Prompt: Flockentanz (04.12.19) nachgeschrieben am 07.12.19
Startzeit: 18:50 Uhr
Ende: Uhr 19:50 Uhr
******************
Besorgt stehe ich am Fenster und beobachte das mittlerweile doch sehr dichte Schneetreiben. Es schneit nicht nur einfach, ganz im Gegenteil. Seit zwei Stunden kommen regelrechte Massen vom Himmel. Dazu windet es stark. Mein Blick geht zur Uhr. Ich beginne mir Sorgen zu machen. Vor drei Stunden bist du mit dem Wagen in die Stadt gefahren. Du wolltest Einkäufe erledigen, damit unsere Vorräte aufgefüllt sind. Mit dem heftigen Schneefall hatte keiner von uns gerechnet. Wieder greife ich nach meinem Handy und wähle deine Nummer, aber schon wie die letzten Male kommt keine Verbindung zustande. Das Netz scheint überlastet oder ist ganz ausgefallen. Auf der Straße ist niemand mehr unterwegs. Nur einmal hat sich ein Räumfahrzeug durch gequält. Der Nachbar gegenüber hat mit Schippen begonnen, es aber zwischenzeitlich aufgegeben. Unsicher halte ich noch immer das Mobiltelefon in meiner Hand.
Erst drei Tage waren wir hier, in diesem zauberhaften Ort im Allgäu. Im letzten Sommer hatten wir uns gedacht, dass es eine hübsche Idee sein könnte, im Winter her zu kommen. Nur nochmal wir. Quasi wie ein Honeymoon, bevor das Baby kommt. Offenbar haben wir uns aber ausgerechnet die Woche ausgesucht, in der der Winter sich hier nochmal beweisen will. Grundsätzlich ist es hier nichts ungewöhnliches, dass es bis in den April hinein Schnee geben kann. Die ersten Tage sind richtig schön gewesen. Wir haben lange Spaziergänge um den See unternommen, waren in den Wäldern unterwegs und haben es uns auch nicht nehmen lassen, zum Schloss hinaufzugehen. Von der Brücke hat man einen unglaublichen Blick. Gestern noch waren wir im Wellnessbereich des Luxushotels, in dem wir uns verlobt haben. Die Sonne schien und wir genossen den außenliegenden Whirlpool.
Der Wetterumschwung ist über Nacht gekommen. Am Morgen ist es eiskalt gewesen. Trübe Wolken sind an den Bergen hängen geblieben. Im Radio haben sie erzählt, dass es ab Abend zu Neuschnee bis zu 1,20 Meter kommen kann. Daher die Idee, unsere Vorräte aufzustocken. Die Ferienwohnung liegt etwas ab vom Ort. Eine kleine Siedlung von etwa zehn Häusern. Jetzt wird es auch langsam dunkel, die ersten Lichterketten springen an. Obwohl Weihnachten nun schon fast acht Wochen zurückliegt, sind die viele Häuser noch damit geschmückt. Ich sehe noch immer den schweren Flocken zu, die weiterhin unaufhörlich zu Boden tanzen.
Die Straßenverhältnisse sind eine Katastrophe. Vermutlich wartest du im Supermarkt ab, bis es weniger gefährlich ist. Trotzdem schleichen sich andere Bilder in meinen Kopf.
Schlingernde Autos.
Glatteis.
Bäume.
Ich schüttelte meinen Kopf und ärgere mich zum wohl hundertsten Mal über mich selbst.
Warum bin ich nicht mit gekommen?
Warum konntest du die halbe Stunde nicht abwarten?
Und warum mussten wir deswegen streiten?
Ich weiß, dass du auch aus Trotz ohne mich und sofort gefahren bist.
Aus Prinzip.
Die Hormone.
Dabei weißt du ganz genau, dass ich gerade sowieso am Liebsten rund um die Uhr bei dir wäre.
Du nennst es überfürsorglich.
Ich nenne es Vorsicht.
Du schimpfst mich einen Helikoptergatten und hast Angst, dass ich unserem Kind keine Luft lasse.
Ich halte mich einfach für einen interessierten werdenden Vater. Gut, vielleicht bin ich ein bisschen nervös. Aber es geht auf die letzten Wochen zu und man weiß ja schließlich nie. Und ehe sich das Bild festsetzt, dass du im Auto in irgendeiner Schneeverwehung stecken geblieben bist und deine Fruchtblase geplatzt ist, schlüpfe ich in meine Boots.
****
Mit zehn anderen Menschen stehe ich im Eingangsbereich des Supermarktes.
Keine Chance.
