Prompt: Scharlachrot
Und dann stand sie da.
Mit ihren langen, schwarzen Augen und den blitzenden Augen.
Einem Grübchen am Kinn und einem etwas trotzigem Gesichtsausdruck.
Und eben dem Mantel, der scharlachrot leuchtete, an diesem milden Spätsommertag.
Schuljahresbeginn.
Klasse 10.
Mit freundlichen Worten wurde sie vorgestellt, aber er hörte gar nicht zu.
Wie schön sie war.
Und im Vergleich zu den Klassenkameradinnen so viel erwachsener.
Interessanter.
Moderner.
Unnahbarer.
Mit einem kurzen Nicken in seine Richtung nahm sie am Pult neben seinem Platz. Den Mantel behielt sie an, als würde sie frieren.
Er folgte ihrem Blick und versuchte den Klassenraum so zu betrachten, wie sie es gerade tat.
In Köln war sie bisher zur Schule gegangen.
Wiederholte die Klasse freiwillig.
Warum wohl?
Ob ihr die Schule hier auf dem Land arg rückständig vor kam?
Einfach?
Spießig?
Als es klingelte verließ sie sie den Raum eilig. Überall um ihn herum war sie dann Gesprächsthema. Allerlei Vermutungen. Sonja schien mehr zu wissen und prahlte damit, aber auch Alex hatte über seine Mutter ein paar Informationen.
Ihn interessierte das alles nicht.
Sie hatte gut gerochen und irgendwas an ihrem Gesicht hatte ihn sehr gerührt.
Er schob das Mathematikbuch in seinen Rucksack und holte die Noten heraus. Orchester und Chor kamen heute gemeinsam zusammen. Wie jedes Jahr wollte man gemeinsam die Schulkonzerte besprechen. Das Programm festlegen, Soli verteilen, Probenpläne aufstellen.
Er sah zum Fenster hinaus und entdeckte den auffälligen Mantel am Tor zum Parkplatz.
Die Raucherecke.
Gerade ließ sie sich Feuer geben.
Es gab ihm einen Stich.
Bestimmt war sie etwas älter und die Jungs aus der Oberstufe schienen sie direkt in ihren Kreis aufnehmen zu wollen, aber sie rückte deutlich ab.
Seufzend wandte er sich ab und machte sich auf den Weg in den Musikpavillon.
Er hatte es sich gerade auf seinem Stammplatz im hinteren Teil des Raums bequem gemacht, als sie ebenfalls hinein kam. Mit einem Händedruck begrüßte sie die Orchesterleiterin und nahm sich eine Partitur vom Tisch. Erstmals sah er, wie sie lächelte. Dabei sah sie gleich noch viel hübscher aus und sein Herz machte einen Satz. Okay, sie besuchte also auch den musikalischen Zweig. Nun drehte sie sich zu ihm und nickte ihm wieder zu. Dann setzte sie sich ans Klavier.
Aufmerksam reckte er den Hals.
Wieder wurde sie vorgestellt.
Und zur Einstimmung gab sie eine Kostprobe am Flügel.
Er schloß die Augen und lauschte der Musik.
Katharina, die bisher die meisten Soli an diesem Instrument übernommen hatte, war großartig gewesen. Hatte aber ihr Abitur abgelegt und die Schule verlassen. Die bisherige Nummer 2, Rolf, konnte ihr bei Weitem nicht das Wasser reichen.
Aber die Neue, mit diesem scharlachroten Mantel, setzte neue Maßstäbe.
Warum fiel ihm denn jetzt ihr Name nicht ein.
Als der letzte Ton verklang, rief der Chorleiter ihn auf und verkündete die erste Überraschung des Schuljahres. Er sollte das große Solo an Weihnachten singen. Hier in der Schule und in der Kirche am Heiligen Abend.
Ihm schlug das Herz bis zum Hals.
War das deren ernst?
Und sie, die Neue, sollte ihn begleiten und mit ihm üben.
Seine Mund wurde ganz trocken, als sie zu ihm kam und ihm feierlich die Hand reichte.
"Anna.", sagte sie und ihre Stimme war wie Honig. Sie schob sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre ebenso dunklen Augen taxierten ihn.
Er musste sich räuspern. "Jan.", stellte er sich vor.
Ihr Augenaufschlag nahm ihn gefangen.
Er erfuhr in den nächsten Wochen, dass ihr Vater vor wenigen Monaten gestorben war und sie deshalb das letzte Schuljahr fast vollständig versäumt hatte. Daher wiederholte sie jetzt.
Ihre Mutter stammte aus der Gegend hier und wollte ihr einen Neuanfang ermöglichen. Schon jetzt hatte sie ein Stipendium in München in Aussicht. Zahlreiche Preise hatte sie schon gewonnen und sie spielte mit einer Leichtigkeit auch die schwierigsten Stücke. Ihm blieb regelmäßig der Atem weg.
Er brachte sie mit nach Hause und sie bewunderte das Klavier seiner verstorbenen Großmutter, auf dem er damals seine ersten Versuche unternommen hatte. Sie stimmte es und zusammen übten sie fortan für die Konzerte.
Von seiner Seite aus war es Liebe auf den ersten Blick, aber sie ließ sich nicht in die Karten schauen.
Dann kam jener Tag im Herbst.
Jan hatte einen langen Spaziergang gemacht und sich auf seinem Lieblingsplatz am See zurückgezogen. Vom Hochsitz aus konnte er über den See blicken und auf den Kopfhörern lief die Musik, die er sich einprägen wollte. Immer wieder ließ er die Melodie laufen und summte leise mit. Oft kam er hierher, wenn er in Ruhe lernen oder üben wollte. Er hatte sich hierfür extra eine Aufnahme nur mit Klavier besorgt, die Kassette hatte er im Walkman. Aber er konnte sich auch gut Streicher dazu vorstellen und dachte gerade darüber nach, ob seine Eltern vielleicht eine passende Platte oder CD im Schrank stehen hatten, als ihm der Farbtupfer am Ufer auffiel.
Der scharlachrote Mantel.
Ihre Haare offen.
Knöcheltief stand sie im Wasser.
Er begriff in Sekundenbruchteilen.
Hektisch riss er sich die Kopfhörer von den Ohren und rief nach ihr, so laut er konnte. Dann sprang er auf und kletterte die Leiter herunter.
Sie hatte nicht reagiert.
Angst ergriff ihn und er zögerte nicht.
Das Rot verschwamm vor seinen Augen, versank im Blau.
Jan lief los.