Disclaimer/ Spoilerwarnung: Ich danke für diesen INPUT - mir hat er unglaublich geholfen, dass ich den Einstieg in ein Kapitel gefunden habe, das eigentlich erst später in meiner Geschichte AM RAND DES LEBENS erscheinen wird. Mit dem ich mich aber schwer getan habe. Daher der Hinweis, dass ggfs. dies alles aus dem Zusammenhang gerissen wirkt - und die Stammleser mögen mir diesen Ausblick verzeihen - oder diesen Shot einfach überspringen. MERCI
Noch immer stand Jan regungslos am Fenster, seine Stimme war eigentümlich tonlos. Seltsam entrückt schilderte er ihr die Fakten. Beinahe wie ein Roboter.
„Sie sagte, du hast keine Wahl. Immer und immer wieder.“ Isabelle spürte die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen.
Langsam setzte sich das Puzzle zusammen. Und mit jedem Wort, dass er von sich gab, wurde das Grauen nur schlimmer, und das Bild klarer. Das, was sie zu hören bekam, überstieg ihre Vorstellungskraft. Die Frage nach dem Warum drängte sich ihr in den Kopf.
Wie konnte jemand so grausam sein? Weitere Fragen kamen ihr in den Sinn, aber sie wagte es nicht, eine zu stellen. Sie wollte ihn nicht unterbrechen, wollte nicht, dass er aufhörte, es sich endlich von der Seele zu reden. Und Jans Seele schrie regelrecht.
Obwohl sie die Details kaum ertragen konnte, ließ sie ihn alles erzählen.
Jan hatte ihr immer noch den Rücken zugekehrt, während Isabelle selbst versuchte, irgendwie Haltung zu bewahren. In ihr tobten die Gefühle. Niemand, ob Mann oder Frau, sollte so etwas erleben müssen. Dazu setzten sich alle Fragmente aus den letzten missverstandenen Situationen zu einem Bild zusammen.
In ihr regte sich eine tiefe Wut auf Diana, zu gerne würde sie dieser weh tun. Wie konnte sie es nur wagen?
Warum nur, hatte sie diesen wunderbaren und liebenswerten Menschen unbedingt zerstören wollen?
Vermutlich würde er nie mehr der Gleiche sein. Und doch war da sein Stolz, der ihm verbot, sich gehen zu lassen. Vorsichtig war sie aufgestanden und näherte sich ihm. Behutsam stellte sie sich zu ihm und berührte ihn sanft am Arm. Jan zitterte, blieb aber einfach am Fenster stehen. Sein Blick war starr und sein Gesicht angespannt. Noch immer, obwohl er alles erzählt hatte, kämpfte er.
"Jan.", flüsterte sie. "Lass es raus, bitte. Ich bin bei dir und ich werde dich nicht damit alleine lassen." Sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch, trotzdem schüttelte er leicht den Kopf. Zärtlich nahm sie ihn von hinten in den Arm, schlang ihre Arme um seine Brust und lehnte ihren Kopf gegen seinen Rücken. Als er schwer schluckte, hielt sie inne. Sein Atem ging sehr unruhig und sie konnte spüren, wie viel Kraft es ihn kostete.
"Liebling, es wird dir gut tun. Schrei, tobe, weine, ich bitte dich.", flüsterte sie. Er durfte das jetzt nicht herunterschlucken. Gemeinsam sanken sie auf den Boden, auf welchem sich Isabelle neben ihn kniete.
Sie fühlte sich absolut hilflos.
Immer noch stumm sah er sie an. Behutsam streichelte sie sein Gesicht, prüfte beinahe ängstlich, ob diese Berührung für ihn in Ordnung war.
"Ich schäme mich so.", sagte er mit erstickter Stimme.
"Jan, nein, bitte." Ihre Hand ruhte auf seiner Wange. Sie wich erschrocken zurück, als er aufsprang und mit einem großen Satz Abstand zwischen sich und ihr brachte. Was folgte, brach ihr fast das Herz.
