Prompt: Schwarzer Engel (20.10.19)
Startzeit: 18:15
Ende: 19:03
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Ganz in weiß gekleidet nimmt die Frau das Kind wieder an die Hand. Ihre Mission ist erfüllt. Mehr kann sie jetzt nicht mehr tun. Oft ist sie zurückgekehrt an die Schwelle. Diesmal hatte sie zur Mahnung Verstärkung dabei. Aber die letzten Schritte, die muss er alleine gehen.
Mit aller Macht hat sie versucht ihn zu überzeugen. Hat ihm die Bilder geschickt, die ihn wachrütteln sollen. Hat ihm den Ballast abgenommen, den er bereit war ihr mitzugeben. Sie hat versucht ihm zu zeigen, dass eine helle Zukunft auf ihn wartet. Sofern er die richtigen Schritte geht.
Sie sieht ihn dort noch auf den Knien sitzen. Sie murmelt leise vor sich hin. Hofft, dass der Wind ihre Worte nochmal zu ihm trägt. Dass er sie nochmal hören kann. Die Kinderhand schiebt sich fest in ihre. Nochmal wendet sie sich zu ihm. Achtet darauf, dass das Kind ihm weiterhin den Rücken zudreht. Sie begleitet ihn schon so lange.
Mal aus der Ferne, mal aus der Nähe.
Durch Höhen und die Tiefen seines Lebens.
Hat in den letzten 18 Monaten versucht ihm ein Licht zu sein.
Hat ihm hier und da Zeichen geschickt.
Nicht immer konnte sie widerstehen.
Eine kleine Berührung an der Wange, mal ein Kuss auf die Stirn.
Sanft wie ein Flügelschlag.
Natürlich kam sie nicht umhin, sich auch deutlicher zu zeigen.
Als Schutzengel.
Sie ist die Wahrerin seiner Träume.
Mit allen Mitteln hat sie versucht, sein Herz rein zu halten.
Bitterkeit, Kummer und Missgunst hat sie versucht zu beseitigen.
Manchmal war es einfach zu viel.
Immer wieder hat sie aktiviert, was er alleine nicht konnte.
Liebe zum Beispiel.
Vergebung.
Freude.
Doch sie ist im Großen und Ganzen zufrieden.
Der schwarze Engel hatte ihr viel abverlangt.
Zahlreiche Katastrophen und Dramen.
Der Nährboden in ihm, in seiner Seele und seinem Herz, hatte nach Heilung gelechzt. Nach positiven Gefühlen. Das war ihr Glück gewesen. Dass er ganz tief in sich eben auch ein weißer Engel ist. Bei manchen entdeckt man es gleich, bei anderen nie. Sie selbst war erstaunt, als man sie dieser Kategorie zu schob. Damit hatte sie nicht gerechnet. Bei manchen muss man mehr investieren und das Böse immer wieder verscheuchen. In diesem Fall hatte der schwarze Engel große Geschütze aufgefahren.
Und auch jetzt steht er auf dem Weg und beobachtet sie samt den Kind.
Ein diabolisches Lächeln umspielt seine Lippen.
"Fieser Trick.", kommentiert der Engel schließlich.
Im Gegensatz zu ihr kennt er die Opfer der Missionen nicht aus Lebzeiten. Sucht sich einfach in der Umgebung der weißen Engel passende Geschöpfe. Schwach am Besten. Mit dem Leben hadernd noch besser. Am Liebsten sind ihm die, die auf dem Grat zwischen Leben und Tod spazieren. Und nicht jeder dieser arme Seelen hat einen Engel an seiner Seite, der ihn gegen das Böse in Schutz nimmt und um diese Seele kämpft. Aber das sind dann offenbar auch die langweiligen Fälle, denn die schwarzen Engel tummeln sich vermehrt dort, wo die Herausforderung gegeben ist.
Beschützend legt sie eine Hand auf die Schulter des Kindes und zieht es fest an sich. Es ist eine weiße Seele. Kinderseelen sind immer rein. Aber auch diese muss man hier schützen. Sie hat eine zweite Mission. Schon seit einigen Monaten kann sie sich nicht nur mehr auf ihn konzentrieren. Denn da ist dieses kleine Geschöpf. Vielleicht, so hat es geheißen, bekommt es eine zweite Chance und daher kann sie es nicht aus den Augen lassen. Gleichzeitig war diese Ankündigung der Grund, warum sie es mit an die Grenze geführt hat. Nicht nah genug ran, nein, aber eben so, dass es als kleiner Schatten sichtbar war. Nun liegt es an ihm was er daraus macht. Mehr kann und darf sie in dieser Hinsicht nicht tun.
Ihr sind Grenzen gesetzt. Sollte sie die überschreiten, lässt sie ihn allein. Dann verglüht sie und ihre Reinheit. Ihre Quelle des Guten. Und als schwarzer Engel nützt sie ihm nichts. Dann würde sie ihn doch noch verraten und dann will sie nicht. Weil sie weiß, dass er sich dann kopfüber darin verlieren wird. Er ist nicht so weit, wird es vielleicht nie sein. Daher ist ihr Platz hier. Nah genug, aber weit genug zugleich.
Sie beugt sich zum dem Kind, flüstert ihm zu, dass sie bei ihm ist und geht mit erhobenem Haupt an dem schwarzen Engel vorbei. Der berührt sie kurz und sie bleibt stehen. Schaut ihm in die pechschwarzen Augen.
"Da ist so viel Glut in dir.", meint er.
Sie schiebt seine Hand von sich und betrachtet die Stelle, die tatsächlich etwas kribbelt. Das Spiel mit dem Bösen, immer noch spannend. Sie schiebt den Gedanken weg und sieht ihn mit festem Blick an.
"Anders als deine Glut, die nichts als Verbrennung und Asche im Sinn hat,
lebt die meine von der Liebe."
Mit diesen Worten geht sie weiter und zieht sich auf ihren Lieblingsplatz im Wolkenheim zurück. Sie hat das Kind auf dem Schoß und schaukelt mit ihm. Drückt es fest an sich. Sie schließt die Augen und fühlt in sich, nimmt Kontakt auf und lächelt zufrieden. Sie kann sein Herz kräftig schlagen hören. Spürt die Lebensgeister. Und nimmt zur Kenntnis, dass ihn die Frage nach dem Kind beschäftigt. Damit hat sie ihn erreicht. Mehr, als es ihre Worte offenbar konnten. Seinen Ballast hat sie dennoch aufgenommen. Die Gegenleistung will sie ihm gerne bald schicken. Er hat losgelassen und soll dafür belohnt werden. Wie gerne sie jetzt dort drüben wäre. An anderer Stelle. Ein aktiver Part im Leben. Aber ihr sind schon lange die Hände gebunden.
Es ist aber immer noch die Liebe, die sie treibt.
Heute weiß sie, dass der schwarze Engel bei ihr keine Chance mehr hätte.
Schade, dass sie es zu Lebzeiten viel zu spät begriffen hatte.
Das ist ihre Mission. Ihm diese Erkenntnis einimpfen. Weil sie ihn liebt und damit nicht aufhören wird. Auch wenn sein Leben und seine Liebe nun nicht mehr ihr gehören.
Sie lächelt, drückt das Kind an sich und streichelt ihm über das Haar.
Dies hier wird ihr Liebesbeweis und sie hofft, dass es perfekt für ihn wird. Dass sie erste Mahnung eindringlich war.
Als sie die Augen öffnet, steht der schwarze Engel neben der Schaukel und beobachtet das Kind. Es zieht ihr das Herz zusammen. Der Kampf ist eröffnet.