Konzentriert saß sie am Klavier.
Die langen schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten.
Ihr Blick galt den Noten. Ihre Finger tanzten über die Tasten und spielten mühelos die Melodie. Hier und da die Zungenspitze in ihrem Mundwinkel. Ein schnellter Blick, eine Abstimmung in Sekundenbruchteilen.
Sie atmete ruhig, ihr Brustansatz hob sich gleichmäßig und senkte sich wieder.
Immer wieder schloss die kurz die Augen.
Er wusste, sie fühlte die Musik. Ließ sie gleiten und fließen.
Hatte sie je schöner ausgesehen?
Sie liebte, was sie tat.
Ihr unglaubliches Talent hing im Raum und er fühlte sich beinahe winzig klein daneben.
Eilig blätterte sie Noten um und natürlich gab es kein Absetzen in ihrem Spiel. Sie war einfach vollkommen in ihrem Element.
Er wusste gar nicht, wie er ihr hierfür danken sollte.
Dass sie hier war.
Mit ihm.
Ohne zu zögern hatte sie viele Stunden mit ihm verbracht, damit diese knappen fünf Minuten perfekt werden würden. Von Anfang an war sie davon überzeugt gewesen, dass es gelingen würde. Dass es keinen Zweifel gab. Sie hätte dies nicht tun müssen. Es hätte ihr auch egal sein können.
Doch stattdessen saß sie jetzt an diesem Klavier wie ein Engel.
Wunderschön.
Zauberhaft.
Voller Anmut.
Eine Virtuosin.
Die ihm Töne entlockte, die er sich vor zwei Wochen nicht mal im Ansatz zugetraut hätte.
Es war die Chance seines Lebens.
Geboren aus einer Idee, einem Übermut, einem Gedankengang voller Inspiration.
Er hatte dieses Vorsingen für einen Scherz gehalten, aber dem war nicht so. Jede Sekunde in den letzten Tagen hatte er sich nur hierauf konzentriert. Kaum zu hoffen gewagt, dass man ihn tatsächlich anhören würde.
Doch nun stand er hier.
Vor einer Kamera und fünf Personen.
Und mit ihr.
Seinem Engel aus Kristall, den er längst verloren hat.
Als er anfing, schlug ihm das Herz bis zum Hals.
Doch er folgte ihrem Rat.
Mit geschlossenen Augen fand er seinen Einsatz.
Verlor sich in dem Text, der Melodie und dem Rhythmus.
Jetzt im Instrumentalpart des Stücks hatte er es sich endlich gewagt, einen Blick zu riskieren. Und niemals, das wusste er schon in diesem Moment, würde er diesen Anblick vergessen. Denn so hätte es sein können und es sollte niemals dazu kommen.
Mit einem Nicken sang er den letzten Part. Kitzelte die Töne hervor, die er verbissen geübt hatte. Kräftig mussten sie sein. Lang mussten sie sein. Voller Energie und gleichzeitig gefühlvoll.
Der Schluss gelang ihm auf den Punkt. Noch nie zuvor hatte er ihn so lange ziehen können. Als es vorbei war und der letzte Ton verklungen, nickte sie ihm zu.
Ihre Hände ruhten in ihrem Schoss.
Die Wangen rot und die Lippen zum einem Lächeln verzogen.
Er nahm seine Hände vom Mikrofon und ging einen Schritt von dem Ständer zur Seite um sich zu verbeugen.
Er sah in zufriedene, teils auch erstaunte Gesichter.
Vermutlich hatten sie nicht erwartet, was sie hier zu hören bekommen hatten.
Interessiert erkundigten sie sich nach ihr. Der Ausbildung, dem Studienjahr und welche Zukunft sie sich dachte.
Irritiert lauschte er den Fragen.
Sie antwortete ruhig und mit sicherem Tonfall.
Dabei ließ sie einfließen, dass sie nur ihm zuliebe hier saß.
Aus alter Verbundenheit.
Freundschaft aus Jugendtagen.
Weil sie das Lied schon einmal vor einem halben Jahr zusammen einstudiert hatten, als das Libretto ganz neu verteilt worden war. Immerhin eine Uraufführung, sie hatten es bisher nicht live gehört. Geschweige denn auf einer Aufnahme.
Nun wandte man sich endlich ihm zu. Es überraschte offenbar, dass er ohne Vorlage diese Interpretation abgeliefert hatte. Der Vorsitzende der Kommission studierte nochmals den Bogen, den er im Vorfeld hatte ausfüllen müssen. Ging mit ihm die wichtigsten Punkte durch. Nervös antwortete er und kam sich im Vergleich zu ihr unglaublich unsicher vor.
Schließlich nickten alle fünf an dem Tisch und sein Bogen wanderte nicht auf den Stapel zurück.
Man entließ sie und sie klappte energisch die Noten zusammen.
Erst vor dem Raum, als endlich die Tür hinter ihnen zugefallen war, nahm sie ihn überschwänglich in den Arm. Ihm blieb beinahe der Atem weg.
Ihre Nähe.
Ihr Geruch.
Nach all den Monaten war ihm das immer noch zu viel.
Sie strahlte und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Sie war sich absolut sicher.
Man würde ihn anrufen.
Bestimmt.
Sie verließen das Gebäude und traten in den Frühsommertag.
Diesen letzten gemeinsamen fröhlichen Moment hatte er nie vergessen.
Eine Erinnerung wie ein Traum.
Ein Traum, den er lange nicht geträumt hatte und nun schließt sich der Kreis.
Er klickt das Video weg, wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln und schiebt das Handy in die Hosentasche.
Er weiß jetzt gar nicht, ob er glücklich oder traurig sein soll, dass diese Erinnerung in bewegten Bildern nach all den Jahren zu ihm zurückgefunden hat. Aber er ahnt, dass es kein Zufall ist. Wieder einmal möchte sie ihm etwas sagen.