"Was? Ich bin derjenige, der es hätte verhindern können. Stattdessen hat mich mein Körper verraten. Und ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich dafür hasse." Er schrie so laut, dass sie Angst hatte, man könnte ihn im ganzen Haus hören. Und zunächst beruhigte er sich auch nicht. Tatsächlich tobte er, warf mit Büchern und anderen Dingen um sich und schrie sich schlussendlich die Seele aus dem Leib.
Isabelle ließ ihn gewähren. Es musste raus, wahrscheinlich war es sogar das Beste. Seine Selbstvorwürfe, die sich mit Hasstiraden auf Diana abwechselten, trafen sie sehr. Still blieb Isabelle an Ort und Stelle sitzen, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Als er endlich nach Atem ringend aufhörte zu schreien und auf das Sofa fiel, war sie sofort bei ihm.
"Ich kann verstehen, wenn du mich jetzt verlässt.", sagte er leise. Sie setzte sich zu ihm. "Du dummer Kerl.", antworte sie nur und nahm seinen Kopf in ihren Schoß. Als er anfing zu weinen, weinte sie mit ihm. Nur schwer fanden sie anschließend in den Schlaf. In den ersten seit Wochen, in dem Jan einfach nur schlief.
Leises Vogelgezwitscher drang durch das halb geöffnete Fenster an Isabelles Ohr. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und es versprach, ein schöner Sonntag zu werden. Jan lag auf der Seite, mit dem Gesicht ihr zugewandt. Seine Lider zitterten, doch er schien noch zu schlafen. Ohne ihn zu wecken verließ sie das Bett und machte in der Küche Kaffee. Den würden sie beide gut gebrauchen können. Leise tappte sie mit zwei Tassen zurück ins Wohnzimmer, stellte diese auf dem Tisch ab und kroch wieder zu ihm unter die Decke. Nun war es heraus und Isabelle hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. Ihrer Meinung nach brauchte Jan professionelle Hilfe. Damit konnten sie nicht alleine fertig werden. Weder er noch sie.
So viele Fragen hatten sie im Kopf.
Warum war er nicht zur Polizei gegangen? Diana gehörte angezeigt.
Warum nur, hatte er nicht mit Dr. Jäger darüber gesprochen, seine Therapie war doch noch im Gang gewesen?
Wie hatte er das vor der Psychologin nur verbergen können?
Wieso hatte sie nicht kapiert, was hinter seinem Rückzug, dem um sich schlagen und seiner Angst vor Berührungen steckte?
Hätte sie es nicht merken müssen?
Wie schnell würden sie Hilfe für ihn finden?
Still lag sie neben ihm und berührte ganz zart sein Gesicht.
Im Schlaf wirkte er fast entspannt, sehr verletzlich und ihre Wut auf Diana kannte keine Grenzen. Sie hatte die Andere nie gemocht, vom ersten Tag an nicht. Noch bevor sie und Jan zusammen gekommen waren. Schon bei Davids ersten Schnuppertagen in der Kita hatte sie sich über Diana geärgert. Im Laufe der Zeit immer wieder und immer mehr.
Als Jan die Augen aufschlug, lächelte sie ihn an.
"Guten Morgen.", murmelte er leise.
"Wie fühlst du dich?", wollte Isabelle wissen. Jan schien kurz zu überlegen. "Müde. Leer.", antwortete er schließlich. Sie lagen einfach einige Minuten nur da und sahen sich an. Wenn sie nur könnte, dann würde sie den Schmerz aus seinen Augen und die Steine von seiner Seele wegzaubern.
"Danke.", sagte sie dann und griff nach seiner Hand, die neben seinem Kopf ruhte. "Für dein Vertrauen. Das war mit Sicherheit nicht leicht gestern für dich." Er verschränkte seine Finger mit den ihren. Noch immer sagte er nichts, hielt ihrem Blick aber stand. Einer Eingebung folgend hob Isabelle ihren Kopf und küsste Jan sanft auf seine Lippen. Zu gerne wollte sie ihm zeigen, wie sehr sie ihn liebte und auch begehrte. Dass er für sie immer noch anziehend war. Aber sie hatte keine Ahnung, wie weit sie gehen konnte. Und ja, natürlich fehlte im Moment die Leichtigkeit. Den zärtlichen Kuss jedenfalls schien er zu genießen und erwiderte das schüchterne Spiel ihrer Zunge. Dabei zog er sie auf sich und ließ zu, dass sich ihr schlanker Körper an seinen schmiegte.
