, wählst du den steinigen Weg.
Aber diesmal sehr bewusst und nicht fremdgesteuert.
Auf dem Weg zurück überlegst du dir die Worte, die du der Person sagen wirst, die in die Entscheidung eingebunden ist.
Noch ehe du das Grundstück erreichst, wählst du die Nummer an. Erstaunlicherweise bist du ganz ruhig. Selbst Herz und Puls reagieren kaum.
Schon nach dem zweiten Klingeln meldet sich der Mann, der sich all die Jahre um deine beruflichen Belange gekümmert hast. Ein Freund, der dir auch privat viel bedeutet und der in Krisenzeiten fest an deiner Seite stand. Der Kerl, der sofort ahnen wird, dass mehr dahinter steckt.
Du atmest durch und dann ist es gesagt:
»Alex, der Broadway wird auf mich verzichten müssen.«