Prompt: Spieglein, Spieglein an der Wand......
"Mama?"
Die helle Kinderstimme klingt nicht nur bittend. Verschlafen dreht sich Isabelle auf die andere Bettseite und öffnet ihre Augen.
Vor dem Bett steht ihr Ziehsohn, viereinhalb Jahre alt.
Im Schlafanzug. Die Haare vom Schlaf ganz verstrubbelt.
Die blauen Augen mustern sie genau. Er schiebt die Unterlippe vor und drückt seinen Teddy noch ein wenig fester an sich. In seiner freien Hand hält er ein Buch.
Aus dem Augenwinkel versucht sie die Uhrzeit auf dem Wecker abzulesen.
Gerade mal sechs Uhr.
Am Sonntagmorgen.
Sie hat es befürchtet.
Der Kleine ist seit ein paar Tagen erkältet, hat viel geschlafen und nun offenbar auf dem Weg der Besserung. Hinter ihm steht die Schlafzimmertür offen und sie kann einen Katzenkopf entdecken, der neugierig hereinblickt. Noch ehe sie das Kind bitte kann, die Tür zu schließen, ist die Katzendame hereingeschlüpft und schleicht an der Wand zum Fenster.
"Was ist denn mein Schatz?", fragt sie.
Mit einem Augenaufschlag, der die Pole zum Schmelzen bringen könnte, antwortet der Kleine.
"Ich mag kuscheln.", meint er scheu.
Seit einigen Wochen leben sie jetzt in dieser noch neuen und ungewohnten Umgebung. An und für sich haben sie sich gut eingelebt. Sie, er und das Katzenpärchen. Aber sie sind eben unvollständig.
Kaum, dass sie die Bettdecke einladend gehoben hat, schiebt er das Buch neben das Kissen und krabbelt schon samt dem Teddy zu ihr. Ganz fest schmiegt er sich an sie und versteckt den Kopf an ihrer Brust.
Die körperliche Nähe ist dem Kind gerade sehr wichtig. Und sie genießt sein Zutrauen und seine kindliche Nähe sehr. Oft kommt er am frühen morgen zu ihr und manchmal schläft er dann auch wieder ein.
Sie streichelt im über den Rücken und drückt ihm ein paar liebevolle Küsse auf den blonden Schopf. Ja, es ist Liebe, was sie für diesen Jungen empfindet.
Mutterliebe?
Kann sie das beurteilen?
Er jedenfalls betrachtet sie längst als seine Mama. Nennt sie mittlerweile nur noch so. Irgendwie löst das in ihr immer ein ganz besonderes Gefühl aus.
Seine kleinen Hände streifen ihr über das Gesicht und seine feuchten Küsschen auf ihrer Wange sprechen eine eigene Sprache. Sie genießt den Moment ebenso wie er.
Na gut, denkt sie.
Ein früher Sonntagmorgen vielleicht, dafür ein inniger.
Später wird er sie auf Trab halten. Insbesondere wenn er wieder fit ist. Sein Bewegungsdrang fordert sie durchaus. Hoffentlich wird der Tag freundlich, damit sie mit ihm ins Freie kann.
Doch erst einmal möchte er vorgelesen bekommen.
Er hat sein derzeitiges Lieblingsbuch mitgebracht.
Die Kindermärchen von den Gebrüdern Grimm.
Seine Oma hat ihm das reich illustrierte Buch zu Ostern geschenkt und er kann Stunden damit verbringen, die Bilder zu betrachten.
Einerseits findet er die Märchen unheimlich.
Andererseits faszinieren ihn die Figuren.
Besonders der Wolf hat es ihm angetan.
Außerdem die Zwerge.
Und das tapfere Schneiderlein.
Seine Schatzkiste im Kinderzimmer beherbergt bereits zahlreiche Holzfiguren, mit denen er sie Märchen nachspielen kann. Jede Woche kommen neue per Post.
Und besonders groß war die Freude, als er vor zwei Wochen das Rotkäppchen, Frau Holle, Gold- und Pechmarie und das Schneewittchen selbst abholen konnte.