Isabelle lächelte, als sie den Kuss beendeten und ließ ihren Kopf auf seine Brust sinken.
"Ich will nicht untergehen.", sagte Jan flüsternd und drückte sie fest an sich. "Das wirst du nicht. Es passen so viele auf dich auf, Jan. Und wir werden einen Weg finden, dass du das verarbeitet bekommst." Ja, sie glaubte daran. Er war so viel stärker als er glaubte, er hatte es ihr doch schon bewiesen. "Ich komme mit zu Dr. Jäger, wenn du das möchtest.", schlug sie vor. Jans Körperhaltung änderte sich augenblicklich. Was hatte sie falsch gemacht? Noch während ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, hatte er sie losgelassen und sich wieder auf die Seite gerollt.
"Nein.", sagte er mit gepresster Stimme. Stirnrunzelnd setzte sich Isabelle im Bett auf.
"Okay, dann nicht, kein Problem. Natürlich kannst du das auch alleine angehen, ich bin aber immer für dich da." Jan kaute auf der Lippe und schüttelte leicht den Kopf. Eine dunkle Ahnung überfiel Isabelle.
"Jan, du musst mit ihr darüber reden. So bald als möglich. Viel schlechter kann es dir noch nicht mehr gehen."
Jan schloss die Augen. Warum verstand sie das nicht? Er konnte es doch nicht einer wildfremden Frau erzählen. Und überhaupt, wer würde ihm denn glauben?
"Nein.", sagte er mit gequälter Stimme und hielt die Augen geschlossen. "Jan, du musst." Auch Isabelle klang nun verzweifelt. Mit einem Satz war er aus dem Bett und raufte sich die Haare. Sein ganzer Körper war in Alarmbereitschaft.
"Ich kann aber nicht.", schrie er. Im gleichen Moment konnte er sehen, wie sie zurückfuhr und auf die Knie sank.
"Schau mich an. Wer soll das denn glauben? Und ehe du fragst, nein, ich werde sie nicht anzeigen. Was habe ich denn in der Hand? Nichts. Kein Mensch wird mir diese Geschichte glauben, aber am aller wenigsten die Polizei oder eine Psychotante. Und Madame wird es schon so drehen, dass alle ihr glauben werden. Dass ich es aus freien Stücken getan habe. Dass ich es war, der sich genommen hat, was er wollte. Jeder wird sagen, dass das doch gar nicht geht. Ich habe darüber gelesen, Isa. Ich kann nichts machen."
Mit offenem Mund sah Isabelle ihn an.
"Was dir passiert ist, muss bestraft werden.", versuchte sie es behutsam, doch er hörte ihr schon kaum noch zu. Stattdessen hatte er eine der Teelichthalter ergriffen und warf ihn mit einem lauten Schrei an die Wand.
"Nichts. Verstehst Du? Ich habe nichts, ich bin nichts. So ist das nämlich." Isabelle trauriger Blick traf ihn und verstärkte das hilflose Gefühl noch, sofern das überhaupt möglich war. Er ließ sich wieder auf die Couch sinken und vergrub den Kopf in seinen Händen.
"Es soll einfach nur aufhören.", flüsterte er. Schockiert rutschte Isabelle zu ihm und streichelte ihm über die Schultern.
"Jan, aber das funktioniert doch nicht, in dem du es totschweigst.", wollte sie ihm vorsichtig klar machen. Er hob den Kopf und sah sie mit leeren Augen an.
„Versprich, dass du es niemandem erzählst.“
Sie hielt inne.
"Versprich es!", forderte er sie wieder auf. Bedächtig begann Isabelle zu nicken. Hier und jetzt brachte eine Diskussion nichts. Jan musste erstmal runter kommen. Und er sollte entspannt in diesen Tag gehen können. Seine Kraft brauchte er für die anstehenden Stunden.
Immerhin hatte er heute noch eine Premiere zu spielen.
Die Hilflosigkeit nahm ihr beinahe die Luft zu Atmen.