Prompt: Schlummertrunk (05.07.2020)
Start: 19:05 Uhr
Ende: 20:04 Uhr
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Es ist ein ungewöhnlich schöner Spätsommerabend.
Hand in Hand schlendern wir durch die Gassen, die ich kenne wie meine Hosentasche.
Einer der ganz seltenen Abende, die wir in den letzten Wochen nur für uns haben. Das erste Mal, dass wir seit der Geburt unseres Kindes aus waren. Beim Essen haben wir beide immer wieder auf die Mobiltelefone geschielt, immer in der Erwartung, dass sich meine Eltern melden. Doch alles ist ruhig geblieben. Wir haben im Freien gegessen. Das neue Lokal in der Ortsmitte hat uns positiv überrascht. Schmackhafte, einfache und doch raffinierte gutbürgerliche Küche. Ganz bewusst haben wir uns heute Zeit genommen. Nun sind wir auf dem Heimweg und ich kann ihr ansehen, dass ihr der Abend gut getan hat.
Sie hat sich untergehakt und schmiegt sich beim Gehen an mich. Ich kann ihr Haar riechen, das so zauberhaft nach Vanille duftet.
Wir lassen den Marktplatz hinter uns, spazieren plaudernd auf den Ortsausgang zu und versuchen die Sternbilder zu erraten. Übermütig vom Wein ziehe ich sie immer wieder an mich. Im Gegensatz zu mir ist sie nüchtern geblieben, da sie noch stillt. So wie ich sie kenne, wird sie unseren Floh gleich noch zu uns holen. Und so wie ich meine Mutter kenne, rechnet sie mit nichts anderem und wird auf uns warten.
Und tatsächlich brennt in der Stube des Haupthauses noch Licht als wir den Hof erreichen. Aber auch von der tieferliegenden Terrasse klingt Licht herüber und ich kann Stimmen vernehmen. Also betreten wir zuerst den Garten.
"Perfektes Timing", ruft mir mein Bruder zu, als er uns entdeckt.
Stirnrunzelnd folge ich meiner Frau zum überdachten Sitzbereich. Es sieht nach einer kleinen Feier aus. Auf dem Tisch stehen zwei mir sehr wohlbekannte Flaschen und mein Bruder winkt uns heran.
"Ihr müsst noch einen Schlummertrunk mit uns nehmen!", bekräftigt er seine Geste.
Mit einem Grinsen im Gesicht rückt mein Vater auf der Sitzbank auf, so dass wir auch noch Platz finden. Vor meiner Mutter liegt das Babyphone, sie berichtet knapp, dass sich der Nachwuchs vorbildlich verhalten habe. Dabei funkeln ihre Augen verdächtig, was ich nun überhaupt nicht deuten kann. Jonas, der beste Freund meines Bruder seit Kindertagen, schiebt mir ein Glas zu. Martin füllt es lächelnd und sieht meine Frau bedauernd an.
Die greift unter dem Tisch nach meiner Hand. Dabei mustert sie seine langjährige Lebensgefährtin.
Der Geruch von Birne fährt durch meine Nase, während Martin auch die restlichen Gläser auffüllt. Nur meine Mutter wehrt ab.
"Okay. Was ist hier los?", möchte ich wissen.
Gegenüber verkneift sich Jonas´ Frau mühevoll ein Lachen.
Wischt sich meine Mutter gerade ein Tränchen aus den Augen?
Fragend sehe ich also erst Martin, dann seine Nele an. Er legt ihr einen Arm um die Schultern und beide erheben ihr Glas.
Sie werfen sich einen langen Blick zu, was meine Mutter am Kopfende mit einem Seufzen quittiert. Mir dämmert etwas. Doch noch ehe ich den Gedanken aussprechen kann, ergreift mein älterer Bruder das Wort.
"Wir haben heute geheiratet", sagt er stolz und hält mir sein Glas vor die Nase.
Deutlich spüre ich den Händedruck meiner Frau, der ein Strahlen übers Gesicht fährt.
"Na endlich!", entfährt es ihr kichernd.
Überrascht stoße ich mit dem frisch getrauten Paar an. Doch noch bevor ich den selbstgebrannten Schnaps meines Onkels zu mir nehme, muss ich eine Frage los werden.
"Wie heute?"
Martin leert das Gläschen mit einem Schluck und stellt es energisch vor sich ab.
"Nele und ich sind heute morgen aufs Standesamt gefahren und haben uns trauen lassen. Nur wir beide", klärt er mich dann auf.
Ich riskiere einen Seitenblick auf meine Eltern, die versonnen beinander sitzen.
"Spontan und heimlich?", frage ich weiter.
Jetzt leere ich mein Glas, während Nele antwortet.
"Heimlich ja, spontan eher nicht. Wir haben uns vor einigen Wochen diesen Termin geben lassen."
Erstaunt sieht meine Frau ihre neue Schwägerin an.
"Herzlichen Glückwunsch erstmal. Warum habt ihr nichts gesagt?"
Mit einem Schmunzeln greift Martin nach der Flasche. Ich nicke ihm auf die unausgesprochene Frage zu und er schenkt mir nach.
