Prompt: Beichte (23.10.19)
Startzeit: 18:45
Ende: 19:42
(nachgeschrieben 25.10.19)
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Als Pfarrer Bautz an diesem sonnigen, aber kühlen Morgen die Kirche betrat, saß schon ein Besucher in der Seitenkapelle. Eine einzige Kerze brannte vor der Marienstatue. Leise bewegte er sich in Richtung seines Gasts. Aus Erfahrung wusste er, dass um diese Zeit selten jemand her kam, um sich einfach nur die Kirche anzusehen. Er stutzte, als er den Mann erkannte, der murmelnd in der Bank saß.
Anke Lehmann war in den letzten Monaten sehr viel hier gewesen, hatte sich Unterstützung und Trost bei ihm geholt. Natürlich wusste er daher, was ihrem Sohn widerfahren war. Und er kannte die Konsequenzen hieraus. Es war noch nicht ganz ein Jahr her, als ihm die besorgte Mutter anvertraut hatte, dass sich ihr Sohn das Leben hatte nehmen wollen und in einer stationären Behandlung gelandet war.
Umso mehr hatte es ihn an den Weihnachtstagen gefreut, dass es Jan offenbar besser ging. Dass er im Begriff war zu heiraten und dies hier in der Kirche tun wollte. Doch nun saß er hier und suchte offenbar etwas. Der Pfarrer zögerte kurz. Er konnte und durfte das Beichtgeheimnis der Mutter nicht umgehen. Und dennoch war es seine Aufgabe, auf den Sohn zuzugehen und ihm Hilfe anzubieten. Er erkannte sofort, dass diese Hilfe auch dringend benötigt wurde. Seine jahrelange Erfahrung sagte ihm, dass er sich langsam heran tasten sollte.
In diesem Moment erinnerte Jan ihn an einen anderen Menschen, bei dem er vor vielen Jahren versagt hatte. Unter anderem, weil er die Lehre seiner Kirche zu streng ausgelegt hatte. Heute war er 20 Jahre älter. Vor ihm saß ein Gemeindemitglied, welches er wiederum 25 Jahre kannte. Zu guter Letzt wandte sich Jan an die Kirche und Pfarrer Bautz würde ihn nicht abweisen. Nicht nur, weil er dies immer wieder Anke Lehmann signalisiert hatte, sondern auch, weil es gerade diejenigen waren, die strauchelten, die Gott brauchten.
Zudem konnte er sich gut an den damals Achtjährigen erinnern, der zum Kommunionsunterricht gekommen, danach ein begeisterter Ministrant gewesen war. Immer bemüht seinem Bruder nachzueifern, jenem anfangs auf Schritt und Tritt gefolgt war. Ihm als Pfarrer hatte die stille Ernsthaftigkeit des Jungen beeindruckt. Jan war wissbegierig gewesen und hatte viele Fragen gehabt. Damals hatte es so gewirkt, als sei der Glaube in ihm tief verwurzelt gewesen. Auch die Großeltern und Eltern waren regelmäßige Kirchgänger gewesen. Anke und Paul sangen bis heute im Kirchchor, sie kam beinahe jeden Sonntag in den Gottesdienst. Und auch Martin ließ sich ab und an blicken.
Langsam ging er daher auf den Jüngeren zu, legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter.
"Ich habe mich schon gefragt, wann du kommst.", brummte er leise. Seufzend wandte Jan sich um. Abgespannt sah er aus, müde und traurig.
"Ich war mir nicht sicher, ob Sie mir die Beichte überhaupt abnehmen würden.", gab er zu. Milde lächelnd setzte sich Pfarrer Bautz neben ihn.
"Möchtest du das denn?", fragte er interessiert.
"Würde mir Gott denn zuhören? Vergeben? Habe ich nicht eine schwere Schuld auf mich geladen?", fragte Jan zurück.
Der Pfarrer lächelte freundlich.
"Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein."
Jan senkte seinen Blick. Er seufzte schwer. Wieder erinnerte er den Pfarrer an denjenigen, den er damals nicht so bereitwillig aufgenommen hatte. Ob seine anschließende Tat durch dieses Verhalten beeinflusst worden war? Wie oft er sich schon gefragt hatte, ob er es hätte verhindern können.
"Eine ernstgemeinte Beichte nehme ich dir jederzeit ab.", sagte er. Dann musterte er ihn wieder. Jan schwieg und starrte zu dem kleinen Altar in der Nische. Interessant, dass er sich diesen ausgesucht hatte und nicht, wie so viele, den Hauptaltar. Noch immer war die Kirche leer. Und dies würde sich nicht so schnell ändern, vermutete der Pfarrer. Er nickte dem Jüngeren auffordernd zu.
