Prompt: Drachen steigen lassen (16.09.20) nachgeschrieben 21.09.20
Start: 19:15 Uhr
Ende: 20:08 Uhr
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Der Prompt erinnerte mich an den Udo Jürgens Song "Der gekaufte Drache", dem ich einen eigenen Anstrich verpasst habe - Viel Spaß
Die Fenster der großzügigen Villa sind hell erleuchtet. Der Kieselsteinweg ist von Fackeln gesäumt, ein Wagen nach dem anderen hält vor dem Portal. Im Haus selbst werden die zahlreichen Stimmen von klassischer Musik untermalt. Champagner und Canapes werden gereicht, der Hausherr begrüßt im Foyer die Gäste. Diese suchen sich ihren Weg hindurch die wertvollen Möbel und das extra eingestellte Personal.
Ich bin neun Jahre alt und beobachte das Treiben von meinem Lieblingsplatz auf der Treppe. Von unten kann man mich dort nicht sehen. Meine Mutter trägt ein atemberaubend schönes Kleid. Laut den Worten meines Vaters ebenso atemberaubend teuer. Sie sieht aus wie ein Filmstar. Die blonden Haare kunstvoll hochgesteckt, an ihren Ohren funkeln die Diamanten ihrer Ohrringe. Sie steht einen Schritt hinter meinem Vater und die weibliche Begleitungen seiner Geschäftspartner in Empfang. Küsschen link, Küsschen rechts. Ihr gekünsteltes Lachen klingt schrill zu mir herauf.
Diese Dinnerpartys veranstaltet mein Vater zweimal im Jahr. Zu Beginn und Ende des Sommers. Dieser Tage hat er darüber nachgedacht, auch an Nikolaus aufzufahren. Noch ein Tag, den er mir nimmt. Mein Vater ist Unternehmer. Erfolgreich. Sehr erfolgreich, wie er stets betont. Als ich ihn heute an sein Versprechen erinnerte, das er mir vor seiner letzten Reise gegeben hat, erklärte er mir, dass er das auch für mich macht. Denn eines Tages, so sagt er, wird all das mir gehören. Dabei möchte ich das gar nicht. Viel lieber möchte ich einen Vater haben, der auch mal Zeit für mich hat. Denn diese hatte er heute nicht, er hat sein Versprechen nicht gehalten. Wie so oft. Immer wieder heißt es beim Abschied, wir holen das nach, wenn er wieder da ist. Als er gestern Abend nach 14 Tagen nach Hause kam, war ich ganz aufgeregt. All meine Freunde haben mit ihren Vätern in der letzten Woche Drachen gebastelt und diese steigen lassen. Vater hat mir immerhin einen gekauft, aber das ist ja kein richtiger Drache. Die der anderen fliegen viel weiter und viel schöner.
Nun sitze ich also hier und höre, wie er wieder einem fremden Mann erklärt, dass er mir all das mal vererben wird. Die große Villa, das riesige Grundstück, die erfolgreiche Firma und vor allem das Vermögen. Er ist stolz auf das, was er aufgebaut hat. So hat es mir meine Mutter erklärt. Er selbst ist in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, musste sich hocharbeiten. Ich soll es besser haben, alle Chancen. Aber was nützen mir die Chancen, wenn ich nicht selbst aussuchen kann, was ich mal möchte?
Ich wäre später gerne Tierarzt. Oder Geheimagent. Eine Firma ist furchtbar langweilig. Außerdem hat man dann nie Zeit. Mich macht das Gerede traurig, die ganzen Geräusche wütend. Ganz leise gehe ich die Treppe herunter. Eigentlich soll ich in meinem Zimmer bleiben. Doch ich habe den ganzen Tag allein in meinem Zimmer verbracht und die Drachen meiner Freunde am Himmel stehen sehen. Geschickt bahne ich mir den Weg, bis ich ganz in der Nähe meiner Eltern stehe. Als mein Vater wieder davon erzählt, welche neuen Erfolge er vorzuweisen hat und dass er hofft, dass ich in seine Fußstapfen trete, öffne ich den Mund.
"Ich will mit dir einen Drachen bauen, ein gekaufter fliegt nicht halb so weit!"
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Die Fenster der großzügigen Villa sind abgedunkelt Der Kieselsteinweg ist überwuchert, vor dem Portal steht ein dunkler Kombi. Im Haus selbst ist es still. Im Kaminzimmer sitzt der Hausherr alleine im Sessel, über den Knien eine Decke. Vor sich ein Glas Whiskey, der Feuerschein spiegelt sich in den trüben Augen.
Ich bin dreißig Jahre alt und beobachte den alten Mann vom Türrahmen aus. Wir haben kein Wort gesprochen, seitdem ich angekommen bin. Er steckt immer noch in einem schwarzen Anzug, den er auf der Beerdigung am Vormittag getragen hat. Meine Mutter ist vor einigen Tagen verstorben, ich bin das erste Mal seit zehn Jahren wieder in diesem Haus. Das Schweigen ist schwer, die Trauer hängt zwischen uns wie ein nasser Nebel.
Zum Leichenschmaus kamen nur wenige Leute. Sehr viel weniger als damals zu diesen Partys. Er hat sie später viermal im Jahr gegeben, zu letzt vor der Krebserkrankung meiner Mutter. Mein Vater ist ein gebrochener Mann. Er hat viel verloren. Mich, seine Nachfolge für die Firma und zuletzt meine Mutter.Eines Tages, so sagte er damals, sollte mir gehören, was er aufgebaut hatte. Aber ich habe das nie gewollt. Ich habe ihm nie verziehen, dass er deswegen nie Zeit für mich hatte. Einmal habe ich ihm all die gebrochenen Versprechungen vorgehalten, dann bin ich gegangen und nicht zurückgekehrt. Meine Mutter hat versucht auf mich einzuwirken, aber ich war unversöhnlich. Die gekauften Drachen habe ich im Garten verbrannt und auf sein Geld verzichtet.
Ich bin stolz auf das, was ich mir aufgebaut habe. Aber ich bin nicht stolz darauf, dass ich mich mit meinem Vater nie versöhnt habe. Dass ich meiner Mutter den Gefallen zu Lebzeiten nie getan habe. Jetzt werde ich selbst Vater und möchte es besser machen. Ich bin Tierarzt geworden, meine Praxis liegt nur etwa 50 Kilometer entfernt. Sie läuft gut und meine Frau arbeitet mit mir. Mein Vater will das Haus und das Grundstück verkaufen. Es ist alles ganz anders gekommen. Damals wollte ich doch nur Drachen mit ihm steigen lassen, ein bisschen Zeit von ihm haben. Mein Vater ist heute ein einsamer Mann. Er tut mir leid und deswegen bin ich hier. Denn egal was war, er ist mein Vater. Vielleicht wird er ein besserer Großvater, wer weiß was das schon? Daher biete ich ihm heute an, dass er bei uns leben kann. In seinen Augen glitzert es und dann öffnet er den Mund.
"Lass uns einen Drachen bauen, die gekauften fliegen nicht so weit."