Ganz still und aufmerksam gleitet sein Blick über die Zeichnungen, während Isabelle zu lesen beginnt.
Sie ist beim Aschenputtel gerade bei der Hälfte angekommen, als sich Mimi vorsichtig heranschleicht. Mit einem Satz ist die Katze dann auf einmal direkt neben ihr und David begrüßt sie begeistert.
Schnurrend erobert Mimi sich einen Platz ganz nah bei dem Jungen.
Der streichelt das Tier geduldig. Jeden Abend schläft sie bei ihm, niemand hat es übers Herz gebracht, die beiden zu trennen.
Fehlt eigentlich nur Leo, der etwas zurückhaltende Kater.
Und eben er.
Sie kommen zum Ende der Geschichte.
"Kannst du noch eine lesen?", fragt er sogleich.
Erst zögert sie, aber die Gemütlichkeit gefällt ihr ja ebenso.
Sie wählt Schneewittchen aus, weil er die Zwerge so mag.
Es ist ihr gemeinsames Lieblingsmärchen.
Als sie heute an die Stelle kommt, an dem der Spiegel erstmals die Schönheit Schneewittchens erwähnt, schüttelt der Kleine energisch den Kopf.
"Was ist? Hab ich was falsch vorgelesen?"
Auch wenn er erst viereinhalb ist, der kann sich beinahe jedes Wort merken. Bringt die Bilder und Texte immer zusammen und merkt sofort, wenn man etwas auslässt. Abkürzen funktioniert nur, wenn er schon schläfrig und unaufmerksam ist. So nicht an diesem Morgen. Wobei sie den Text haargenau abgelesen hat.
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?
Frau Königin, ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als ihr
"Nein, Mama. Der Spiegel macht was falsch.", antwortet er und setzt sich auf.
Erschrocken fährt auch Mimi zusammen und verzieht sich lieber ans Fußende. Von dort beobachtet auch sie den Jungen.
Irritiert sieht sie den Kurzen an.
Der springt auf und läuft zum Schminktisch und zwinkert dem Spiegel darüber zu. Mit verstellter Stimme spricht er dann los.
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?
Frau Königin, ihr seid die Schönste hier, aber die Mama ist tausendmal schöner als ihr
Lachend klappt sie das Buch zu und folgt dem Kind aus dem Bett. Geht vor ihm in die Hocke.
"Ach, Schatz.", meint sie.
Der Kleine klatscht in die Hände.
"Du bist die allerschönste Frau auf der Welt. Hat der Papi gesagt.", erklärt er dabei.
Jetzt muss sie doch sehr schlucken.
Ein Goldstück.
Dieses Kind ist ein pures Geschenk.
Sie riskiert nur einen schnellen Blick.
Sonntagmorgen.
Kurz nach Sieben.
Gerade aus dem Bett heraus.
Nein, der Anblick könnte erbaulicher sein.
Ihre Locken stehen in alle Richtungen ab und sie hat Ringe unter den Augen.
Die Tage sind derzeit zu lang.
Die Nächte zu kurz.
Die Sorgen immer da.
Und dann grinst das Ebenbild des Mannes, den sie über alles liebt, sie keck an und gibt ihr einen dicken Kuss.
Sie steht auf, nimmt ihn hoch und schlägt ihm Pfannkuchen zum Frühstück vor. Er nickt und schlingt die Arme fest um ihren Hals.
"Du musst Papis Königin sein.", sagt er dann. "Dann sagt der Spiegel, dass du für immer die Schönste bist."
Sie unterdrückt den Impuls, zu lachen. Kindliche Logik.
Manchmal herrlich einfach und leicht.
Sie setzt den Jungen ab und scheucht Mimi vom Bett, ehe sie gemeinsam das Schlafzimmer verlassen.
In der Tür bleibt der Kurze stehen und dreht sich um.
Schaut ihr in die Augen.
"Mama, wann kommt der Papi nach Hause?"