"Du kannst mir erzählen, was du möchtest. Ich bin erster Linie Seelsorger. Mir steht es nicht zu, deine Taten zu bewerten. Ich kann dir etwas Last von den Schultern nehmen, dir vielleicht Wege zeigen und dir einen Rat geben. Wenn du möchtest, bin ich auch das Ohr Gottes. Meine Erfahrung sagt mir, dass es nichts gibt, was er dir nicht vergeben werden kann, sofern deine Reue ehrlich ist."
Unruhig öffnete Jan seine Faust, dann schloss er sie wieder.
"Und die Buße?", wollte er leise wissen.
Geduldig schüttelte Pfarrer Bautz den Kopf. "Du bist hier. Wir können zusammen beten.", schlug er vor.
Erstaunt hob Jan seinen Kopf. Er lächelte schief.
"Gerade habe ich noch darüber nachgedacht, dass ich als Kind unzählige Gebete kannte. Keines will mir einfallen."
Der Pfarrer nickte.
"Ich kann dir helfen.", meinte er.
Jans Blick glitt durch die Kirche.
"Zuhause gehe ich weder in den Gottesdienst, noch zur Beichte."
Der Pfarrer erhob sich.
"Wo man glaubt oder betet ist Gott egal, Jan. In erster Linie zählt, dass du es offenbar in dir trägst. Vielleicht kannst du dich ja in Zukunft dazu durchringen, hier und da eine Kirche aufzusuchen. Du hast es ja auch heute getan und das bestimmt nicht nur aus Zufall.", sagte er.
Er bedeutete Jan, ihm zu folgen. Gemeinsam gingen sie durch das Kirchenschiff und verneigten sich vor dem Altar, dann öffnete der Pfarrer eine kleine Tür. Die Beichtstühle hatte er absichtlich gemieden und Jan stattdessen in einen Bereich geführt, in welchem er oft mit Gemeindemitgliedern betete oder sprach. Eine kleine Grotte neben dem Altar. Er kniete sich in die einzige Bank und Jan tat es ihm nach einem kurzen Zögern gleich.
Gott, zu dir rufe ich.
Sammle meine Gedanken, hilf mir zu beten;
ich kann es nicht allein.
In mir ist es finster, aber bei dir ist das Licht;
ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht;
ich bin kleinmütig, aber bei dir ist die Hilfe;
ich bin unruhig, aber bei dir ist Friede;
in mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist die Geduld;
ich verstehe deine Wege nicht,
aber du weißt den Weg für mich.
Dir sei Ehre in Ewigkeit.
Sie schwiegen einen Moment. Der Pfarrer erhob sich dann langsam und setzte sich in einen der drei Sessel, die in der Nische standen. Vorher zündete er eine Kerze an und rückte sich die Brille zurecht. Auch Jan hatte sich gesetzt und kaute unsicher auf seiner Lippe. Prompt sah der Pfarrer den Jungen von damals vor sich. Eine Geste, die Jan beibehalten hatte und Pfarrer Bautz nun schmunzeln ließ.
"Ich bekenne in Reue meine Sünden. Ich habe versucht das Leben, das Gott uns schenkt, durch eigene Hand zu beenden. Ich habe meinen Eltern, meiner Verlobten und meinem Kind großen Schmerz zugefügt. Ich war nicht ehrlich zu ihnen. Habe sie bewusst getäuscht. Die Schuld ist ein Teil von mir. Ich bitte Gott um Vergebung."
Jan hatte leise und langsam gesprochen. Es war eindeutig, dass er sich Gedanken gemacht hatte. Und dass ihm diese Vergebung wichtig war.
"Wann hast du zuletzt daran gedacht?", fragte der Pfarrer behutsam. Jan senkte seinen Blick, betrachtete eingehend seine Schuhspitzen.
"Gestern.", gab er dann leise zu.
"Und nun, wie soll es weitergehen?"
Schwer atmete Jan durch.
"Auch ich muss vergeben. Mir. Nur dann kann es vorwärts gehen. Mir würde es helfen, wenn Gott mir einen Teil vergeben kann, dann ist meine Aufgabe etwas leichter. Und ich muss zumindest verzeihen. Weil Groll auf Dauer Gift ist. Ich möchte seit Monaten in die Zukunft sehen, werde immer und immer wieder eingeholt. Das kann ich nicht mehr. Aber da ist eben jemand, für den ich das tun muss. Mein Sohn. Meine Verlobte. Und schlussendlich bin da ich."
