Prompt: Unerfüllte Träume (22.03.2020)
Start: 18:00 Uhr
Ende: 18:43 Uhr
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Das figurbetonte Kleid fällt fließend an ihrem schlanken Körper entlang. Es ist bodenlang, eine weiche A-Linie, raffinierter Ausschnitt.
Rückenfrei.
Nachtblau.
Was ihre dunklen Augen reizvoll betont.
Diese leuchten, lassen nur ganz leicht Anspannung vermuten.
Ihre langen Haare sind hochgesteckt, umspielen ihr zart geschminktes Gesicht. Ein paar Perlen sind eingeflochten. Funkeln verspielt, wenn sie den Kopf dreht und sich das Licht des Kronleuchters bricht.
Sie trägt atemberaubend hohe Pumps aus Wildleder, im identischen Blauton des Kleides.
Die Perlen wiederholen sich in den Ohrringen und der Halskette.
Alles ist perfekt abgestimmt, sie hat nichts dem Zufall überlassen.
Nur ein matt schimmernder Lippenstift, ein wenig Rouge, kein Nagellack.
Eine Strähne hat sich aus der Frisur gelöst. Charmant schiebt sie jene hinter ihr Ohr. Auf ihren Lippen liegt ein Lächeln, ihr Brustansatz hebt sich, als sie tief durchatmet.
Ich trete hinter sie, rieche den Duft von Rosen.
Ihr Lieblingsparfum.
Sündig teuer, aber ich musste es ihr unbedingt schenken.
Für diesen Abend.
Für diesen speziellen und besonderen Anlass.
Ihre Wärme überträgt sich auf mich.
Sie sieht bezaubernd aus und das sage ich ihr.
Mit leisen Worten, beinahe flüsternd.
Ganz bedacht lehnt sie sich an mich, dennoch spüre ich durch den Stoff des Kleides ihren Herzschlag.
Etwas schneller als üblich.
Sie ist aufgeregt, im positiven Sinne nervös.
Das ist gut so und sollte überhaupt nicht anders sein.
Wir stehen allein zusammen, hinter diesem Vorhang.
Auf der anderen Seite sind Stimmen zu hören, Geplauder und Lachen. Doch hier ist es ganz ruhig, nur wir beide.
Sie greift nach meiner Hand, ihre ist ganz kalt.
Behutsam führe ich sie die wenigen Schritte zu ihrem Platz.
Dass sie auf diesen Schuhen gehen kann!
Es ist immer wieder spannend, neue Seiten an ihr kennen zu lernen.
Ich rücke ihr den Hocker zu recht, damit sie sich setzen kann.
Sie zupft an dem Kleid, damit es weiterhin gut sitzt und prüft mit einem kritischen Blick den Abstand. Wir brauchen keine Worte, ich schiebe den Hocker etwas näher an das Klavier heran, dann rücke ich die Noten etwas mittiger vor sie.
Ein wortloses Danke, dann gleiten ihre Auge über das Blatt. Ihr Kopf wiegt zum Takt, den jetzt nur sie hören kann. Sie hat die Melodie jetzt aufgenommen, ihre Finger schweben noch über den Tasten. Nun ist sie in ihrem Tunnel, nimmt mich wahrscheinlich kaum noch wahr.
Ein sachter letzter Kuss in ihren Nacken, dann entferne ich mich. Ziehe mich zurück. Dieser erste Moment gehört ganz allein ihr.
Es ist ihr Abend.
Ihr großer Auftritt.
Ein Debüt an diesem Haus, ein Debüt auf großer Bühne.
Sie ist an ihrem Ziel.
Ihre Träume werden heute wahr.
Jahrelang hat sie sich hierauf vorbereitet.
Das Eröffnungsstück hat sie seit Ewigkeiten ausgewählt, sich präzise darauf vorbereitet. Sie spielt es im Schlaf, die Noten dienen nur der Sicherheit. Und der Gewohnheit.
Vor vielen Jahren hat sie sich in dieses Lied verliebt, es mir unzählige Male vorgespielt. Wenig verbinde ich so sehr mit dieser Frau, wie eben dieses Stück.
Das Licht wird gedämmt, nur der Kronleuchter in der Bühnenmitte bleibt hell erleuchtet.
Dazu das kleine Licht am Klavier, damit sie notfalls die Noten lesen kann.
Vor dem Vorhang wird sie angekündigt.
Als die Nachwuchshoffnung.
Es sei eine Ehre, dass sie sich für dieses Haus entschieden habe.
Dem Publikum wird ein grandioser Abend versprochen.
Ich lehne mich vorsichtig an die Seitenwand und schließe meine Augen.
Die ersten Töne erklingen, dabei ist der Vorhang noch unten.
Es wird ganz ruhig.
Nur die Melodie ist zu hören, die einen sofort im Herz berührt und einen nicht mehr los lässt.
Comptine d´un autre été wurde berühmt als Soundtrack des Films Die zauberhafte Welt der Amelie. Für mich ist es der Soundtrack unserer Liebe.
Gebannt sehe ich ihr zu, sie spielt unbeirrt weiter, während der Vorhang nun langsam hochgezogen wird. Sie lächelt, die Finger tanzen regelrecht und sie öffnet ihre Augen erst, als sie den letzten Ton gespielt hat. Gleichzeitig brandet Applaus auf, das Publikum ist bereits auf ihrer Seite.
Etwas verlegen steht sie auf, verbeugt sich.
Sie ist so wunderschön, dass mir einem Moment der Atem weg bleibt. Geplant ist, dass sie noch zwei Solostücke spielt und dann zwei Geigen und ein Cello dazukommen. Und irgendwann ich. Nun bin ich es, der nervös wird. So viele Jahre haben wir dieses Ziel verfolgt, gemeinsam einen Konzertabend bestreiten. Gemeinsam die Bühne erobern.
Verschwitzt fahre ich aus dem Schlaf hoch, ich kann die Melodie in meinem Kopf noch hören.
Dann wird mir bewusst, dass dieser Traum ein unerfüllter Traum bleiben wird.
Ich vergrabe mein Gesicht im Kissen und weine um Anna.