Es schneit so sehr, dass man kaum noch die Autos auf dem Parkplatz sehen kann. Sich jetzt auf die Straßen zu wagen, wäre Selbstmord. Ich hangele nach dem Handy, aber der Polizist sagte ja schon, dass das Netz zusammengebrochen ist.
Wir rollen die vollen Einkaufswagen unter das Vordach, so dass sie nicht nass werden. Der Markleiter spendiert Kaffee, Kakao, Brötchen und Kuchen. Zudem bietet er an, dass wir über sein Festnetztelefon unsere Familien informieren können. Betrübt schüttelte ich den Kopf. Du hast ebenso wenig Empfang auf deinem Handy wie ich und die Nummer der Ferienwohnung habe ich mir natürlich nicht notiert. Wozu auch?
Es ärgert mich, dass ich aus purer Sturheit ohne dich losgefahren bin. Zumal ich weiß, dass du jetzt vor Sorge vermutlich fast durchdrehst. Ja, ich hätte warten können. Auf die dreißig Minuten wäre es nicht angekommen. Mich hat eigentlich geärgert, dass du noch Arbeit zu erledigen hattest. Das war dumm. Unendlich dämlich, um genau zu sein. Denn es war klar, dass wir uns diese letzte Zweisamkeit nur gönnen können, wenn du einen Kompromiss eingehst. Immerhin verzichtet man die ganze Woche auf deine Anwesenheit. Du musst nicht viel aufwenden, hast die Besprechung von gestern extra auf heute geschoben damit wir den Wellnesstag genießen können. Und ich mache dir eine Szene. Diese blöden Hormone bringen mich noch um den Verstand.
Just in diesem Moment macht sich das Krümelchen bemerkbar. Ich sehe wieder nach draußen und streichle dabei über meinen Bauch. Eine ältere Frau tritt neben mich und reicht mir einen Becher Kakao. Sie zwinkert mir zu und erklärt mir in einem breiten Dialekt, dass sich der Schneesturm sicherlich bald verzieht, der Mann von der Feuerwehr hätte das gerade erklärt. Dann sieht sie mich schmunzelnd an und fragt nach dem Entbindungstermin. Lachend antworte ich ihr, dass sie sich keine Sorgen machen muss, dass es jederzeit losgehen könnte. Noch haben wir etwa fünf Wochen vor uns. Sie mustert mich kritisch und mir wird das unangenehm. Ich will mich abwenden, als sie meine Hand nimmt. Sie sieht mir lange in die Augen, dann nickt sie. Sie sagt nur ein Wort, ehe sie mich wieder allein lässt.
Drei.
Sprachlos sehe ich ihr nach. Das Krümelchen schlägt wie zur Bestätigung wilde Purzelbäume. Leise flüstere ich vor mich hin, um es zu beruhigen.
Tatsächlich lässt draußen der Wind nach.
Die ersten Räumfahrzeuge sind zu sehen.
Die Flocken sind jetzt deutlich kleiner und weniger dicht.
Aber es ist dunkel geworden.
Der freundliche Mann von der Feuerwehr hilft mir mit dem Einkaufswagen und lädt mit mir alles in den Wagen. Bis alles verstaut ist, bin ich durchgefroren. Mit klammen Fingern taste ich nach dem Zündschlüssel und bedanke mich für die Hilfe. Er winkt ab, verabschiedet sich und geht auf die nächste Frau zu.
Ich will gerade vom Parkplatz fahren, als ich glaube, meinen Augen nicht trauen zu dürfen.
***
Wer nun durchgefrorener war, lässt sich nicht sagen. Die fünf Kilometer durch den Schnee sind aber in der Tat nur eine bedingt gute Idee gewesen. Für die üblicherweise fünfzehnminütige Fahrt haben wir dann 45 Minuten gebraucht. Nach dem Ausladen der Einkäufe hast du sofort ein heißes Bad eingelassen und keine Widerworte zugelassen.
Nun liegen wir in der Wanne, dein Kopf an meiner Brust.
Ich streichle deinen Bauch und fühle verzückt die kleinen Tritte.
Du erzählst von der wunderlichen Frau und ihrer Weissagung.
Schmunzelnd drücke ich dir einen Kuss auf die Stirn.
"Lass dich nicht verrückt machen", sage ich leise.
Du seufzt und lehnst dich an mich.
"Es tut mir leid wegen unserem Streit. Und du bist kein Helikoptergatte. Das war etwas übertrieben von mir", erwiderst du dann.
"Ich liebe dich auch dafür", flüstere ich dein Ohr.
Still genießen wir die Nähe und sehen den letzten Flocken zu, die sich auf das Dachfenster setzen.