Jan schluckte und sah seinem Beichtvater in die Augen. "Nur ein kleines bisschen Glück. Frieden.", erklärte er.
Anerkennend erwiderte der Pfarrer den Blick. Vorsichtig nickte. Schlug vor, dass sich Jan in den nächsten Tagen zu gemeinsamen Gebeten einfinden sollte. Bis er wieder nach Hause müsste. Nur kurz ließ sich Jan dies durch den Kopf gehen.
„Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und uns den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er Dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich Dich los von Deinen Sünden: Im Namen das Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“
Jan schlug das Kreuzzeichen und antwortete mit "Amen."
Zufrieden sah Pfarrer Bautz den Jüngeren an.
„Deine Sünden sind Dir vergeben. Geh hin in Frieden. Gelobt sei Jesus Christus.“ Das schwere Durchatmen Jans folgte.
"In Ewigkeit. Amen."
Noch einen Moment verweilte Jan in der Kirche. Betete noch einmal für sich allein das kleine Gebet. Es fühlte sich gut an, beinahe als hätte jemand Steine von seinem Rücken genommen. Wenn die Kirche und Gott ihm solch eine schwere Sünde vergeben konnten, dann sollte es ein Kinderspiel sein, sich selbst den Rest zu erlassen. Darüber dachte er nach, als er durch das Dorf ging. Wieder einmal fragte er sich, wie tief seine Wurzeln waren. Er kannte jedes Haus. Und obwohl er nicht mehr hier lebte, wusste er genau, wer wo wohnte. Was sich verändert hatte.
Dass der alte Bäcker gestorben war und sein Schwiegersohn das Handwerk fortführte. Das alte Wohnhaus aber zum Verkauf gestellt hatte. Oder zwei Straßen weiter. Da hatte die Tochter des Bäckers den Blumenladen übernommen, der bisher von der Witwe Risthaus geführt worden war. Paul kaufte dort seit Jahren jeden Freitag einen kleinen bunten Strauß für Anke. Es war seine Heimat. Und nichts fühlte sich an, wie diese.
Er blieb vor dem Brunnen stehen, betrachtete den kleinen Marktplatz, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Nur wenige Minuten später erreichte er sein Elternhaus. Seine Mutter war in die Nachbarstadt gefahren, ein Zettel auf dem Küchentisch erzählte ihm davon. Paul und Martin waren im Büro. Jan eilte in den Kotten und zog sich schon auf dem Weg ins Badezimmer das Shirt über den Kopf. Keine drei Minuten später stand er unter der Dusche.
Er hatte das Wasser heiß aufgedreht und schloss die Augen. Ein letztes Mal ließ er seinen Tränen ihren Lauf. Wusch sich rein von den Erinnerungen, bösen Träumen und Gedanken. Von der Hoffnungslosigkeit und der Leere in sich. Der Spiegel war beschlagen, als er aus der Dusche trat. Jan trocknete sich ab und sah an sich herunter. Berührte mit den Fingern jede Narbe. Zog die Linien mit der Fingerspitze nach. Nein, verschwinden würden diese ebenso wenig wie die Kerben auf seiner Seele. Sie gehörten zusammen und waren wichtig. Sollten ihn mahnen, nichts selbstverständlich zu nehmen. Aber auch, dass es immer eine Lösung gab.
Mit einer Hand wischte er die Spiegelfläche frei und sah in sein eigenes Gesicht. Dann räusperte er sich.
„Ich bin Jan. Ich wurde benutzt. Vergewaltigt. Ich habe mich selbst verletzt, versucht mich umzubringen. Ich sah keinen Sinn mehr im Leben. Habe Menschen von mir gestoßen, die mich lieben. Auf meiner Seele sitzen tiefe Narben. Meine Freunde und Familie haben mich nie aufgegeben. Gott hat mir vergeben. Ich habe ihn darum gebeten. Nun bitte ich mich selbst darum. Denn ich habe nichts falsch gemacht. Ich hätte es nicht verhindern können. Ich kann es nicht ungeschehen machen.“ Mit festem Blick sah er sich selbst in die Augen. "Ich habe nichts falsch gemacht, nichts hätte es verhindert.", fügte er noch hinzu. Dann wanderte sein Blick über das Gesicht. „Ich vergebe dir, Jan.“, flüsterte er.