"Wir wollten es so. Einfach nur für uns", erklärt Nele gerade.
Unsere Mutter nickt ihr zu. Dann bedenkt sie mich mit einem Blick.
"Die beiden wollten es so und mich macht es glücklich, dass sie es für sich entschieden haben. Damit hatten wir gar nicht mehr gerechnet nach all den Jahren." Vater bekräftigt ihre Worte mit einem tiefen Brummen. Neben mir steht Isabelle auf und geht um den Tisch herum. Sie umarmt die beiden und verschwindet dann im Haus. Vermutlich um nach dem Baby zu sehen.
Zögernd bin ich ihr gefolgt und stehe nun etwas unbeholfen vor dem Paar. Meinen Bruder und mich verbindet eine etwas schwierige geschwisterliche Beziehung. So sehr ich verstehe, dass die heimliche Hochzeit nichts gegen mich ist, so sehr drückt es doch ein wenig. Immer schon habe ich mich bei ihm schnell ausgeschlossen gefühlt. Schon als Knirps, wenn er mich nicht mitspielen lassen wollte.
Jetzt zuckt er entwaffnend mit den Schultern und wir nehmen uns kurz in den Arm. Nele drücke ich ein wenig länger und lasse mir den Ring zeigen. Den haben sie sich vor ein paar Tagen erst besorgt, wie sie mir erzählt. Erst wollten sie ganz verzichten, aber dann war es ihr doch wichtig geworden.
Ihren Eltern haben sie es am Nachmittag gesagt und für den Samstag laden sie zu einem Essen im Schloßrestaurant der Kreisstadt ein.
Irgendwann taucht meine Frau wieder auf, in ihren Armen das schlafende Kind. Sie überredet mich noch zu bleiben und zieht sich dann in unser Haus zurück. Kurz nach Mitternacht sitzen nur noch Martin und ich draußen. Es ist kühler geworden und wir beide haben uns in Decken gehüllt. Er lässt die letzten Tropfen der Falsche in die Gläser laufen und reicht mir den endgültigen letzten Schlummertrunk, wie er betont.
Dabei lauert notfalls bestimmt noch ein Vorrat von Onkel Hiens Gebräu im Keller.
"Tja, Kleiner. Jetzt sind wir als beide unter der Haube. Wer hätte das gedacht?" Martin prostet mir zu.
"Mama und Papa hätten vor zwei Jahren darauf keinen Cent gewettet", meine ich trocken. Der Schnaps macht die Zunge schwer, wie ich fest stellen muss. Er zwinkert mir zu.
"Lust auf ein Geheimnis?", erkundigt er sich.
Ich lege den Kopf schief und versuche den Blick meines Bruders zu deuten.
Geheimnisse?
Wir beide?
Ohne Drama?
Das ist neu. Aber es fühlt sich gut an.
"Erzähl", fordere ich ihn auf.
Er dreht den Schnaps in seinen Händen.
Dann sieht er mich ernst an.
"Das muss aber unter uns bleiben, verstanden?"
Ich schnalze mit der Zunge.
"Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas", erinnere ich ihn. Dann deute ich über den Tisch. "Oder eben in der Birnenflasche."
Einen Moment scheint er zu zweifeln, was sicher auch mit unserem Alkoholpegel zu tun hat. Dann beugt er sich zu mir herüber.
"Versprochen?"
Ich rolle mit den Augen.
"Herrje, ja", entgegne ich patziger als ich wollte.
Martin kichert.
"So warst du schon als Kind!"
Er leert sein Glas und sieht mich verschwörerisch an.
"Also gut, wir haben einen Grund warum wir heiraten. Es ist eine der Voraussetzungen, dass wir ein Kind adoptieren können. In den letzten Monaten haben wir viele Gespräche geführt und stehen jetzt auf einer Warteliste."
Mir rutscht beinahe das Glas aus der Hand.
"Wissen das Mama und Papa?", frage ich.
Er winkt ab.
"Geheimnis, Jan. Es heißt Geheimnis, weil es geheim ist. Du verträgst echt nichts. Nein, wir wollen es ihnen erst sagen, wenn es spruchreif ist. Es kann dauern, aber auch schnell gehen. Warten wir es ab."
Ich lehne mich zurück und mustere meinen Bruder. Der mit geröteten Wangen vor mir sitzt. Vermutlich eine Mischung aus Glück und Schnaps. Mein Bruder, den ich als kleiner Junge heiß geliebt und vergöttert habe. Der mir in vielen kritischen Momenten meines Lebens den Kopf gewaschen hat. Einmal im wahrsten Sinne des Wortes, als er mich mit einem Wasserschlauch nass spritze, um einen Wutanfall meinerseits zu stoppen.
"Du wirst ein verdammt guter Vater sein. Und jetzt hätte ich richtig Lust auf einen ordentlichen Absacken."
Lachend klopft er mir auf die Schulter, dann steht er auf. Fünf Minuten später steht er mit einer der kostbaren Grappaflaschen unseres Vaters wieder auf der Terrasse. Es wird eine lange Nacht. Und eine überfällige.